Ich!

Der Turbokapitalismus macht vielen Angst, deshalb ist jetzt oft wieder die Rede vom Sozialismus. Aber was meinen die Menschen damit wirklich: historische Ideale – oder reinen Egoismus?

Es war eine typische Anne-Will-Talkshow: In der Runde saßen mehr oder minder bekannte Politiker und Verbandsvertreter, die sich über die Entwicklung des Sozialstaats unterhielten. Der CDU-Politiker Heiner Geißler erklärte, Hartz IV widerspreche der Menschenwürde. Der baden-württembergische Ministerpräsident Oettinger erklärte, das neue Motto der Arbeitslosenhilfe »Fordern und Fördern« sei ein voller Erfolg.

Einige Meter entfernt saß auf dem »weißen Sofa«, das zu jeder Will-Sendung aufgebaut wird, eine Familie aus Baden-Württemberg. Vater, Mutter und eines der drei Kinder. Die Mutter ist seit Längerem arbeitslos und hat vergeblich dreihundert Bewerbungen verschickt; der Vater – von Beruf Elektriker – hält die Familie mit Minijobs über Wasser; für eine reguläre Anstellung, so wird ihm gesagt, sei er zu alt. Wie lang sie die Raten für ihr kleines Haus noch aufbringen können, wissen die Eltern nicht. Was sie machen, falls das Häuschen gepfändet wird, wissen sie erst recht nicht. Auf den weißen Polstern, meterweit von der Diskussionsrunde entfernt, saß die Familie ausgestellt wie eine sonderbare Spezies. Da, liebe Fernsehzuschauer: So sehen Arbeitslose aus! Die Leute waren bescheiden, sie haben sich nicht ins Expertengespräch eingemischt. Als sie das Wort bekamen, verlangten sie nicht nach einem gesellschaftlichen Wandel, nicht nach einer Umkehr der herrschenden Politik. Die Politik, die in den vergangenen Jahren dazu geführt hat, dass die Kluft zwischen Reichen und Armen in der Bundesrepublik immer größer wird und dass Kinder armer Eltern jetzt viel geringere Chancen haben, es zu etwas zu bringen als noch zur Jugendzeit von Gerhard Schröder. Die Familie aus Heidelberg bemühte sich, rechtschaffen zu wirken. Niemand sollte ihnen nachsagen können, sie würden sich mit Anlauf in die soziale Hängematte werfen. Wer arm ist, muss sich schämen: Das wussten die Leute.

Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wird von vielen Meinungsführern als ein Spruch verstanden, hinter dem sich heutzutage vor allem Selbstsucht und Anspruchsdenken verbergen. Das Wort vom »Ego-Sozialismus« macht die Runde. »Ego-Sozialisten«, so die Idee, kämpfen nicht für die Verwirklichung einer Weltanschauung – die Vorstellung von einer gerechteren Welt –, sie berufen sich vielmehr auf diese Weltanschauung, um für sich selbst einen Vorteil herauszuschlagen.

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Als ob das je anders gewesen wäre! Alle armen Leute, die je dem Sozialismus anhingen, haben das immer auch im eigenen Interesse getan. Der Sozialismus ist im Interesse der Armen und Ausgebeuteten erfunden worden. Damals wie heute wissen alle, dass sie nur etwas für sich erreichen können, wenn sie gemeinsam auftreten. Wer keinen Einfluss hat, wird nur gehört, wenn er seine Stimme mit der von vielen anderen zu einem Chor vereinigt. Sozialismus ohne Solidarität gibt es nicht.

Das neoliberale Denken, das alle für faul oder doof erklärt, die im Kampf um Arbeit unterliegen, hat jahrelang das öffentliche Gespräch bestimmt. Wie es aber mit extremen Ideen geht: Werden sie nur oft genug wiederholt, findet sich auch eine Opposition, die das Gegenteil verkündet. So hat das neoliberale Denken herbeigeführt, dass »Sozialismus« neuerdings kein Schimpfwort mehr ist.

Nach der Wende schrieben alle den Sozialismus ganz klein. Das Wort erinnerte an die DDR, und mit der wollte – mit Ausnahme der Angehörigen der PDS – kein Politiker etwas zu tun haben. 1990 ergab eine Meinungsumfrage, dass lediglich dreißig Prozent der Deutschen glaubten, der Sozialismus sei »eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde«. Heute sind es 45 Prozent.

Die Debatte über Heuschrecken und überzogen hohe Managergehälter hat gezeigt: Die Deutschen wollen bewahren, was sie an ihren alten Staaten gut fanden. Im Westen will man die Konsensgesellschaft des Rheinischen Kapitalismus erhalten, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich zumeist friedlich einigten, sodass niemand das Gefühl hatte, zu kurz zu kommen.

Im Osten erinnert man sich daran, dass es Zeiten gab, in denen man zwar nicht viel hatte, den Mangel aber mit fast allen teilte. Adam Smith, einer der theoretischen Vordenker des Kapitalismus, schrieb im 18. Jahrhundert, dass nicht zuletzt der Vergleich zwischen der eigenen Lebenslage und der des Nachbarn darüber entscheide, ob ein Mensch sich arm fühlt oder nicht.

Wenn der Sozialismus in Deutschland jetzt wieder beliebt wird, liegt es daran, dass die Leute sich darunter soziale Gerechtigkeit vorstellen.
Mehr als 2,7 Millionen Kinder leben heute in Armut; die reichsten zehn Prozent der Bürger verfügen über 42 Prozent des gesamten Einkommens. Der SPD-Linke Ottmar Schreiner hat eine Statistik präsentiert: Weil Geringverdiener in Deutschland eine durchschnittlich niedrigere Lebenserwartung haben als andere, zahlten sie 50 000 Euro mehr in die Rentenkasse ein, als sie später erhalten. Besserverdienende hingegen erzielten aus der Rentenversicherung einen Gewinn von bis zu 200 000 Euro.

Seit Jahren wird die Globalisierung angeführt, wenn es gilt, den Deutschen zu erklären, warum sie als Arbeitnehmer immer weniger verdienen, während die großen Konzerne und die Wohlhabenden immer neue Vergünstigungen erhalten. Die reichen Steuerzahler würden anderenfalls ihren Wohnsitz in eine Steueroase verlegen oder Steuern hinterziehen, heißt es, Unternehmen würden abwandern, Topmanager im Ausland lukrativere Posten annehmen.

Die Deutschen, die das lang glaubten, mussten zusehen, wie – trotz aller Konzilianz bei Lohnverhandlungen – ein Unternehmen nach dem anderen profitable deutsche Produktionsstätten schloss, weil anderswo etwas mehr Profit zu erzielen war. Allmählich dämmert den Deutschen, dass es gar nicht so schade gewesen wäre, wenn Jürgen Schrempp (Daimler), Klaus Esser (Mannesmann) oder Ron Sommer (Deutsche Telekom) sich beizeiten im Ausland verdingt hätten.

Gewerkschaften und Arbeitnehmer haben die Schmälerung der Nettoverdienste jahrelang hingenommen, im Namen der Gesundung der Wirtschaft. Inzwischen hat sich die Ansicht breitgemacht, dass aller Verzicht der Arbeitnehmer immer nur dazu führt, weiteren Verzicht zu fordern. Was die Politiker den gesellschaftlichen Solidarpakt nennen, ist in den Augen der Wähler nicht mehr verlässlich. Die Unternehmensführungen fühlen sich den Aktionären verpflichtet, nicht den Arbeitnehmern oder der Gesellschaft.

Viele Wohlhabende sehen nicht ein, warum sie hohe Steuern zahlen sollen – ihre Kinder schicken sie ja längst auf Privatschulen, sie haben private Kranken- und Rentenversicherungen und finden, dass der Staat ihnen zu sehr auf der Tasche liege. Die Armen hingegen sollen ihren sozialen Beitrag leisten, indem sie ihre Arbeitskraft auch für 3,50 Euro Stundenlohn verkaufen. Ein Kind aus gutem Haus, das als Babysitter sein Taschengeld aufbessert, wird besser bezahlt.

Unter Kanzler Gerhard Schröder haben die Ärmsten reagiert. In Scharen kehrten sie sich von der SPD ab und wandten sich der CDU zu. Dann merkten sie, dass die CDU nicht beabsichtigte, die Agenda 2010 zu bekämpfen, sondern danach trachtete, sie zu verschärfen. Darauf wechselten viele zur Linkspartei. Deren Wähler stammen vor allem aus »den sozialen Randgruppen«, wie die FAZ schrieb: Es seien »einfache Arbeitnehmer, Rentner mit geringer Rente, Arbeitslose und Gewerkschafter«.

Die westdeutsche WASG und die ostdeutsche PDS schlossen sich im Sommer 2007 in einem sehr günstigen Moment zur Partei Die Linke zusammen. Die Linke schaffte es, 53 der 612 Sitze im Bundestag zu erringen. Ihr Name ist Programm. Er besagt: weg von der alleinigen Herrschaft der Kapitalinteressen, hin zum Sozialismus – was immer der Einzelne sich darunter vorstellt, was immer er aus den Reden der Parteispitzen Gregor Gysi und Oskar Lafontaine aufgeklaubt hat.
Was in der anhebenden Industrialisierung vor zweihundert Jahren üblich war, ist jetzt wieder die Regel: Wer Kapital hat, setzt es dort ein, wo es die größten Zinsen bringt.

Im 19. Jahrhundert wurden die Arbeiter von den Unternehmern direkt ausgebeutet. Heute gehören viele Unternehmen Aktienfonds, deren Anteilseigner häufig nicht einmal wissen, wo genau sie ihr Geld investiert haben. Und wenn sie es wissen, interessiert das Schicksal der Arbeitnehmer sie nicht. Wie auch? Sie bekommen die Produktionsstätten und die Arbeiter nie zu Gesicht. Während ein klassischer Unternehmer darauf achtete, dass seine Firma jahrzehntelang florierte, kommt es den heutigen Kapitalfonds auf kurzfristige Rendite an. Ob ein Unternehmen es übersteht, wenn es gekauft und geschröpft wird, spielt keine Rolle.

Weil die Finanziers sich nach den rücksichtslosen Maßstäben verhalten, die als »Manchester-Kapitalismus« in die Industriegeschichte eingingen, reagieren die sogenannten Lohnabhängigen und die Arbeitslosen entsprechend: Sie greifen auf das Vokabular des 19. Jahrhunderts zurück und – der diskreditierte »real existierende Sozialismus« des Ostblocks hin oder her – auch auf Karl Marx und alte sozialistische Ideen.
Die Idee des Sozialismus läuft nicht darauf hinaus, dass eine Staatspartei alles bestimmt und die arbeitende Bevölkerung im Namen des Staates ausbeutet, wie es im Ostblock üblich war.

Sozialisten wollen vielmehr eine Gesellschaftsform entwerfen, in der alle leben und überleben können, jeder seinen Fähigkeiten gemäß. Sie streben danach, dass die Verfügung über das Kapital nicht bei einigen wenigen liegt, sondern von der Gesellschaft kontrolliert werde. Besonders die Herrschaft über die für alle wesentlichen Dinge soll dem sozialistischen Denken zufolge nicht privaten Individuen überlassen werden: die Versorgung mit Wasser und Energie, öffentliche Verkehrsmittel, Post, Krankenversorgung, Altersvorsorge, Kindergärten, Schulen und Hochschulen.

Der Sozialismus strebt die demokratische Kontrolle der Einrichtungen an, die für das Leben aller Menschen wichtig sind. Als die Einwohner der bolivischen Stadt Cochabamba sich im Jahr 2000 dagegen wehrten, dass auf Geheiß der Weltbank ihre Wasserver-sorgung – das Regenwasser inklusive – privatisiert wurde, was dazu führte, dass viele Bauern des Umlands für Wasser mehr zahlen mussten als für ihr Essen, war das eine sozialistische Bewegung.

Hungerrevolten wie die jüngste in Haiti, in denen die Menschen aus Verzweiflung alles kurz und klein schlagen, sind sozusagen vorsozialistische Bewegungen: Die Menschen, die Marktstände ihrer Nachbarn zertrümmern, wissen nicht, dass sie stärker wären, wenn sie gemeinsam für bessere Verhältnisse einträten. In Cochabamba hat die »Coordinadora del Agua«, in der Bauern, Arbeiter und Studenten sich zusammenschlossen, bewirkt, dass die Privatisierung der Wasserversorgung rückgängig gemacht wurde.

Heute erfrieren in Deutschland nur Leute, die auf sich nicht aufpassen. In Großbritannien hingegen, das sich unter Margaret Thatcher und Tony Blair den niedrigen sozialen Standards in den USA angeglichen hat, sterben in jedem harten Winter alte Menschen in ihren Wohnungen vor Kälte, weil sie nicht das Geld haben, die privatisierten Energieversorgungsunternehmen zu bezahlen. Die Briten sind nicht bloß an die Klassengesellschaft gewöhnt, sondern auch daran, dass sie seit dem Zweiten Weltkrieg in einem relativ armen Land leben: Die Mangelwirtschaft des Krieges ging dort bruchlos in die Mangelwirtschaft in Friedenszeiten über.

In der Bundesrepublik erwarten die Leute, dass der soziale Wohlfahrtsstaat, der nach 1945 aufgebaut wurde, nicht vollkommen demontiert werde – mag das auch bedeuten, dass sie den Sozialismus, für den viele früher nichts übrig hatten, jetzt für eine letztlich »gute Sache« halten.

Jeder zweite Bundesbürger findet derzeit, Sozialismus und Demokratie seien gut miteinander vereinbar. Die Linke lebt davon. Neulich erklärte Oskar Lafontaine in der Welt, Post und Telekom sollten wieder verstaatlicht werden, die Bahn solle im Staatsbesitz bleiben. Letztere Meinung teilten in einer Ende 2007 angestellten Umfrage 67 Prozent der Deutschen.

Wenn es nach Lafontaine geht, soll seine Partei sich in ihrem Programm auch auf Karl Marx beziehen: Die Bourgeoisie und das Kapital haben »die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohl erworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt«. Sie haben, mit einem Wort, »an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt«. »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu sehen.« So schrieben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest. Und Oskar Lafontaine meint, wer die eigene Lebenssituation mit nüchternen Augen betrachte, müsse seine Partei wählen.

Schon bevor Die Linke zur fünften Kraft im bundesdeutschen Parteienspektrum wurde, verstanden die Koalitionsparteien, dass ihre neoliberale Rhetorik beim Volk nicht nur Anklang findet. Angela Merkel redet, seit sie Kanzlerin ist, wie eine konservative Sozialdemokratin. Kurt Beck verkündete schon 2006, die SPD solle wieder die »Partei der kleinen Leute« werden. 2007 hat die SPD ihr ziemlich neoliberales Grundsatzprogramm überarbeitet. Eine Mitgliederbefragung wurde angestellt, die 40 000 Einsendungen erbrachte. Mehr als 900, sagen die Zuständigen, seien bei der Formulierung des Programms berücksichtigt worden. Seither bekennt die SPD sich wieder offen zum Sozialismus.

Bisher nehmen die Wähler ihr den Sinneswandel nicht ab: Die
Umfragewerte der Partei sind schlecht, die SPD steht bei 26 Prozent. Die meisten Wähler, die sie verloren hat, findet man heute bei der Linkspartei.

Dass die Zeiten vorbei sind, da in Deutschland der Wohlstand wucherte, wissen alle. Umso dringender wollen die Leute, dass die Nachteile, die sich daraus ergeben, halbwegs gerecht auf alle verteilt werden. Und sie wollen, dass die Politik – bei aller Rücksicht auf die Finanzinteressen – auch sie nicht vergisst.

Angela Merkel irrt, wenn sie denkt, dass alle beim Wort »Sozialismus« erschauern. Auf dem CDU-Parteitag in Hannover im Dezember 2007 erklärte sie, der Sozialismus habe in der DDR »genug Schaden angerichtet! Wir wollen nie wieder Sozialismus! Wir wollen nie wieder Unterjochung der Freiheit!« Aber diese Sätze haben nur einen Sinn, wenn man sie als späten Kommentar einer früheren FDJ-Funktionärin zur DDR auffasst. Sie blenden die eigentlichen Anliegen des sozialistischen Denkens aus.

Auch der CSU-Vorsitzende Erwin Huber war nicht auf der Höhe der Zeit, als er im Januar in Wildbad-Kreuth erklärte, den nächsten Bundestagswahlkampf mit dem Slogan führen zu wollen »Freiheit statt Sozialismus«. Die Worte benutzten erst der ehemalige NS-Marinerichter und spätere CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, und dann Franz Josef Strauß. Und der Kanzlerkandidat Strauß verlor mit diesem Slogan die Bundestagswahlen von 1980.

In einer parlamentarischen Demokratie müssen sich die Parteien im Rahmen des Möglichen und Vernünftigen ein wenig danach richten, was die Wähler wollen. Derzeit wünschen sich sehr viele mehr soziale Gerechtigkeit im Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland. Dies Begehren: Man kann es christlich-demokratisch nennen, auch christlich-sozial oder sozialdemokratisch, theoretisch gesehen ist es zuallererst: sozialistisch.

(Illustration: Steffen Mackert)