Die blaurote Luftmatratze

SZ-Magazin-Sommergeschichten: Folge 1 von Siegfried Lenz.

Schaut auf diese Bucht, sagte Gerold, dort unten ist es. Ohne den Motor abzustellen, hielt er an einer Passierstelle der engen Strafe und machte eine präsentierende Geste, geradeso als wollte er uns den schimmernden Strand schenken und die träge auslaufenden Wellen. Dann suchte er meinen Blick, forschend, ausdauernd, und fragte leise: Versöhnt, Hannah?,
und da ich ihm nicht antwortete, wandte er sich an seinen Assistenten und an Nicole, die hinter uns saßen, und wartete auf ein Wort der
Begeisterung.

Da die beiden aber nur stumm da hockten, stumm und anscheinend betäubt vor Hitze, glaubte er sich selbst belobigen zu müssen: Seht ihr, sagte er, am Ende haben wir's gefunden und werden für alle Irrfahrten entschädigt, und er nickte zu dem kolorierten Schild hinüber. Das Schild bestätigte, dass dort unten, von bröckelnden grauen Felsen eingeschlossen, der „Club Delphine" zu finden war, eine Ansammlung von winzigen, strohgedeckten Bungalows, die nur einen knappen Schatten auf den Strand warfen. Langsam fuhren wir die holprige Straße hinab; ich drehte das Fenster herunter und spurte sogleich den sanften Meerwind, spürte ihn als Wohltat auf meinem brennenden Gesicht. Ein schneller Blick in den Ruckspiegel
zeigte mir; dass Lammers immer noch Nicoles Hand hick; auf ihren Gesichtern lag weder Freude noch Erleichterung, alles, was sie preisgaben, war eine träge Besorgnis - vermutlich bedauerten sie wie ich, sich auf Gerolds Plan zu einem gemeinsamen Kurzurlaub eingelassen zu haben.

Vor einem weißlackierten Schlagbaum hielten wir, es war niemand zu sehen. Gerold stieg aus und tat, wozu eine Aufschrift in drei Sprachen aufforderte: Er schlug eine Schiffsglocke, die an einem metallenen Galgen baumelte, er schlug gleich mehrmals, als wollte er nicht allein unsere Ankunft signalisieren, sondern auch zu erkennen geben, dass wir froh gestimmte Leute waren, bereit, alles mitzumachen. Während ich dem feinen, ziehenden Schmerz nachlauschte, den der harte Glockenton in meinem Kopf ausloste, stellte Gerold sich vor ein wappenartiges Willkommensschild, das zwei Delphine im Sprung zeigte. Er
winkte uns aus dem Wagen, er schlug vor, uns gegenseitig vor dem Schild zu photographieren, doch bevor Lammers noch den Apparat eingestellt hatte, erschien Emily.

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Emily war barfuss. Sie hatte sich eine Hibiskusblüte ins schwarze Haar gesteckt; ihr fettloser, trainierter Körper war tief gebräunt. Sie
war lediglich mit einem lächerlichen Baströckchen bekleidet, das bei ihren Schritten leise raschelte, ihre kleinen harten Brüste waren unter
cinem Stoff verborgen, der gewiI auch als Krawatte getragen wurde. Lächelnd hieß sie uns willkommen und stellte sich als Animateurin
des „Club Delphine" vor, von der Clubleitung beauftragt, für Unterhaltung, Bewegung und Frohsinn zu sorgen. Dann stellte Gerold uns vor: mein Assistent Herr Dr. Lammers und seine Frau Nicole, meine Frau Hannah, Gerold Preising. Er hielt es für nötig zu erwãhnen, dass wir ausnahmslos voller Vorfreude seien. Emily nickte und ging uns voraus zum Büro, das in
dem zentral gelegenen Bungalow eingerichtet war, ein runder, überraschend kühler Raum, in dem eine Hängematte aufgespannt war.

Als ich eintrat, ließ sich ein blonder Bursche aus der Hängematte kippen, fing sich geschickt ab und legte das Buch, in dem er gelesen hatte, auf
einen roten Transistor. Ich bin Maurice, sagte er und begrüßte uns mit Handschlag. Er trug eine lange weiße Leinenhose, sein Oberkörper
war nackt. Er setzte sich an einen schmalen Tisch, auf dem einige Ordner standen. Sie also sind der Professor, sagte er, wir haben sie und
Ihre Freunde bereits erwartet. Während er einen Ordner aufschlug und unsere Platzbestellung heraussuchte, klärte Emily uns freundlich
darüber auf, daf. hier niemand mit seinem Titel oder Nachnamen angesprochen werde, hier, im Club, sei ciner des andern Gefährte,
man duze sich wie selbstverständlich und rede sich nur mit Vornamen an; dies gehöre zur Tradition des Clubs, dies schaffe Nähe und steigere den Gemeinschaftssinn. Unwillkürlich musste ich Lammers und Nicole anblicken, sie schienen nicht nur verblüfft, sondern auch betreten, anscheinend spurten sic bereits die gleichen Hemmungen, die mir zuzusetzen begannen. Ich war überzeugt, dass es mir nie gelingen würde, zu Nicole oder zu ihrem Mann du zu sagen.

Nachdem wir die Formalitäten hinter uns gebracht hatten, wies Emily uns in die Örtlichkeiten em, zeigte uns den Speiseraum, die Süßwasserduschen, führte uns zu den windgeschützten Spielanlagen und brachte uns schließlich zu unseren Bungalows - wir bekamen Nr. 8, Lammers Nr. 9. Ehe sie uns verließ, bereitete sie uns darauf vor, dass das Abendessen gemeinsam eingenommen wurde und dass sich bei dieser Gelegenheit Neuankömmlinge in einer kurzen Rede selbst vorstellten. Gerold tat, als freue er sich darauf. Eine unerträgliche Munterkeit erfüllte ihn, immer wieder breitete er die Arme gegen die Bucht aus, legte versonnen den Kopf schräg und seufzte albern und konnte sich nicht genug darin tun, diesen, wie er meinte, verwunschenen Platz zu loben. Als wir uns von Lammers und Nicole trennten, vermied er es, sie gleich mit ihren Vornamen anzusprechen, er sagte lediglich: So, Kinder, dann bis später.

Ich setzte mich in einen Feldstuhl und überlief es Gerold, das Gepäck hereinzuschleppen. Mein Gesicht brannte, meine Füße brannten;
ich spürte den Schweiß im Haaransatz und im Nacken und empfand ein leises Dröhnen im Kopf. Es schien mir unbegreiflich, dass ich mich zu dieser Fahrt hatte überreden lassen, zu diesem Kurzurlaub in einem Club, der Gerold angeblich von einem Kollegen empfohlen worden war. Meine Befürchtung, dass wir uns deplaziert vorkommen müssten, wurde bereits
durch die Begegnung mit Emily und diesem Maurice bestätigt: Durch ihre Höflichkeit gaben sie uns zu verstehen, dass sie uns nicht zu ihresgleichen zählten. Gerold entging nicht meine Verdrossenheit, meine Gereiztheit;
jedesmal, wenn er ein Gepäckstück absetzte, nickte er mir aufmunternd zu, tätschelte meine Schulter und riet mir, die Gewohnheiten zu vergessen und hier einfach nur das Spiel mitzuspielen. Es ist doch alles nur befristet, sagte er, lass dich mal fallen, gib deine Vorbehalte auf, und du wirst überrascht sein, wie viel Spass das macht.

Mit einer Eilfertigkeit, über die ich mich nur wundern konnte, wechselte er seine Kleidung, er hängte Hose und Windjacke auf einen Bügel, stand für einen Augenblick nackt vor mir und bat mich, ihm das grüne Polohemd
herauszusuchen und die Shorts und die Sandalen. Ein Gefühl des Erbarmens mit seinem mageren, blassen Körper überkam mich, gleichzeitig aber musste ich daran denken, dass dies der größte Nordist war, der Runenforscher, der einen der bedeutendsten Kommentare zum Codex runicus geschrieben hatte: Gerold Preising, der viel zitierte Inhaber des Lehrstuhls für Nordistik.

Ich konnte nicht anders, ich musste ihn fragen: Warum, Gerold, warum hast du uns hierher gebracht?, worauf er in sachlichem Tonfall sagte: Ich habe Lammers und Nicole eingeladen, es ist eine Art Belohnung für seine Hilfsdienste, denn ohne ihn wäre die Arbeit über Zauberrunen - Zum Schutz der Schiffe - noch nicht erschienen. Von seinem Assistentengehalt könnte er sich den „Club Delphine" nicht leisten. Bist du sicher, fragte ich, bist du ganz sicher, da dies der einzige Grund ist? Welch einen Grund sollte es denn sonst noch geben, sagte er unwillig und bückte sich zu einem verschnürten Packen hinab und löste die Lederriemen. Was ist denn das? Eine Luftmatratze, sagte er; ich habe erfahren, dass man hier in Hängematten schläft, und darum habe ich nicht zuletzt für dich die Matratze gekauft, für alle Fälle; dass sie blaurot ist, wird dich wohl nicht stören. Sie hat übrigens vier Kammern und kann mit dem Mund aufgeblasen werden. Mussten es ausgerechnet diese Farben sein? fragte ich, und er darauf: Es war die letzte, die sie im Kaufhof hatten; Lammers hat eine in den schwedischen Farben. Man hat uns versichert, dass sie im Wasser einen erwachsenen Menschen tragen.

Zum ersten Mal zeigte Gerold sich mir in Bermudashorts, er schien sich selbst zu gefallen, er merkte nicht, wie verboten er aussah; in seiner Entschlossenheit, sich hier zünftig zu geben, öffnete er die Knopfe seines Polohemds, die er gerade geschlossen hatte. Anscheinend erriet er, warum ich den Kopf schüttelte, denn er sagte: Was hast du; so alt sind wir nun auch wieder nicht. Und ungeduldig forderte er mich auf, den eigelben Strandanzug anzuziehen, den er für mich ausgesucht hatte. Komm, Hannah, mach schon, steig endlich herab; ich sage dir etwas voraus, was du nicht für möglich hältst: die unschuldigen Freuden der Anpassung.

Auf einmal wurde eine Trommel geschlagen, die Trommel rief, sie warb und forderte, und als wir aus dem Bungalow traten, sahen wie Emily auf dem schimmernden Sandplatz; breit lächelnd hockte sie hinter zwei Bongotrommeln und winkte den Burschen und Mädchen zu, die sich lässig um sie versammelten.

Gerold tastete nach meiner Hand und zog mich mit sich. Die Ruhezeit war vorüber, Emilys Unterhaltungsprogramm fing an.

Es begann mit einen Rhythmuswettbewerb für Paare; der männliche Partner hatte die Trommel zu schlagen nach einem beliebigen Rhythmus, und die Mädchen hatten die Aufgabe, dem Rhythmus tänzerisch Ausdruck zu verleihen, barfuss, im weichen, warmen Sand. Wie rasch sich die Partner wählten; es verbluffte mich nicht und ich war nur erleichtert, dass keiner der jungen Burschen auf den Gedanken kam, mich zu wählen. Ich traute meinen Augen nicht, doch die erste Tänzerin - sie war sommersprossig, aschblond - trug einen silbernen Skarabaus über dem Bauchnabel, den sie anscheinend so gut befestigt hatte, da er beim Tanz nicht abfiel. Wir standen im Kreis und waren aufgefordert, nach jeder Darbietung Noten abzugeben, von Eins bis Sechs - dass Gerold, der so tat, als könne er dem Rhythmus nicht widerstehen, regelmäßig zu hohe Noten gab, überraschte mich nicht. Je länger dieser Rhythmuswettbewerb dauerte, je phantastischer die Tänze wurden und je unterhaltsamer die Stürze in den lockeren Sand sich ausnahmen, desto vergnügter wurde die Stimmung. Emily strahlte mit entblößtem Gebiss.

Dann aber erschienen mit erstaunlicher Verspätung Lammers und Nicole; er trug eine karierte Gymnastikhose und ein schlichtes Turnhemd, sie sehr knappe sandfarbene Shorts und eine rote Bluse, deren Enden sie vor
dem Bauch propellerartig geknotet hatte. Nicht nur ich starrte sie an; alle wandten sich ihnen zu, vergaßen die Tänzerin, überhörten den Klang der Trommel - verblüfft über Nicoles Erscheinung. Nie zuvor war sie mir so
schön erschienen; es kam mir so vor, als hätte sie sich bei all unseren verflossenen Begegnungen mit adretter Biederkeit getarnt. Welch eine
Verwandlung! Sie hatte ihr Haar, das sie sonst im Nacken gesammelt trug, gelöst und ließ es auf die Schultern hängen, auf ihrem Gesicht, das ich zwar als ebenmäßig, doch auch als unbeteiligt und schläfrig in Erinnerung hatte, lag ein Ausdruck von heiterer Gelassenheit.

Plötzlich ergriff Gerold meinen Arm und sagte: Los, Hannah, jetzt schlage ich die Trommel für dich, komm schon. Ich widersetzte mich, ich sagte: Mach dich nicht lächerlich; doch er wollte unbedingt seinen Auftritt haben
und ließ mich einfach stehen, steuerte auf Nicole zu und wählte sie als Partnerin. Nicole war verwirrt, sie zögerte in erkennbarer Verlegenheit, dann aber nickte ihr Lammers auffordernd zu, und sie trat in den Kreis und nahm den Rhythmus auf, den Gerold ihr stümperhaft vorgab. Was sie zum besten gab, riss keinen der Zuschauer hin, es war eine Art lyrischer Meditation, die sie tanzte, versonnen, mitunter sparsam lasziv; was allenfalls beeindruckte, waren ihre langen, vor Sonnenöl glänzenden Beine - zu mehr forderte die Trommel sie nicht heraus. Und dann kam der Augenblick, in dem sie und Gerold sich anblickten, ich erkannte die verstohlene Freude in ihren Blicken und war plötzlich sicher, dass wir nicht allein deswegen im "Club Delphine" waren, weil Gerold seinen Assistenten für wissenschaftliche Hilfsdienste belohnen wollte. Die Noten, die sie für ihren Tanz bekamen, waren mäßig, von Höflichkeit oder Mitleid inspiriert. Ich hörte, wie Gerold sich bei Nicole bedankte und sie dabei bei ihrem Vornamen nannte, sie vermied es, ihn anzusprechen.

Gegen meinen Willen lud Gerold die beiden in unseren Bungalow ein, ihnen lag daran, ihre ersten Eindrücke und Erlebnisse auszutauschen - bei norwegischem Linien-Aquavit, den Lammers von seiner Reise nach Thorsbjarg mitgebracht und bis hierher geschleppt hatte. Wie leicht es Gerold fiel, die Regeln des Clubs anzuwenden und seinen Assistenten zu duzen, er sagte so selbstverständlich Ulf zu ihm, als hatte er es seit jeher getan, doch wann immer er den Namen Ulf aussprach, hörte es sich so
an, als müsste er aufstoßen. Nach dem zweiten Aquavit riskierte es auch Ulf, Gerold zu duzen, er tat es rasch und zur Seite wegsprechend;
zu mir Hannah zu sagen wagte er offenbar noch nicht. Nicole sag nur da in gewohnter Schweigsamkeit; man konnte annehmen, die vertrauliche Anrede bedeutete ihr nichts oder sie sei dazu nicht fähig. Diesen Eindruck
machte sie auch beim gemeinsamen Abendessen im großen Bungalow.

Als wir zu viert den Speiseraum betraten, fühlte ich mich unter Wasser versetzt: Ein grünliches, unterseeisches Licht herrschte, dekorative Netze hingen von der Decke herab, in denen Glaskugeln blinkten; getrocknete Seesterne und Muscheln und Langusten waren in das Netzwerk eingeknüpft und schwebten über unseren Köpfen. Emily wies uns unseren Tisch an, auf dem bereits zwei Karaffen Wein standen, außerdem eine Schale mit warmem Weissbrot. Ich kam von einigen sehr jungen Clubmitgliedern nicht los, die zum Abendessen Muschelketten auf nackter Haut trugen, einige hatten sich Möwenfedern ins Haar gesteckt, und ein stupsnäsiges Madchen hatte sich ein Netzhemd angelegt, in das stilisierte, träg treibende Feuerquallen eingewirkt waren.

Der Clubtradition entsprechend wurde Gerold gebeten, sich vorzustellen; schon als er sich erhob, wusste ich, dass ich einen Grund haben würde zu leiden. In seiner Rede, die er für launig hielt, spielte er darauf an, dass sein Name Gerold etwa so alt sei wie die Dinge, mit denen er sich beruflich beschäftige; ursprünglich, meinte er, habe man diese Dinge - hölzerne Stabchen - zu Weissagung und Zauber gebraucht, wozu man seinen Namen nun freilich nicht verwenden könne. Dennoch, erklärte er, will beides gedeutet werden; Deutung bringt uns auf die Lebensspur. Und da man ihm zulächelte und er einmal am Zuge war, stellte er dann auch gleich uns vor, nannte unsere Vornamen, erwähnte, dass wir mehr oder weniger vom gleichen Metier abhängig seien, und setzte sich unter dürftigem Beifall. Er sah uns nacheinander an. Er wollte wissen, was wir von seiner knappen Rede hielten. Nun, Hanah? Ich sagte: Anscheinend kannst du den Runenforscher nicht verleugnen. Also, sagte Ulf das war typisch Gerold. Nicole musste offensichtlich nachdenken, und nach einer Weile flüsterte sie: Mir hat es gefallen. Sie sprach auf den Tisch hinab, bemüht, Gerolds Blick auszuweichen.

Zum Essen gab es gegrillte Sardinen, danach Perlhuhn mit Gemüse und als Dessert verschiedene Käsesorten; das Essen und der Wein versöhnten mich notdürftig mit dem Ort, und nachdem mir Gerold zweimal zwinkernd zugetrunken hatte, sprach ich Ulf mit seinem Vornamen an. Er schaute mich dankbar an und sagte: Ob du's glaubst oder nicht, Hannah, aber du hast dich bereits in diesen wenigen Stunden erholt. Das stellte auch Emily fest, die sich für kurze Zeit an unseren Tisch setzte; sie stieß mit uns an und lobte Gerold für seine spontane Bereitschaft, am Rhythmuswettbewerb teilzunehmen, und sie lobte auch Nicole für die gezeigte Darbietung. Sie sagte: Wer sich hier ausschließt, ist zu bedauern, der kommt nie auf seine Kosten. Selbstzufrieden bereitete sie uns darauf vor, dass sie sich für die
Dunkelheit noch ein besonderes Programm hatte einfallen lassen, eine von ihr so genannte Fackelpolonaise unten am Strand, die bisier nur mit Beifall aufgenommen worden war. Sie lud uns ein, daran teilzunehmen, herzlich, wie sie ausdrücklich betonte. Bevor ich noch auf unsere Müdigkeit hingewiesen hatte, gab Gerold schon zu verstehen, wie sehr er sich auf
die Fackelpolonaise freute. An Nicole gewandt, sagte er: So etwas lassen wir uns doch nicht entgehen, oder? Nicole blickte mich unsicher an und sagte leise: Ist es schlimm, aber ich habe noch ne davon gehört.

Es herrschte eine zaghafte Dunkelheit, als wir uns, nur mit Badezeug bekleidet, unten am Strand einfanden. Die Luft war warm. Emily und Maurice verteilten handliche Magnesiumfackeln. Chopins Polonaise erklang vom Band, vergnügt formierten wir uns zur Schlange, eine Hand auf dem Rücken des Vordermanns; Emily führte den schwankenden Zug unter sprühendem Licht an. Ein Stück ging es nur den Strand hinab, dann leitete Emily uns ins Wasser knöcheltief, schließlich brusttief. Je weiter wir ins Meer hineingingen, desto schwerer wurde Lammers' Hand auf meiner Schulter. Der Auftrieb nahm uns den sicheren Stand, nicht alle konnten das Gleichgewicht halten, sie taumelten, tauchten ein im brusttiefen Wasser, schreckhaft, jauchzend, aber auch dabei bemüht, die Fackel hochzuhalten.

Auch mir ging es so: Plötzlich schwebte ich auf und fiel zur Seite und riss die Fackel mit, die zischend im Wasser erlosch, und noch bevor ich Grund fand, fühlte ich, wie zwei Arme mich umklammerten und hochzogen. Lammers umklammerte meine Hüften, vermutlich hatte er seine Fackel versenkt, um mich zu retten. Nachdem es ihm gelungen war, mich auf-
zurichten, hielt er mich immer noch fest, drückte mich an sich und sagte mit einem nicht sonderlich intelligenten Gesichtsausdruck: Entschuldigen Sie, Frau Professor, ich wollte Sie nur retten. Ist schon gut, sagte ich, und ließ ihm meine Fingerspitzen; so führte er mich zum Strand zurück.

Am Strand saß Nicole und hielt sich den Fuß; sie behauptete, auf einen Seeigel getreten zu sein. Neben ihr kniete Gerold, ratlos, ohne zu wissen, weiche Art von Erster Hilfe er ihr leisten könnte. Er befühlte ihren Fuß, er starrte ihn an, vielleicht erwog er, die Wunde auszusaugen. Als Nicole den Wunsch äußerte, zu ihrem Bungalow zurückzukehren, bot sich Gerold sogleich an, sie zu stützen, doch sie zögerte, sie blickte auf Lammers, und der reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Für uns war diese Fackelpolonaise zu Ende. Gemeinsam strebten wie unseren Bungalows zu, wir verabschiedeten uns nach deutscher Art mit Handschlag zur Nacht, und diesmal nannten wir alle einander bei unseren Vornamen - nur Nicole brachte es nicht fertig, zu Gerold Gerold zu sagen. Unter der Bogenlampe erkannte ich, dass ein Zug von Bedauern über ihr Gesicht glitt, als sie ihm ihre Hand gab und lediglich sagte: Eine angenehme Nacht.

Wir lagen bereits in unseren Hängematten - vom Strand her kamen immer noch Rufe, hörten wir Freudenschreie und vorgegebene Hilferufe, und ich konnte nicht einschlafen, ich musste an Nicole denken, an ihre unerwartete Erscheinung, ihre plötzliche Schönheit. Ich fragte Gerold: Warst du nicht auch überrascht? Wovon, fragte er brummig. Von Nicole, sagte ich, hast du nicht bemerkt, weichen Eindruck sie gemacht hat, selbst die Mädchen
starrten sie ungläubig an; falls Emily auf die Idee käme, hier zu allem Überfluss auch noch einen Schönheitswettbewerb zu veranstalten, würde Nicole bestimmt zur Königin gewählt werden. Gerold schwieg eine Weile, dann sagte er: Mir ist das nicht aufgegangen; sie ist nett; sie macht alles mit, und es scheint ihr Spaß zu machen.

Am nächsten Morgen jedoch - nein, es war schon später Vormittag, als Nicole aus ihrem Bungalow kam - konnte sie sich an den Wettkämpfen nicht beteiligen, ihr Fuß schmerzte noch. Sie schaute nur beim Reiterkampf und bei diesem einfallslosen Sackhüpfen in Papiersäcken zu. Ich konnte nicht erkennen, ob sie sich darüber freute, dass das Mädchen, das
Lammers auf seinen Schultern trug, die Rivalinnen von ihren Untermännern stieß oder zerrte; auch als Gerold beim Sackhüpfen stürzte - er war hoffnungslos abgeschlagen, brauchte sieh nicht anzustrengen und stürzte dennoch -, verzog sie keine Miene. Nur als Maurice zu ihr trat, sieh auf alle viere niederließ und Nicole aufforderte, sieh auf seinen Rücken zu setzen, lächelte sie und nahm sein Angebot für einen Augenblick an.

Zum entscheidenden, originären, noch nie ausgeführten Wettkampf rief Emily die Clubmitglieder für den Nachmittag zusammen. Es war allein ihre Idee, der spontane Einfall einer souveränen Animateurin. Zufällig war sie vorbeigekommen, als Gerold dabei war, seine Luftmatratze aufzublasen, sie sah ihm zu, grübelnd, erwagend: Schon war ihre professionelle Imagination tätig und erfand zu Kurzweil und Vergnügen einen neuen Wettbewerb. Sieben Mitglieder des Clubs hatten Luftmatratzen mitgebracht; Emily konnte sie rasch davon überzeugen, tag sie in einer noch unbekannten Disziplin starten müssten, in der es galt, alle vier Kammern so schnell wie möglich mit Atemluft zu füllen; als Siegesprämie wurde eine Zweiliterflasche Champagner ausgesetzt. Selbstverständlich konnte ich Gerold nicht davon zurückhalten, sieh an diesem lächerlichen Blasebalg-Unternehmen zu beteiligen.

Es geschah am Strand. Ais erster schleppte Gerold seine blaurote Luftmatratze an, dann kamen die anderen Teilnehmer, unter ihnen ein zartes Mädchen mit einer zirpenden Stimme. Die so genannten Wettkãmpfer gingen auf die Knie, nahmen das Mundstück zwischen die
Lippen und starrten auf Emily, die, gleichzeitig mit dem Zeichen zum Beginn, ihr Bandgerät einschaltete. Zum Bolero von Ravel fing das große Pusten und Blasen an. Es wunderte mich, auf welch unterschiedliche Weise die einzelnen Teilnehmer ihr Gerät aufzublasen suchten; einige, darunter die Grillenstimme, versuchten es mit eiligen kurzen Stößen, hastig
saugten sie die Luft ein und pressten sie unter rhythmischem Schnaufen in die Mundstücke; andere füllten mit mächtigen, langsamen Atemzügen ihre Lungen, schlossen die Augen und gaben das ganze Volumen restlos an die Kammer ab. Backen blähten sieh auf, Stirnadern schwollen. Ein Mann ließ sieh verleiten, im Rhythmus des Bolero zu blasen, gab es jedoch bald wieder auf. Dass Gerold sieh so gut hielt und gemeinsam mit drei, vier anderen die erste Kammer aufgeblasen hatte, erstaunte mich; bei seiner Schmalbrüstigkeit hätte man eher vermuten können, dass er von Anfang an abfallen müsste. Mit zügigen, gleichmäßigen Pumpbewegungen machte er wett, was ihm an natürlichem Volumen fehlte.

Er streifte die Sandalen ab. Sein grünes Polohemd rutschte aus den Bermudashorts, gab einen Streifen seines blassen Körpers frei. Im Unterschied zu anderen Wettkämpfern hielt er die Augen nicht geschlossen, sondern beobachtete seine Kontrahenten, ruhig und wachsam - wie ein Läufer, der sich, seiner Überlegenheit gewiss, nach seinen Rivalen umschaut. Die Zuschauer, die sich freimütig zu ihren Favoriten bekannten, wurden lebhafter, wurden lauter, sie riefen Namen, spornten an, flüsterten den Wettkämpfern belebende Lösungen ins Ohr. Einen verwirrenden Eindruck machte Lammers: Er kniete nicht, sondern er hockte auf dem Sand und schien weniger zu blasen, als am Mundstück zu nuckeln; dennoch gewann seine gelb-blaue Matratze an Prallheit. Er blickte nicht ein einziges Mal auf seine Mitstreiter, er blickte auf die Knie von Nicole, die vor ihm stand.

Ein feister Bursche - Goldkette am Hals, Goldkettchen am Handgelenk - gab als erster Mann auf, kurz nach dem Mädchen, das sich mit erhitztem Gesicht aufrichtete, die Augen verdrehte und einen hoch angesetzten Schrei ausstieß, bevor es sich auf den Rucken fallen ließ. Da hatten Gerold und Lammers bereits die zweite Kammer aufgepumpt; je langer sie bliesen, desto stierender wurde ihr Buck, die Atemzuge wurden bei allen kürzer, kraftloser, schon legten sie kurze Pausen ein, in denen sie ihre Lippen beleckten und den Schweig vom Gesicht wischten. Eine seltsame Reaktion löste der Wettkampf bei einem verbissenen Athleten aus; der sprang plötzlich auf, presste die Hände an die Ohren und stürzte ins Wasser - wie er später erzahlte, konnte er das Gewummer in seinem Kopf nicht mehr ertragen. Für jeden, der ein Auge für Technik und Ausdauer hatte, zeichnete es sich ab, dass der Sieg zwischen Gerold und Lammers ermittelt werden würde; sie nahmen bereits das vierte Mundstück zwischen die Lippen, während die andern noch die dritte Kammer schwellen ließen.

Ich sah Gerold im Profil, und plötzlich wusste ich, woran er mich erinnerte: Es war der Buchstabe M im jüngeren nordischen Runenalphabet, der vertikale Strich, die beiden weggestreckten Arme. Er verschnaufte nur ein paar Sekunden und setzte gleich wieder, heftig nickend, seine Blasarbeit
fort, wobei er einmal besorgt zu Lammers hinüberlinste. Plötzlich fiel er aufs Gesicht. Seine Hand löste sich vom Mundstück. Die Füße scharrten schwach im Sand und lagen dann still. Emily und Maurice waren schon neben ihm und beugten sich über sein verzerrtes Gesicht. Auch ich beugte mich über ihn, strich ihm über die Stirn und rief ihn leise an, doch er reagierte nicht. Wir müssen ihn ins Krankenzimmer bringen, entschied
Maurice, und mehr für sich sagte er: Hoffentlich ist keine Kopfader geplatzt. Er lief fort, um die Bahre zu holen.

Auf einmal war ein Schatten neben mir, ich spürte eine heftige Berührung und wusste, ohne hinzusehen, dass es Nicole war, die sich auf die Knie fallen lieg. Mit einem Schluchzer beugte sie sich tief über Gerold, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf Stirn und Wangen, wobei sie, angsterfüllt, einige Worte murmelte, Kummerworte, Beschwörungsworte. Ich verstand die Worte nicht, doch dass sie immer wieder seinen Namen nannte, das hörte ich heraus. Ihre Verzweiflung war aufrichtig, anscheinend wollte oder konnte sie sich nicht von Gerold lösen. Die Zuschauer waren betreten, sie blickten mich an, sie erwarteten etwas von mir, und wahrend ich noch überlegte, was mir zu tun blieb, trat
Lammers heran. Bestürzt sah er einen Augenblick auf Gerold hinab, dann hob er Nicole auf, sachte, fürsorglich, legte einen Arm um ihre Hüfte und ließ es zu, dass sie ihren Kopf an seine Schulter legte. Als er sie wegführen wollte, zauderte sie zunächst, doch nachdem er ihr etwas zugeflüstert hatte, willigte sie ein und ging wie benommen mit ihm.

Ich ging hinter der Bahre, auf der Maurice und ein bärtiges Clubmitglied Gerold ins Krankenzimmer trugen, das, im Verwaltungsbungalow gelegen, anscheinend noch nie benützt worden war. Sie betteten Gerold auf eine Pritsche. Leise beratschlagten sie, welchen Arzt sie telephonisch herbeirufen sollten. Um sich zu versichern und einig zu werden, gingen sie ins Büro und ließen Gerold und mich allein. Gerold atmete regelmäßig; ich legte ihm eine Hand auf die Stirn und massierte leicht seine Schläfen, so, wie ich's manchmal getan hatte, wenn er von seinen Nordlandreisen erschöpft und mit Kopfschmerzen heimgekehrt war. Und nach einer Weile bewegte er mümmelnd die Lippen und sagte mit geschlossenen Augen: Danke, Hannah, es geht schon wieder, es wird wohl ein Schwächeanfall gewesen sein.

Ich gab die Nachricht gleich an Maurice und seinen Helfer weiter, und als ich ins Krankenzimmer zurückkam, saß Gerold bereits auf der Pritsche. Ich überredete ihn dazu, sich wieder auszustrecken, blieb bei ihm sitzen und half ihm später, ein Erfrischungsgetränk zu sich zu nehmen.

Zu reden hielten wir beide nicht für nötig, zumindest so lange nicht, wie wir allein in dem Krankenzimmer waren. Als Maurice und ich
ihn zu unserem Bungalow führten, zitterte er noch ein wenig, doch er erwiderte bereits mit lascher Hand die Grüße zweier Kontrahenten,
die er beim Aufblaswettbewerb weit hinter sich gelassen hatte. Vor dem Bungalow, den Lammers und Nicole bezogen hatten, blieb er stehen; er lächelte bekümmert und schien nicht überrascht, ais Maurice ihm mitteilte,
dass die Freunde, wie er sagte, abgereist waren; ein Taxi hatte sie abgeholt. Gut, gut, sagte Gerold nur, gut, gut; und dann wandte er sich an
mich und murmelte: Er hat kein gutes Spiel gespielt, Hannah, ich werde mich von meinem Assistenten trennen.

Vor unserem Bungalow lag die blaurote Luftmatratze, die irgend jemand hierhergeschleppt hatte; drei Kammern waren vollends, die vierte nur zur Hälfte aufgeblasen. In der Stille der Siesta, als fast alle Clubmitglieder in
ihren Hängematten ruhten, setzte ich mich in den Sand, zog die Matratze heran, stach das Messer in den seitlichen Wulst und wunderte mich, wie leicht und entschieden die Klinge hineinfuhr. Ich zog die Klinge wieder heraus und lauschte auf das gleichbleibende, dann immer schwächer werdende Zischgeräusch, mit dem Gerolds in den Kammern gefangener
Atem entwich. Zuletzt, als alle Luft raus war, als die Haut der Matratze nur flach und schrumpelig vor mir lag, vergrub ich das Messer tief im Sand.(Siegfried Lenz, 1926 in Lyck (heute Elk) in Ostpreußen geboren, gehört seit den masurischen Geschichten So zärtlich war Suleyken von 1955 zu den meistgelesenen Autoren Deutschlands. Bestseller wurden auch die Bände Deutschstunde (1968), Einstein überquert die Elbe bei Hamburg (1975) und Heimatmuseum (1978). Für seine Romane, Erzählungen, Essays und Hörspiele hat er zahlreiche Literaturpreise erhalten. Den Verdienstorden der Bundesrepublik lehnte er jedoch 1979 zusammen mit Heinrich Boll und Günter Grass ab.)

Eine weitere Sommergeschichte veröffentlichen wir kommende Woche.