Bühne frei!

30 Jahre nach dem Deutschen Herbst: Ein Gespräch zwischen Gabriele von Lutzau und Claus Peymann über Verbrechen und Vergebung.

Gabriele von Lutzau:
Ich konnte heute Nacht kaum schlafen. Seit zwei Uhr diskutiere ich im Kopf schon mit Ihnen, Herr Peymann. Voller Wut. Ich bin sehr gespannt, wie es ist, gerade mit Ihnen über Gewalt zu sprechen.

Claus Peymann: Sagen wir besser: ein Gespräch über Gewalt und Kunst. Wer von uns beiden übernimmt die Rolle von Dostojewski? Der tief in die Seele der Menschen einsteigt und von dort aus viele Verbrechen versteht? von Lutzau: Verstehen bedeutet nicht unbedingt, Verständnis aufzubringen.
Peymann: Nein, nein, nein. Dostojewski leidet mit den Tätern, er hat mehr als Verständnis oder Mitgefühl.

von Lutzau: Sie sind also Dostojewski in Bezug auf die RAF – eine Gruppe, die nicht nur nach außen mit bedingungsloser Aggressivität vorging, sondern auch nach innen. Das war ein autoritärer, gnadenloser Umgang. Ich frage mich oft: Warum beschäftigt sich die Kunst mehr mit den Tätern der RAF als mit den Opfern?

Meistgelesen diese Woche:

Peymann: Die Antwort ist banal: Es ist die größere Provokation. Die Faszination für das Böse liegt in der menschlichen Psyche. Das ist schon bei Shakespeare so. Die Täter sind sozusagen der Kick. Ich würde Ihnen allerdings gern einräumen, dass es vielleicht sogar wichtig wäre, die Geschichte der Opfer als Stoff aufzugreifen. Ich weiß nur nicht, ob es letztlich nicht ein bisschen langweilig wäre, das ist das Schlimme. Sie machen selber Kunst: Geht es Ihnen nicht auch so, dass das Negative oft mehr Reiz hat? Es scheint jetzt, dass ich gleichgültig bin, aber das, was wir nicht verstehen, packt uns doch meist viel mehr, oder?

von Lutzau: Meinetwegen. Das Böse darzustellen hat Tradition in der Kunst und ist völlig legitim. Aber es geht auch anders. Meine Kunst stellt nicht das Negative dar, bildet es nicht ab, lässt es nicht auch noch Gestalt werden. Sie setzt nicht das Negative um, sondern stellt dem etwas Kraftvolles, Schützendes entgegen. Und nehmen Sie doch Mutter Courage, sie ist am Schluss auch ein Opfer und sie geht unter, geht kämpfend unter. Es stimmt nicht, dass nur das Böse faszinierend ist.

Peymann: Die Courage hat mit dem Krieg gespielt, letztendlich hat sie ihre Kinder verzockt – und verloren. Sie sehen auch hier nicht die gute Heldin, sondern einen menschlichen Abgrund…

von Lutzau: Vielleicht hat die Kunst deshalb so gern die RAF-Täter ins Bild gesetzt oder auf die Bühne gebracht, weil es so leicht war. Man hat ja auch nur die Täter gesehen, nicht das Leid, das sie verursachten. Die Leute aus der RAF wurden Pop-Ikonen. Deshalb konnten ihre Symbole und ihr Name sogar zum Modegag werden. Mit einem Bild der Geschwister Scholl würde das nie jemand machen.

Peymann: Wäre jemals ein wirklicher Disput über die RAF geführt worden, würde man diese Leute ganz anders einordnen können. Ohne jede historische Voraussetzung dafür werden das natürlich interessante Teufel. Und das ist eine Folge des Verdrängungsprozesses.

von Lutzau: Was heißt das?

Peymann: Der Einspruch gegen die Verhältnisse in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit war richtig. Die Zuspitzung war, dass 30 Leute – biedere Rechtsanwälte, höhere Töchter, begabte Studenten – plötzlich sagten, sie sind jetzt Kämpfer. Dass diese Absurdität, dass diese Wege nie wirklich als Absurdität begriffen wurden, trägt zur Legendenbildung bei. Wie immer ist es Verdrängung, die aus Geschichte Legenden macht.

von Lutzau: Trotzdem geben Sie zugleich Christian Klar recht, dass er mit seiner Grußbotschaft auf der Rosa-Luxemburg-Kon-ferenz für die Mehrheit der Weltbevölkerung spricht…

Peymann: …nämlich für 5,8 Milliarden Menschen. Ja. Die 1,5 Milliarden in Westeuropa oder Amerika sind vielleicht anderer Meinung, aber die Mehrheit unserer Mitmenschen von Äthiopien bis was weiß ich wo hat keinen Anlass, den Kapitalismus zu preisen. Die denken oder empfinden genauso wie Herr Klar, der sagt, dass das westlich-amerikanische System zum Untergang verurteilt ist. Darin liegt aber kein Aufruf zum bewaffneten Kampf und insofern auch kein Widerspruch zu dem, was ich eben sagte.

von Lutzau: Aber es ist totaler Quatsch.

Peymann: Nein, das ist vollständig richtig.

von Lutzau: Nein, das ist absolut nicht richtig. Man kann über diesen Turbo-Kapitalismus reden, der immer mehr zunimmt. Sollte das auch. Wenn ein Mensch in einem ertragreichen Unternehmen entlassen wird, nur damit der Profit noch weiter steigt, ist das absolut zu kritisieren. Wissen Sie, was mich stört? Damals hieß es bei der RAF, man müsse die Revolution machen, erst dann könne man über Neues nachdenken. Und heute? Was soll denn nach dem Untergang des »Kapitals« kommen? Stammesfürsten? Kommunismus? Haben Sie mitgekriegt, dass die Sowjetunion untergegangen ist und die DDR?

Peymann: Das weiß ich nicht, was danach kommen soll. Ich weiß nur, dass dieses System nicht funktioniert. Das Recht zur Kritik an bestehenden Verhältnissen setzt nicht voraus, dass es der Kritiker besser weiß. Schauen Sie, ich als Theaterregisseur stehe in einer Geschichte, die fängt mit Schiller, Lessing, Büchner und Kleist an und setzt sich dann über Müller und Brecht fort. Und all diese Menschen waren mit dem vorherrschenden System nicht zufrieden, haben gesagt: Es muss etwas geschehen, hier läuft etwas gewaltig schief. Ohne diese kritischen Köpfe säßen wir immer noch im Feudal-system. Und zwar unten.

von Lutzau: Jetzt machen Sie es sich aber ein bisschen leicht.

Peymann: Im Gegenteil. Keiner von uns hat ein Rezept. Brecht hat eine Zeit lang an den Sozialismus geglaubt, Schiller an die Revolution. Wie eine bessere Welt aussieht, wie eine gerechtere Gesellschaft funktioniert, kann ich nicht beantworten. Meine ganze Arbeit beruht darauf, danach zu suchen, immer wieder neue Ideenwelten mit aufzubauen, um vielleicht doch noch zu einer gerechteren Welt zu kommen.

von Lutzau: Diesen Anspruch kann ich nur mit Mühe akzeptieren. Zuerst zerstören – ohne Konzept eines Wiederaufbaus? Absurd. Meine Kunst schafft auch Traumwelten oder lädt dazu ein, solche zu betreten. Aber Sie, Herr Peymann, bewegen sich mit Ihrem Engagement für Leute aus der RAF auf einer ganz realen Ebene, auch wenn Sie deren Taten als Verbrechen erkennen. Haben Sie das eigentlich von Anfang an so gesehen?

Peymann: Es sind Verbrechen, aber ich bin und war nie ein Richter. Der Staat, der immer weiter aufrüstete, bestätigte damals unsere Vorwürfe. Ein Klima von Angst, Hetze und Kriminalisierung. Erschreckend, was ich in Polizeikontrollen erlebt habe, vor allem 1977. Ich dachte: So, jetzt erschießen sie dich.

von Lutzau: Aber das ist uns allen passiert in dieser Zeit. Was meinen Sie, wie oft ich kontrolliert wurde? Mein Gesicht kannten die Beamten aus irgendeinem RAF-Zusammenhang. Nur, dass ich Opfer der Landshut-Entführung war, das hat der ein oder andere wohl nicht mehr gewusst. Waren mein Mann und ich deswegen wütend, während wir mit breiten Beinen am Auto standen? Nein. Der Staat konnte sich doch gar nicht anders wehren.

Peymann: Konnte er nicht? Finden Sie nicht, dass Sie jetzt in der gleichen Denk-Sackgasse sind, wie es die RAF war? Natürlich gibt es immer einen anderen Weg – man kann ihn nur manchmal nicht sehen. Das ist zutiefst menschlich – und das kann ich verstehen. Sie sprechen aus Ihrer Sicht, aus Ihrer Erfahrung – und ich will mir gar nicht vorstellen, welchen Schrecken Sie da erlebt haben im Flugzeug.

von Lutzau: Aber das ist meine Innensicht, so wie Sie die Ihre beanspruchen. Ich wurde plötzlich eine Figur, völlig hilflos. Wie das ist, ausgeliefert zu sein, lässt sich nicht beschreiben: Man kann mit der anderen Seite nicht reden, nicht verhandeln, nicht bitten. Weil es Fanatiker sind, denen das Leid ihrer Opfer zudem Befriedigung verschafft. Es ging denen um Macht, um das Gefühl, über andere erhaben zu sein, Gott zu spielen über unsere Leben. Wir haben Nummern von den Entführern bekommen und sollten uns zur eigenen Erschießung melden. Diese Entmenschlichung war unbeschreiblich…

Peymann: …und unbegreiflich eigentlich. Und genau das ist unsere Chance als Künstler – oder meine als Theatermacher: Ich muss das Unbe-greifliche nicht akzeptieren, ich will es aber zum Thema machen: Wie funktioniert der Mensch? Gewalt zum Beispiel funktioniert nur über Entmenschlichung.

von Lutzau: Richtig, wir sind für die alle keine Menschen mehr gewesen.

Peymann: Aber glauben Sie, dass sich Amerikaner, die Bomben auf den Irak werfen, vorstellen, dass unten Menschen sind?

von Lutzau: Der Krieg im Irak ist ein großes Unrecht. Aber was Sie tun, ist die typische Argumentation aus dem Sympathisantenfeld: Warum Mitleid mit den Opfern? Woanders sterben auch Menschen.

Peymann: Das tue ich nicht, ich spreche über die Mechanismen des Krieges. Falscher Kriege. Töten können Sie nur, wenn Sie das Schema des Militarismus über etwas legen, und das werden die Terroristen genauso gemacht haben.

von Lutzau: Gut, das glaube ich auch. Ein Punkt der Einigkeit.

Peymann: Endlich! Heute Morgen hab ich mich schon gefragt, warum ich mich eigentlich auf dieses Gespräch eingelassen habe und ob wir überhaupt eine gemeinsame Ebene finden können.

von Lutzau: Ich verspreche mir, durch dieses Gespräch zu verstehen, warum Sie sich so stark für den neunfachen Mörder Christian Klar einsetzen. Was ist denn Ihre Erwartung?

Peymann: Ich möchte durch das Gespräch von der Schlagzeilenverkürzung der Boulevardpresse wegkommen, wenn es um unser Theater und die RAF geht.

von Lutzau: Also Sie wollen Ihr Image aufmöbeln. Dann lassen Sie die Theorie doch mal weg, sprechen wir über die menschliche Seite. Dass Sie das Grußwort von Klar verteidigen, hinterlässt bei mir eine tiefe Fassungslosigkeit. Wie weit ist es gekommen, wenn sich die Linke solidarisiert – so solidarisiert mit einem Mörder? Der Mann ist ja nicht im Gefängnis, weil er links denkt, sondern weil er neun Menschen umgebracht hat.

Peymann: Sie kämpfen mit harten Bandagen, als RAF-Opfer völlig berechtigt. Meine Position kommt aus anderer Erfahrung. Ja, Sie haben recht, die RAF hat zu Unrecht getötet. Aber sie hat ihre Wurzeln in einem großen politischen Aufbruch, einer Utopie. An die Zündungsmomente der Empörung sollte man sich erinnern.

von Lutzau: Das hab ich nun schon wirklich oft von Ihnen gelesen…

Peymann: …ich möchte erst mal zu Ende sprechen. Das ist ein wichtiger Punkt: Mitte der Sechzigerjahre bis Anfang der Siebzigerjahre haben wir alle gedacht, wir wollen dieses Deutschland in der Prägung Konrad Adenauers nicht, das Alt-Nazis wie Filbinger, Seebohm oder Globke in Ministerpositionen sitzen lässt. Wir wollten eine gerechtere Bundesrepublik.

von Lutzau: Die wollte ich auch. Ihr 68er wart unsere Helden – als Schülerin war Rudi Dutschke mein Vorbild. Ich habe die Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit und Abgrenzung von den Eltern auch gespürt. Ab 1974 war ich in Frankfurt, habe mich sehr für die Frauenbewegung, auch den künstlerischen Aufbruch interessiert: politisches Theater, bildende Kunst, Kabarett, das alles fand ich höchst spannend. Politisch aber war der Bruch mit der Studentenbewegung, die ich zuvor als Schülerin im Odenwald noch tief bewundert hatte, mit der Gewalt gekommen, die nach 1968 immer organisierter wurde. Ich bin 1969 in die SPD eingetreten. Und man sollte gerade daran erinnern, dass das Ende der Sechzigerjahre ein Weg war, seinen Frieden mit der Republik zu machen. Der Marsch durch die Institutionen.

Peymann: Den Weg gab es. Aber wie wir wissen, sind ihn nicht alle gegangen. Konnten ihn nicht gehen – sie gerieten in eine dieser Sackgassen. Hier sind wir wieder bei der Kunst: Auf diesen Abwegen wird das Menschen-Studium wieder interessant.

von Lutzau: Ich verstehe nicht, warum in der heutigen Debatte über die RAF so sinnentstellend verkürzt wird: Adenauer-Ära, Muff unter den Talaren, Vietnamkrieg, die hetzerische Berichterstattung der Springer-Presse bezüglich der Studentenbewegung, die Alt-Nazis in Deutschland – also muss man sich bewaffnen. So stellen Sie das übrigens auch dar. Als gäbe es da eine perverse logische Konsequenz.

Peymann: Nein, das tue ich keinesfalls. Aber wir sind mehr oder weniger alle an die Wegkreuzung der Gewaltfrage gekommen. Sogar unser ehemaliger Außenminister ist ein entdeckter Steinewerfer.

von Lutzau: Und Sie?

Peymann: So weit hab ich es nicht gebracht, aber bei vielen dieser Straßenschlachten war ich anwesend. Wir hatten das Gefühl, wir werden zu unrecht verprügelt – und dass die Polizei die Falschen schützt. Dieser Staat war in seiner demokratischen Prämisse außerordentlich ins Rutschen gekommen.

von Lutzau: Ist das eine Rechtfertigung für die Taten der RAF?

Peymann: Ich spreche gerade von mir, nicht von der RAF, und versuche auf das Ganze zu schauen. Als letztendlich Unbeteiligter kann ich das tun – und gebe zu, dass mir das mit Ihrer Geschichte wohl auch schwer fallen würde. Aus meiner Perspektive kippte damals das Klima: Sehen Sie, in Stammheim waren die Leute aus der RAF plötzlich ganz andere Figuren. Da stand gebündelt die Tragik und Hoffnung meiner Generation. Ulrike Meinhof kannte ich persönlich, auch andere. In Stammheim waren sie plötzlich einsame, gebrochene Leute.

von Lutzau: Warum muss für alles Verständnis gefunden werden? Arme gebrochene Menschen! Den armen Herrn Schleyer hat die RAF wochenlang gefangen gehalten und dann kaltblütig ermordet. Ermordet – mit einem Genickschuss! Und bis dahin hatte sie schon viele andere Unschuldige umgebracht, insgesamt sind zwei Drittel ihrer Opfer sogenannte kleine Leute, keine angeblichen Systemvertreter. Die RAF hat auch die umgebracht, für die sie behauptete, die Revolution zu machen. Und was macht das Motiv für einen Unterschied? Ein Bankräuber erschießt einen Angestellten hinterm Schalter – muss er aus Habgier handeln? Was, wenn der Räuber zuvor sein Leben lang gearbeitet hat, versucht hat, die Familie durchzubringen? Aus einer Notlage heraus eine Verzweiflungstat begeht? Ist er dennoch ein schlechterer Täter als einer, der aus einem behaupteten politischen Motiv handelt?

Peymann: Wir reden hier auf zwei verschiedenen Ebenen. Sie haben den Vorteil, dass Sie in Ihren Äußerungen sehr stark Volkes Stimme repräsentieren, und das ist auch Ihr gutes Recht, das will ich Ihnen hier nicht abstreiten – und zumal aus Ihrem persönlichen Schicksal heraus. Das macht mich natürlich auch ein Stück weit befangen.

von Lutzau: Okay, Sie sind der Demagoge und ich die Populistin – damit kann ich leben. Ich bin heute aber nicht mehr besonders wütend, wenn Sie hier auf meine persönliche Opfer-Geschichte anspielen. Das ist dreißig Jahre her. Aber ich mache mir meine Gedanken.

Peymann: Aber wenn Sie »mit Volkes Stimme« argumentieren, kommen wir nicht zusammen. Ich bin nicht der Meinung, dass die Mehrheit immer recht hat.

von Lutzau: Langsam. Mein Argument ist einfach, was nicht heißt, dass es dumm ist: Es gibt Dinge, die kann ich nicht verzeihen – eine ganz sachliche Feststellung und ja: Manches ist einfach. Zum Beispiel die Ablehnung der Anwendung von Gewalt. Aber ich möchte verstehen. Zum Beispiel, weshalb Sie Christian Klar ein Praktikum anbieten?

Peymann: Das Bizarre in der Diskussion um diesen Praktikumsplatz liegt darin, dass Direktion und Betriebsrat schon vor zwei Jahren sozusagen einem Häftling den Weg zurück in die Gesellschaft ebnen wollten. Dass das jetzt als ein PR-Gag interpretiert wird, sagt doch einiges über unsere Gesellschaft aus. Die Medien machen die Sache groß und lästern dann darüber, dass die Sache groß ist.

von Lutzau: In der ganzen Diskussion empfinde ich Sie oder die 68er oft als ein bisschen selbstherrlich.

Peymann: Selbstherrlich? Das habe ich nie so empfunden. Mag sein, dass ich mir edel, hilfreich und gut vorkomme, das will ich nicht bestreiten.

von Lutzau: Und wo waren und sind die Gutmenschen aus der Linken in Bezug auf die Opfer? Man hätte sich zumindest um die Witwen der Fahrer kümmern können, wenn schon nicht um die Angehörigen der namhaften Opfer. Das wäre doch politisch korrekt gewesen, oder?

Peymann: In dieser Rolle und Pflicht hat man den Staat gesehen.

von Lutzau: Das ist nicht Ihr Ernst. Haben Sie denn nie über die Opfer nachgedacht? Hat die deutsche Linke nie über die Opfer nachgedacht?

Peymann: Nein, nicht in dem Maße wie über die Täter. Sicher hätten wir uns in einer echten Aufarbeitung auch um die Opfer kümmern sollen – auch mit ihren Geschichten beschäftigen müssen. Aber die Diskussionen, die gerade losgehen, wie wir sie ja auch gerade führen, bewegen das ja. Aber was ich nicht verstehe: Warum geben sich die Opfer so selten selber eine Stimme?

von Lutzau: Aus einem verständlichen Reflex heraus haben sich manche eher zurückgezogen, als die Öffentlichkeit zu suchen. Die Täter sieht man im Kontext ihrer Zeit, begreift sie als Zeitzeugen und beschäftigt sich mit ihren Lebensläufen, befragt sie. Die Opfer hingegen werden nur in ihrer Opferrolle wahrgenommen, also durch den Filter, durch den die RAF sie gesehen hat. Manch einer mag auch heimlich der Schuldzuweisung, die ja in den Morden der RAF liegt, zugestimmt haben. Andere sehen vielleicht weniger das Leid des Opfers und der Angehörigen als den pseudo-gerechten Anspruch, mit dem die RAF-Leute 1970 zusammen-kamen. Aber macht ein behauptetes politisches Motiv bei Morden wirklich einen Unterschied, Herr Peymann?

Peymann: Darauf kann ich keine konkrete Antwort geben. Aber was ich mich sicher – das wird mir jetzt bewusst – fragen muss: warum ich keinem Bankräuber oder Sexualstraftäter ein Praktikum und damit einen Weg zurück in die Gesellschaft angeboten habe. Das Theater muss, wie schon immer, in die Abgründe unserer Gesellschaft hineinschauen: von der Kindsmörderin Gretchen in Goethes Faust zum Eifersuchtsmörder Woyzeck bis zum Tyrannenmörder Wilhelm Tell.

von Lutzau: Ich finde es übrigens nicht schlimm, dass Sie Christian Klar diesen Praktikantenplatz angeboten haben. Wenn er schon vom Staat, den er einmal zer-stören wollte, lebt, dann soll er auch dafür arbeiten.

Peymann: Christian Klar wäre hier wirklich ein Arbeiter. Es ist nicht so, dass wir ihm seine Coca-Cola hinstellen und er uns bei der Arbeit zusieht. Was er will, das ist ein richtiger Job.

von Lutzau: Sie haben Ihre Geschichte und Sie können aus ihr heraus gut erklären, was Sie aus welchem Grund tun. Das kann ich anerkennen, ohne in allen Punkten mit Ihnen übereinzustimmen.

Peymann: Ich habe Sie unterschätzt, habe gedacht: Sie hatte dieses traumatische Erlebnis, das so schrecklich ist, und war mir nicht sicher, ob man sich im Gespräch überhaupt annähern kann. Das ist gelungen und einiges – wie gesagt – muss ich mich nach diesem Gespräch selbst fragen. Das haben Sie, überaus temperamentvoll, angestoßen.

Im Oktober 1977 wurde Gabriele von Lutzau von Bundeskanzler Helmut Schmidt empfangen. Sie war als Stewardess eine der Geiseln in der Lufthansa-Maschine »Landshut«. Palästinensische Terroristen hatten versucht, durch die Entführung u. a. die RAF-Terroristen Gudrun Ensslin und Andreas Baader freizupressen. Von Lutzau, 52, lebt im Odenwald und arbeitet als Bildhauerin. Am 3. Mai eröffnet ihre Ausstellung »KunsTräume« in Frankfurt am Main (www.lutzau.de).

Der Regisseur Claus Peymann hat sich schon in den frühen Siebzigerjahren immer wieder in die Diskussion über die RAF eingebracht. Peymann, 69, war Theaterdirektor in Stuttgart, Bochum und Wien und ist seit acht Jahren Intendant des Berliner Ensembles. In den letzten Wochen polarisierte sein Angebot an Christian Klar, einen der führenden Köpfe der RAF, nach dessen Haftentlassung ein Praktikum am Berliner Ensemble zu machen.