Die Gewissensfrage

»Ich gehe sehr gern auf Rock- und Jazzkonzerte, am liebsten vorn mitten rein in die Arena. Da ich mit 1,92 relativ groß bin, verstehe ich es, wenn sich Leute, die direkt hinter mir stehen, beschweren, sie würden nichts sehen. Ich müsste mich also, um niemandem die Sicht zu nehmen, nach hinten stellen. Andererseits erwerbe ich mit der Arenakarte doch das gleiche Recht wie alle anderen. Muss ich also ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich durch meine ›freie Platzwahl‹ anderen Menschen bewusst – wenngleich nicht mutwillig – im Weg stehe? FREDERIK J., Hamburg

Das müsste sich doch ganz einfach mit der goldenen Regel lösen lassen, möchte man meinen: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Keiner will statt Musikern nur Rücken sehen. Also ab nach hinten mit Ihnen!

Allerdings melden sich dann doch Zweifel: Natürlich wird jeder Kleinere wünschen, dass Größere nach hinten gehen. Nur: Ist diese Forderung auch berechtigt? Oder vertritt sie einseitig die Interessen der Kleineren auf Kosten der Größeren? Hat Ihr Wunsch, wie jeder andere vorn mittendrin das Geschehen zu genießen, nicht auch Gewicht? Wenn ja, welches? Und müsste sich nicht genauso Otto Normalgroßer umgekehrt in Ihre Rolle versetzen und Ihnen zuliebe klaglos Sichteinschränkungen hinnehmen? Um derartige Probleme zu lösen, schlug der Oxforder Moralphilosoph Richard M. Hare einen Kunstgriff vor: Er führte eine dritte Person ein; und zwar so, dass derjenige, um dessen Handeln es geht, sich in der Mitte befindet. In Ihrem Fall würde das bedeuten, dass sich vor Sie ein echter Riese stellt, der Sie um dasselbe Maß überragt wie Sie Ihre Hinterleute.

Falls der Riese Ihretwegen das Feld räumen soll, müssen Sie das genauso wegen der Besucher hinter Ihnen – moralische Regeln gelten universal für alle gleich. In dieser Konstellation sind Sie vom Grundsatz »Große nach hinten oder an die Seite« gleichermaßen begünstigt und belastet, können somit vergleichsweise objektiv entscheiden.

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Nun vor die Wahl gestellt, mit den Schultern des Riesen vor der Nase nichts zu sehen oder zusammen mit ihm weiter hinten nicht ganz so optimal zu stehen, werden Sie vermutlich Zweiteres bevorzugen: Unterm Strich ist die Einschränkung geringer. Nach dieser Erkenntnis können Sie den Dritten wieder nach Hause schicken. Denn die gefundene Interessenabwägung kann nicht anders ausfallen, wenn sich Vor- und Nachteile wieder auf zwei Personen verteilen.

(Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.)

Illustration: Jens Bonnke