Ich stottere. Mein ganzes Leben lang. In allen möglichen Situationen, mal stärker, mal schwächer. Wohin ich auch gehe: Mein Stottern habe ich immer dabei, wie einen kleinen Bruder, der mir auf die Nerven geht. Manchmal wie eine Eisenkugel, wie sie Sträflinge früher hinter sich herzogen. Ich bin gerade dreißig Jahre alt geworden. Lange hatte ich gehofft, mein Stottern würde irgendwann einfach verschwinden, wie Pubertätspickel. Aber es ist immer noch da, und ich bin gerade dabei, mich mit der Tatsache abzufinden, dass ich den Rest meines Lebens stottern werde. Wenn ich es schon nicht loswerden kann, möchte ich wenigstens verstehen: Warum stottere ich? Was sagt mein Sprachfehler über mich?
Obwohl ich und mein Stottern alte Bekannte sind, überrascht es mich immer wieder; manchmal schockiert es mich geradezu. Bei mir ist es nicht so, dass ich den Anfangsbuchstaben eines Wortes krampfhaft wiederhole (G-g-g-g-g-g-guten Tag), sondern dass ich beim Sprechen blockiere. Mitten im Wort stoße ich an einen Buchstaben und komme nicht weiter. Im Moment habe ich die größten Probleme mit K, G und T, aber die schwierigen Buchstaben können in ein paar Monaten schon andere sein, ich bin da flexibel. Eine typische Stotter-Szene spielt sich so ab: Ich stehe beim Bäcker in der Schlange und will ein Kürbiskernbrot kaufen. Ich habe viel Zeit, über das Wort nachzudenken. Zu viel Zeit. Wenn ich dran bin, sage ich: »Ich hätte gern ein K--------. Ein Kü---------.« Ich versuche, das Wort rauszupressen, den Satz möglichst schnell zu Ende zu sprechen. Bloß nicht genau hinsehen, was da gerade passiert. Manchmal kriege ich die Kurve, es kommt aber auch vor, dass ich Gewalt anwenden muss. Unter Druck lege ich meinen Kopf in den Nacken und schließe die Augen, während ich mit dem Buchstaben eine innere Schlacht austrage. (Ich habe das beim Logopäden schon auf Videoaufnahmen von mir sehen müssen.) Wenn ich gegen eine massive Blockade kämpfe, herrscht in mir Chaos. Es ist, als tobe ein Gewitter in meinem Kopf. Die Gedanken zucken, die Gefühle donnern. All die schlauen Übungen, die ich gelernt habe, die Atem-Tricks, sind wie weggeblasen. Wenn es gar nicht geht, gebe ich auf. Dann zeige ich stumm auf das Kürbiskernbrot. Oder ich sage: »Ich hätte gern ein Sonnenblumenkernbrot.« Sonnenblumenkernbrot finde ich okay, Kürbiskernbrot esse ich aber lieber. Verstehen Sie?
Ich habe mich natürlich oft gefragt, warum ich stottere. Aber es gibt keine abschließende Erklärung, weder für mich noch für irgendjemand anderen. Die Wissenschaft versucht Stottern schon ewig zu ergründen, das Phänomen ist seit Jahrhunderten bekannt. Wenn man will, kann man Hinweise darauf sogar im Alten Testament finden. Als Gott Moses befiehlt, zu seinem Volk zu sprechen, sagt der: »Ich bin von jeher nicht beredt gewesen. […] Denn ich habe eine schwere Sprache und eine schwere Zunge.«
Menschen auf der ganzen Welt stottern, quer durch alle Kulturen und Schichten. Rund fünf Prozent aller Kinder stottern, aber nur noch ein Prozent der Erwachsenen. Bis zur Pubertät verlieren vor allem viele Mädchen ihr Stottern von selbst, sodass achtzig Prozent der erwachsenen Stotterer Männer sind. Warum? Niemand weiß es. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen sind zu völlig unterschiedlichen Erklärungen gekommen. Mal wurde die Zunge als Verursacher ausgemacht und mit schaurigen Sprechapparaturen und Operationen bekämpft. Psychoanalytiker machten familiäre Probleme verantwortlich, heute glauben Neurophysiologen, die Ursache in Anomalien der linken Gehirnhälfte gefunden zu haben. Stottern ist anscheinend auch genetisch bedingt und bis zu einem gewissen Grad erblich. Mein Opa hat gestottert, leider habe ich ihn nie kennengelernt. Ich hätte mich gern mit ihm darüber unterhalten.
Das Verrückte an meinem Stottern ist, dass es kaum vorher-zusehen ist. In der Schule habe ich manchmal heftig gestottert, wenn ich vor der Klasse etwas sagen musste, in der Pause mit den Kumpels war alles bestens. Ein paar Monate später war es genau umgekehrt: Ich konnte ganze Aufsätze ohne Stocken vorlesen, dafür ließen mich alltägliche Situationen verzweifeln. Als Kind war ich einmal für meine Mutter im Supermarkt, um Preiselbeeren zu kaufen. Aber ich konnte die Dinger nicht finden. Mit jeder Runde durch das Geschäft wurde ich hektischer, und als ich mich schließlich doch traute, einen Verkäufer zu fragen, bekam ich keinen Ton raus. Ich konnte auch auf nichts zeigen. Als ich weinend und mit leeren Händen nach Hause kam, beschloss ich, es sei wesentlich einfacher, gar nicht mehr zu sprechen, nie mehr. Mein Gelübde hielt dann zwar nur einen Nachmittag, aber die Hilflosigkeit, die ich in diesem Moment spürte, habe ich nicht vergessen.
Natürlich habe ich Therapien gemacht. Als Kind sollte ich beim Sprechen Kreise auf ein Blatt Papier malen und im Rhythmus meiner Handbewegung sprechen. Ein paar Wochen lang war ich bei einer Psychiaterin, aber ich fand sie so unsympathisch, dass mein Stottern eher schlimmer wurde. Mit 13 Jahren dachte ich sogar einmal, ich hätte meine Sprache im Griff. Vorher war ich mit einer Logopädin tagelang durch Kaufhäuser gelaufen, um die Angst vor dem Sprechen zu ver-lieren. Überall fragten wir nach dem Weg zu den Toiletten oder der Lebensmittelabteilung. Das half mir unheimlich. Aber wenig später, nach dem Ende der Therapie, war das Stottern wieder da. Ich muss immer wieder neu erlernen, flüssig zu sprechen. Wenn ich dann ein paar Wochen nicht daran denke, entgleitet mir diese Fähigkeit.
Als Stotterer habe ich mir den denkbar blödesten Beruf ausgesucht: Ich bin Journalist und muss oft wildfremden Leuten mit Fragen auf die Nerven gehen. Aber es klappt, ich bekomme das hin. Auch in Vorstellungs-gesprächen und Prüfungen kam ich bisher erstaunlich gut zurecht. Vor der Aufnahmekommission an der Journalistenschule habe ich zu meiner eigenen Überraschung entspannt über die Irak-Politik geplaudert, trotz des Drucks. Im Großen hat mich mein Stottern also nie eingeschränkt, ich habe eine wundervolle Freundin, ich bin glücklich. Im Kleinen aber macht das Stottern den Alltag anstrengend. Noch immer tigere ich manchmal minutenlang durch einen Laden, weil ich niemanden fragen will, wo das D--------uschgel steht.
Beim Stottern, so viel weiß ich inzwischen, gebe ich viel von mir preis. Meine Nervosität, meine Unsicherheit. Aber auch: meine Begeisterung, meinen Humor, meine Gefühle für jemanden. Ich stottere oft, wenn ich »Berlin« sage, weil ich meine Stadt liebe. Oder wenn ich »Journalist« sage, weil ich stolz auf meinen Beruf bin. Eine Grundregel: Wenn Gefühle im Spiel sind, wird es schwer. Ich spiele dann sozusagen mit offenen Karten. Ich kann mich schlecht streiten, weil mein Ärger dann meine Sprache blockiert. Und fast nichts ist so kompliziert für mich, wie einen wirklichen guten Witz zu erzählen. Wenn ich zwei bis drei Bier getrunken habe, fällt mir das Sprechen oft leichter, das geht vielen Stotterern so. Aber ich kann ja schlecht morgens mit dem Trinken anfangen, nur weil ich mittags ein Kürbiskernbrot kaufen will.
Erst jetzt verstehe ich langsam, was die Gründe für mein Stottern sind. Ob ich stottere, hängt zum Beispiel davon ab, ob mein Zwerchfell entspannt ist, ob es mir gelingt, tief in den Bauch zu atmen. Ist das Zusammenspiel von Einatmen und Ausatmen harmonisch? Ist meine Zungenspitze oben am Rachen, kurz hinter den Zähnen, genau an dem kleinen Punkt, an dem ich das »L« anschlagen muss, um meinen Vornamen zu sagen? All das ist wichtig und hilft mir vielleicht, eine Blockade zu vermeiden. Es hängt aber auch sehr viel davon ab, ob mir die Person, mit der ich rede, etwas bedeutet. Ob ich sie ewig kenne oder gerade zum ersten Mal in meinem Leben sehe. Ob ich sie liebe oder Angst vor ihr habe. Dinge, die unausgesprochen im Raum stehen, schlagen schnell auf meine Stimmung – und meine Sprache.
Um meinem Stottern auf den Grund zu gehen, ist eine Frage entscheidend: Wie geht’s mir? Die Frage klingt einfach, ist aber unendlich kompliziert. Um weniger zu stottern, so viel habe ich herausgefunden, muss ich mich besser kennenlernen. Wenn ich weiß: Jetzt wird es gleich kompliziert, weil es an deine Gefühle geht, kann ich besser damit umgehen und manchmal das Stottern vermeiden. Aber weil ich es in der Vergangenheit gescheut habe, mich mit meinem Stottern auseinanderzusetzen, kostet es mich ziemliche Überwindung, tief in mich hineinzuschauen. Wer beschäftigt sich schon gern mit seinen Ängsten, seinen Schwächen? Doch wenn ich mir über meine Gefühle im Klaren bin, ist meine Chance, flüssig zu sprechen, wesentlich größer. Irgendwie bahnt sich das Innere den Weg nach außen, da kann man nichts machen.
Von anderen habe ich eigentlich nie negative Reaktionen auf mein Stottern bekommen, ich wurde nie gehänselt oder ausgelacht. Im Gegenteil: Oft will mir ein Gesprächspartner helfen, indem er ein Wort, an dem ich hängen bleibe, für mich zu Ende spricht. Die meisten Menschen sind sehr geduldig, was Stottern angeht. Das Problem bin ich selbst. Ich bin ziemlich ehrgeizig. Wenn ich mir etwas vornehme, will ich es auch schaffen. Dieser Teil von mir kann es nicht leiden, die Kontrolle zu verlieren. Ich liebe es, mit Wörtern zu spielen und Gedanken auf den Punkt zu bringen. Wenn ich das nicht hinbekomme und einen Satz umbauen muss, ist es jedes Mal eine Niederlage für mich. Wenn ich also stottere, sind meine Gedanken und Gefühle oft sehr negativ.
Von meinem Stottern lerne ich, nicht so streng mit mir zu sein, sondern Rücksicht auf meine Gefühle und Bedürfnisse zu nehmen. Logopäden haben mir immer geraten: Du musst das Stottern als Teil von dir akzeptieren. Jahrelang habe ich gesagt: »Klar, mache ich. Mein Stottern ist mein bester Kumpel.« Das war natürlich Blödsinn, eigentlich hasse ich es. Aber inzwischen habe ich gelernt, dass mein Stottern etwas über mich aussagt und eine Hilfe für mich sein kann. Es ist eine Aufforderung, in mich hineinzuhorchen und herauszufinden, ob mich etwas stört und was das sein könnte. Mein Logopäde – ich habe inzwischen einen gefunden, dem ich vertraue – nennt das »Bei-sich-Sein«. Ich arbeite daran, das noch besser zu verstehen. Das Stottern ist nicht mein Feind und auch keine dunkle Seite, die ich verstecken muss. Es ist eine Art Spiegel, an dem ich ablesen kann, wie es mir geht. Oft macht es mir keinen Spaß, in diesen Spiegel zu schauen. Aber wenigstens akzeptiere ich inzwischen, dass er da ist. Und da bleiben wird.
Foto: Fabian Zapatka