Andy, 14 Jahre alt, hat ein Problem. Seine Freundin und er möchten Analsex machen. Aber es klappt nicht. »Jedes Mal, wenn ich meinen Penis reinstecken will, zuckt sie oder weint fast.« Da beide gehört haben, dass Analverkehr »total geil« sein soll, wollen sie ihr Treiben jedoch auch nicht einstellen, und so wendete sich Andy im Herbst Hilfe suchend an das Dr.-Sommer-Team der Jugendzeitschrift Bravo, wo man ihm empfahl: »Seid vernünftig und hört endlich mit dem Unsinn auf.
«Ob die beiden Kinder diesem Rat folgen? Das kulturelle Klima unserer Zeit sendet andere Signale. Der Analsex zwischen Mann und Frau hat die dunkle Gegenwelt der Pornografie verlassen, wo er in den Neunzigerjahren zur Ultima Ratio der sexuellen Inszenierung wurde, und ist in die Realwelt eingedrungen. Seine Vorzüge wurden in TV-Serien wie Sex and The City diskutiert und in den Underground-Hits des Porno-Rap angepriesen. Die detaillierte Beschreibung des Analverkehrs bestimmt von Anfang an den Ton von Charlotte Roches Bestseller Feuchtgebiete, und das zweite Skandalbuch der letzten Zeit, Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten, schockt unter anderem durch die Verbindung von Analerotik und Nazi-Brutalität.
Das Wort »Arschficker«, einst ein derber Fluch, wurde im Jugendslang positiv umgewertet. Schließlich fand der Analsex sogar den Weg in die Ratgeber-Kolumnen der Frauen-magazine; selbst in der keineswegs total versexten Brigitte war bereits zu lesen, wie »unglaublich intensiv und reizvoll« die anale Penetration doch sei.
Die Hinwendung zum Hintern findet jedoch nicht nur in der Fantasie von Schriftstellern und Sex-Kolumnistinnen statt. Wie aktuelle Umfragen zeigen, ist Analsex bei deutschen Paaren üblicher, als man vielleicht denken würde. Die Zeitschrift Neon befragte Männer und Frauen zwischen 20 und 35; davon hatten 47 Prozent der Männer und 57 Prozent der Frauen bereits Analsex ausprobiert. Bei der »Sexstudie 2008«, im Auftrag von ProSieben von renommierten Sexualforschern durchgeführt, bekannten sich 46 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen dazu, also fast jeder Zweite.
In Ermangelung älterer Vergleichsstudien lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, ob diese Zahlen tatsächlich einen massiven Anstieg bedeuten. Trotzdem glaubt keiner der Forscher, dass Analverkehr früher genauso verbreitet war wie heute. »Ich bin relativ sicher, dass die Menschen heute mehr Analsex machen als früher«, sagt Ulrike Brandenburg, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. »Meines Erachtens beobachten wir gerade die vorsichtige Integration der Analregion in die akzeptierten erotischen Zonen.« Diese Beobachtung wird von einer anderen Gruppe von Expertinnen bestätigt: Prostituierte berichten in Interviews, dass der Analverkehr, einst eine exotische Praktik, inzwischen zum Standardrepertoire der sexuellen Dienstleistung gehöre und von zahlreichen Männern verlangt werde.
Die neue Lust auf Analverkehr ist auch in unserer von einer sexuellen Überbietungsdynamik geprägten Epoche ein einschneidendes Ereignis. Vor einer Generation war es noch skandalös, nackte Brüste zu zeigen; inzwischen geht es ums »Kommen, obwohl der Schwanz nur in meinem Arsch steckt und sonst nix berührt wird« (Charlotte Roche, Feuchtgebiete, Seite 2).
Diese Entwicklung sagt nicht nur einiges über Tabus und deren Verschwinden aus, sie spiegelt auch den sexuellen Großtrend unserer Zeit: die Trennung von Sex und Fortpflanzung. Die Popularität des Analverkehrs, der in konservativen Gesellschaften von jeher eine Methode der Empfängnisverhütung war, erscheint als Vorbote einer neuen Welt, in der die Kinder im Reagenzglas entstehen und der Körper in Gänze zur Lustmaschine wird, die man mit ausgefeilten Techniken immer stärker auf Touren bringt. Die Grundfrage dabei: Ist der Hang zum Analverkehr also einfach der nächste, vielleicht sogar einer der letzten Schritte auf dem Weg zu einer wahrhaft freien, selbstbestimmten Sexualität? Oder handelt es sich um eine fragwürdige Entwicklung, bei der wir, die Rollenmuster des Pornofilms reproduzierend, die Sexualität zum Schauplatz von Leistungsdenken und Dominanzfantasien machen?
Nicht nur Briefe wie der des 14-jährigen Andy deuten darauf hin, dass manche Jugendlichen sich nicht selbstständig für den Analverkehr entscheiden. Der Sexualforscher Jakob Pastötter berichtet von einer Beobachtung, die deutsche Sexualberater gemacht haben: Während sich vor 15 Jahren männliche Jugendliche danach erkundigt hätten, wie sie ihre Freundin vom Analsex »überzeugen« könnten, kämen seit einigen Jahren Mädchen mit einem ganz neuen Wunsch. »Die fragen nach Medikamenten, um Analsex schmerzfrei und ohne anschließendes Unterbauchleiden erleben zu können«, sagt der Forscher. »Offensichtlich hat der Druck zugenommen, diese Sexualpraktik nicht nur auszuprobieren, sondern öfter durchzuführen.«
Andererseits gibt es viele Anzeichen dafür, dass solche Fälle ein Minderheitenphänomen sind. Zahlreiche Studien belegen, dass Paare heute mehr miteinander über Sex reden als früher, dass sie partnerschaftlich und selbstbestimmt entscheiden, was sie im Bett miteinander anstellen.
Das scheint auch für den Analverkehr zu gelten, der laut »Sexstudie 2008« von der überwiegenden Zahl der Paare keineswegs sorglos oder zwanghaft betrieben wird. »Wer in der Studie angab, Erfahrungen mit Analverkehr zu haben«, erläutert Jakob Pastötter, »hatte diese im Durchschnitt mit nur einer einzigen Person. Hier bestätigt sich die Vermutung, dass es für Analsex vor allem Vertrauen als Basis braucht.« In diesem Licht erscheint Analsex nicht als grimmige Pornofantasie, sondern im Gegenteil als ein Gemeinschaftserlebnis von besonderer Innigkeit, verantwortlich für krönende Momente des Liebeslebens.
Der Anus ist eine besonders empfindliche Körperregion, im Schmerz genauso wie in der Lust. Diese Sensibilität hängt mit der großen Anzahl von Nervenenden zusammen, die dort zu finden ist und die Analregion, biologisch betrachtet, als erogene Zone ausweist. Bei einem Mann, der anal penetriert wird, wirkt zudem die Stimulation der Prostata luststeigernd. So mag man zwar weltanschauliche Einwände haben gegen die sexuelle Verwendung des »unrechtmäßigen Gefäßes«, wie man früher sagte; in der Funktionslogik des menschlichen Körpers ist der Analverkehr jedoch angelegt.
Nun hat der Anus aber bekanntlich noch eine zweite, sogar etwas wichtigere Funktion. Wer heute Unbehagen beim Thema empfindet, dürfte Analsex in der Regel nicht mehr als Sünde ansehen, sondern sich einfach davor ekeln, den Ausscheidungsbereich erotisch zu benutzen. Das ist verständlich – und doch könnte gerade die Unsauberkeit des Anus indirekt für seine Beliebtheit verantwortlich sein. »Wir haben Mühe, in unserer zivilisierten, sexuell gezähmten Welt überhaupt noch etwas wie Spannung zu finden, einen Kick, einen Schimmer von Unanständigkeit«, sagt die Forscherin Ulrike Brandenburg. »Für viele gehört das aber zum Sex dazu.« So hat die Popularität des Analverkehrs letztlich wohl den naheliegendsten Grund: Die Menschen wollen, dass ihr Liebesleben schmutzig bleibt.