Paul Gaugin, Verlust der Jungfräulichkeit; gemalt, 120 Jahre bevor Charlotte Roche Feuchtgebiete schrieb.
Von Paul Gauguin gibt es ein Bild, da liegt eine Frau auf dem Rücken mitten in einer Landschaft aus dunklem Gras und roten Felsen. Die Frau hat lange Haare, die Augen sind geschlossen, auf einem Finger sitzt ein Vogel, über ihre Schulter beugt sich ein Hund, der die Frau mit sehr gelben Augen ansieht und eine Pfote zwischen ihre Brüste gelegt hat. Die Frau ist nackt, ihr weißer Körper scheint fast aus dem Bild herauszutreten, die Augen des Betrachters gleiten von ihren Brüsten über die Scham und die Schenkel zu ihren Füßen, die übereinander gepresst sind, was gar nicht zur Ruhe der restlichen Figur passt.
Wenn die Augen weiterwandern, sieht man oberhalb der Zehen, in deutlicher Entfernung, aber die Frau fest im Blick, eine Gruppe von Menschen, ein Kind ist dabei und eine dickliche Frau, die die Hände in die Hüften stemmt. Verlust der Jungfräulichkeit heißt Gauguins Bild, das er malte etwa 120 Jahre bevor Charlotte Roche ihr Buch Feuchtgebiete schrieb. Auch wenn ein paar Leute vielleicht etwas anderes behaupten: Es gab 2008 keine Sex-Debatte, und es wird auch 2009 keine Sex-Debatte geben. In gewisser Weise ist das gut so, denn nichts ist übler und überflüssiger als öffentliche Debatten über etwas, was so privat ist und so offensichtlich und so kompliziert und so anfällig für Manipulation, Moralisieren und Machtkämpfe.
Andererseits ist es schade, weil das gesellschaftliche Reden über Sex bei uns sehr verkommen ist und es an der Zeit wäre, eine angemessene Sprache für das zu finden, was die Menschen, angeblich, mehr fasziniert als so ziemlich alles andere. Feuchtgebiete ist das beste Beispiel für dieses Dilemma: Alle redeten, aber keiner sagte etwas. Es brach aus den Leuten heraus, dass man den Eindruck hatte, es gehe um etwas anderes als Achselhaare und Analverkehr. Es war unklar, ob die Leute über ein Buch redeten oder über ihr eigenes Leben. Und 60-Jährige versuchten, ihre Jugend zu retten, indem sie lächelnd sagten: So schmutzig waren wir doch auch.
Die aggressiven und im Grunde nur verunsicherten Reaktionen machten dabei vor allem eines deutlich: Natürlich funktioniert Sex immer noch – und zwar als Mantra, als soziales Werkzeug, als vermeintlicher Schlüssel zu einer verborgenen Wahrheit. Sex wird überhöht, weil Sex Erkenntnis verspricht: Was treibt uns an, was wollen wir, wer sind wir? Sex, so ist die allgemeine Vermutung, zeigt uns nackt in mehr als einem Sinn. Sex lässt uns auf den Grund unseres Wesens blicken. Wer den Sex versteht, versteht den Menschen und ihn steuern, benutzen, brechen.
Dieses Denken prägt etwa die katholische Kirche, die den Menschen nicht an die Begierde verlieren will und mit der Angst vor Sex Politik macht. Dieses Denken steckt aber auch in dem Briefroman Gefährliche Liebschaften, den Pierre Choderlos de Laclos 1782 veröffentlichte und mit dem die Aufklärung auch die Sexualität erreichte – ein Wortspiel übrigens, das nur auf Deutsch funktioniert, wo »Aufklärung« zugleich die Morgendämmerung der Vernunft wie auch das erotische Erwachen der Jugend bezeichnet.
Sex also als Schlüssel zum Selbst: Es war dann Sigmund Freud, der aus dem Sex für das 20. Jahrhundert so etwas wie eine überpersönliche Dimension ziehen wollte, der den Sex in diesem ideologischen Jahrhundert in den Rang fast einer Glaubensrichtung erhob, indem er die Triebe des Einzelnen mit der Moral der vielen verband. Auch wenn Freud das nicht wollte: Erst durch seine Theorie hat Sex die dogmatische Funktion als gesellschaftlicher Gradmesser bekommen.
Gauguin, und das macht sein Bild so interessant, balanciert schön auf der Schwelle von Befreiung und Einsamkeit, von Entrückung und Traurigkeit, von Moral und Unschuld. Sein Bild zeigt den Versuch, am Ende des 19. Jahrhunderts im Sex eine Romantik zu retten, die dem restlichen Leben verloren gegangen ist. Gauguin war ein Hippie seiner Zeit, weil er an die Befreiung im Sex glaubte, noch so ein Irrglaube, der sich mit dieser transzendenzfreien Religion verbindet. Vor allem eine Frage stellt sich allerdings, wenn man seine postkoitale Frau so ansieht: Wo ist eigentlich der Mann geblieben?
Foto: akg-images/Erich Lessing