Land unter

Der Staat am Boden, die Politik korrupt, die Wirtschaft in den letzten Zügen. Und der Einzige, der die Macht hätte, daran etwas zu ändern, ist der Regierungschef. Aber den interessiert nur sein Geld. Italien, was hast du bloß aus dir gemacht?

Manchen Politiker verfolgt ein einziger dummer Spruch sein Leben lang. Bei Silvio Berlusconi aber tut man sich schon schwer, nur die jeweils letzten Entgleisungen im Kopf zu behalten. Über das Flüchtlingslager auf der Insel Lampedusa und die unwürdigen Lebensbedingungen dort sagte er kürzlich, es sei »kein Konzentrationslager«, die Insassen könnten »jederzeit auf ein Bier gehen«. Zum Thema Vergewaltigungen meinte er, sie zu verhindern sei in Italien im Prinzip unmöglich, »weil unsere Frauen so schön sind«. Und nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen nannte er Barack Obama »sonnengebräunt«.

Das sind die Sprüche eines Industriemagnaten, der es gewohnt ist, von Untergebenen und Lakaien umgeben zu sein, die automatisch über jeden noch so dummen Witz lachen. Eines Mannes, der eine solche Macht besitzt, dass er nicht mehr zwischen privatem und öffentlichem Verhalten unterscheidet, der sich überall benimmt wie an seinem eigenen Esstisch, wo auch ein taktloser Witz garantiert Gelächter hervorruft. Und Berlusconi ist so sehr an die handzahme italienische Presselandschaft gewöhnt, dass es ihn überrascht, wenn internationale Medien ihm nicht mit ähnlicher Unterwürfigkeit begegnen. Es ist eines der seltsamsten und ungewöhnlichsten politischen Phänomene unserer Tage: Seit 14 Jahren wird Italien nahezu durchgehend von einem launenhaften Milliardär regiert, der in 17 Strafprozessen vor Gericht stand und dennoch eine enorme Mehrheit im Volk hinter sich weiß. Berlusconi mag im Ausland vielleicht als Witzfigur wahrgenommen werden, seine Beliebtheit im eigenen Land wird jedoch nur noch von seiner eigenen Selbstverliebtheit übertroffen.

Deswegen konnte er seit seinem ersten Erscheinen auf der politischen Bühne im Jahr 1993 immer wieder Wahlen gewinnen, obwohl Italien im gleichen Zeitraum einen dramatischen Niedergang erlebte: Aus einer der größten europäischen Erfolgsgeschichten wurde eine der schwächsten Volkswirtschaften auf dem Kontinent.

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Die Tatsache, dass Italien Berlusconi und seine Mätzchen nicht nur akzeptiert, sondern gutheißt, ist ein Symptom für ein krisengeschütteltes Land mit stagnierender Wirtschaft. Ein Land, paralysiert und zutiefst frustriert, fest im Griff einiger weniger Interessengruppen und weder in der Lage noch willens irgendetwas daran zu ändern. Ein Land, dessen Volk seine politische Klasse im Grunde verabscheut und deshalb den Mann wählt, der wenigstens nicht verhehlt, dass es ihm vor allem um den eigenen Vorteil geht.

Noch 2006 galt dieser Berlusconi auch in Italien als das größte Problem Italiens. Seine unzähligen krummen Geschäfte und seine Interessenkonflikte als Italiens reichster Mann, größter Medieneigentümer, berühmtester Angeklagter und Ministerpräsident ließen das Land bewegungsunfähig werden und verursachten nahezu ein wirtschaftliches Nullwachstum.

Viele Wähler dachten, wenn Berlusconi erst weg sei, käme das Land wieder in Schwung. Aber die Regierung von Romano Prodi, eine fragile Neun-Parteien-Koalition mit einer winzigen Mehrheit von einer Stimme im italienischen Senat, fuhr nicht viel besser: Als sie Marktreformen einführen wollte, rebellierte die mit im Regierungsboot sitzende kommunistische Linke. Bei anderen Gesetzesvorlagen, wie der Anerkennung homosexueller Partnerschaften, meuterte ein anderer Teil der Koalition: die rechte Fraktion der Katholiken.

Eine der wenigen Vorlagen, die durchgingen, war eine allgemeine Amnestie für Verbrecher, die von Berlusconi forciert wurde und die so gestrickt war, dass sie Berlusconis leitenden Firmenanwalt Cesare Previti vor einer Haftstrafe wegen Bestechung eines Richters bewahren sollte. Wenig später ärgerte sich die italienische Öffentlichkeit über 260 00 freigelassene Kriminelle, darunter etliche, die sich schnell wieder auf Diebstähle, Vergewaltigungen und Morde verlegten, wohingegen eine Meute von Wirtschaftsverbrechern, unter ihnen auch Previti, sich zu Hause ihrer unrechtmäßig erworbenen Gewinne erfreuen konnten.

Unter Prodi setzte die Wirtschaft außerdem ihre Talfahrt fort und vollbrachte 2006 und 2007 zwei weitere Jahre Nullwachstum. Zur gleichen Zeit türmten sich der Hausmüll und der Giftmüll in und um Neapel zu Bergen. Und trotz dieser Probleme traten die Parteien der Mitte-Links-Koalition in der Öffentlichkeit vor allem zankend in Erscheinung. So sahen die Wähler kaum mehr einen Unterschied zwischen Linken und Rechten und betrachteten die politische Elite zur Gänze als eine Kaste, die sich – bei außer-ordentlichen Privilegien und überzogenen Honoraren – vor allem um ihre Selbsterhaltung kümmerte.


(Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche Informationen Abhörprotokolle über Berlusconis Machenschaften preisgaben.)

Und Berlusconi war eben einer von ihnen, das nahmen die Wähler hin und ließen sich auch von einem nächsten Berlusconi-Skandal im Vorfeld der Wahlen 2008 nicht weiter stören: Ende 2007 wurde Berlusconi von der Staatsanwaltschaft in Neapel beschuldigt, Agostino Saccà bestochen zu haben, einen Beamten und Chef der Filmabteilung des italienischen Staatssenders RAI.

In Abhörprotokollen, die vom Nachrichtenmagazin L’Espresso ins Internet gestellt wurden, konnte man Berlusconi dabei zuhören, wie er den Staatssender zu einer Art »Besetzungscouch« umfunktionierte. So bat er Saccà, Rollen für hübsche junge Schauspielerinnen zu organisieren, die Berlusconi in einem der Protokolle als le fanciulle mie (meine Mädels) bezeichnete. In manchen Fällen diente dies nur zur »Aufheiterung des Chefs« (also Berlusconi), in einem speziellen Fall erklärte Berlusconi Saccà, dass er ein Rollenangebot für eine Schauspielerin brauche, die mit einem Senator der Prodi-Regierung verbandelt sei. Er wolle, wie er sagte, dem Senator Anreize liefern, das Lager zu wechseln und den Sturz der Regierung Prodi zu forcieren.

Doch während die italienische Öffentlichkeit die schweren Straftaten, die Berlusconi in diesem Fall zur Last gelegt wurden – immerhin Beamtenbestechung zum Zwecke eines Regierungssturzes – fast teilnahmslos aufnahm, entstand urplötzlich eine enorme Aufregung über einen möglichen Sexskandal, als Gerüchte um weitere Abhörprotokolle zu kursieren begannen, die Berlusconi und gleich drei ungewöhnlich attraktive Frauen in seinem Kabinett betrafen.

Je nach politischem Lager klangen die Gerüchte anders: Berlusconis Gegner favorisierten das Bild eines siebzigjährigen Tattergreises mit einem Hang zu Penispumpen und Viagra; seine Anhänger feierten ihn als unermüdlichen Don Juan, der in der Lage ist, zwei oder drei Frauen gleichzeitig zu befriedigen.

In diesen Gerüchten spielte auch die Ministerin für Gleichstellungsfragen eine wichtige Rolle: Mara Carfagna, eine 33-jährige ehemalige Kandidatin bei der Wahl zur Miss Italia, die als Co-Moderatorin Karriere in Berlusconis Sendergruppe gemacht hatte und lange Zeit vor allem in ultraknappen Röckchen und tief ausgeschnittenen Blusen zu sehen war. Die italienische Komikerin Sabina Guzzanti merkte bei einer großen Protestveranstaltung im Juli in Rom zum Thema Carfagna an: »Man kann doch niemanden zur Ministerin für Gleichstellungsfragen ernennen, nur weil sie einem den Schwanz gelutscht hat!« Die Ministerin streitet jedwede persönliche Beziehung zu Berlusconi ab und hat Guzzanti wegen Rufmordes angezeigt.

Zu Berlusconi quasi-monarchischem Verständnis passt es, dass er 2006 ein neues Wahlrecht verabschiedet hat, das den Parteivorsitzenden nahezu uneingeschränkte Macht bei der Auswahl der Parlamentskandidaten einräumt. Früher konnten die Wähler sich für einzelne Kandidaten entscheiden, unter der neuen Regelung können die Wähler nur noch für eine Partei stimmen, und die Parteichefs stellen die Wahllisten auf. Das hat zur Folge, dass Berlusconi nach Belieben Leute ins Parlament beruft, die entweder persönliche Freunde, Angestellte oder wenigstens hübsch anzusehen sind. So hat Berlusconi eine ganze Reihe ehemaliger Starlets, die in seinem TV-Imperium zu Ruhm gekommen sind, im Parlament wie auch in seinem Kabinett etabliert. Und ist sogar noch stolz darauf: »Ich bin wie die gute Fee: Sie waren Mäuschen und ich verwandelte sie in Parlamentarier.«

Der ernste Hintergrund von Berlusconis Art der Parlamentsbesetzung ist, dass Berlusconi gerade versucht, die Rolle des italienischen Parlaments auf eine weitestgehend zeremonielle Funktion zu reduzieren. Jüngst beantragte er, dass sich nur die Vorsitzenden der jeweiligen Parteien die Mühe machen sollten, im Parlament abzustimmen. Damit wäre der politische Wert der 500 anderen Abgeordneten nur noch rein rituell zu verstehen. »Wir bewegen uns auf eine Art südamerikanisches Modell der Demokratie zu«, meint dazu Bruno Tabacci, ein ehemaliger Christdemokrat.

Und wie das dann aussehen könnte, lässt sich schon jetzt besichtigen: Zu Beginn der Legislaturperiode 2008 hielt ein Fotograf mit seinem Teleobjektiv eine auf ein Stück Papier gekritzelte Botschaft von Berlusconi fest, gerichtet an zwei hübsche, junge, weibliche Abgeordnete, Gabriella Giammanco und Nunzia de Girolamo:
»Gabri, Nunzia, ihr gebt ein tolles Paar ab! Danke, dass ihr hierbleibt, aber das ist gar nicht nötig. Solltet ihr eine Einladung zu einem romantischen Mittagessen haben, gestatte ich euch gern, euch zu entfernen! Seid beide oftmals geküsst!! ›Euer‹ Präsident.«

Der Fotograf fing auch noch den Anfang der Zettel-Replik ein:
»Lieber Präsident, romantische Einladungen nehmen wir nur von Ihnen an…«

Dass nichts davon der italienischen Öffentlichkeit Kopfschmerzen bereitet, sagt einiges über das Politikverständnis der Italiener, über Berlusconis Medienmacht, aber ebenso über die zersplitterte und nahezu aufgelöste Mitte-Links-Opposition, mit der es Berlusconi zu tun hat. Auch aufgrund einer fehlenden Alternative räumt eine Mehrheit des italienischen Volkes dem als stark und zielstrebig empfundenen Berlusconi nur allzu gern eine außerordentliche Machtfülle ein, die dieser – sein Macher-Image wiederum befördernd – ebenso gern nutzt:

So strich er 2008 umgehend die Vermögenssteuern, die auf den Hauptwohnsitz in Italien gezahlt werden, und obwohl diese Einkünfte nun durch andere Steuern wieder wettgemacht werden müssen, war der Schritt höchst populär. Durch rasches Hinzuziehen der Armee beseitigte er außerdem den Abfall auf den Straßen Neapels und behauptete im Anschluss, die Stadt in nur 58 Tagen wieder der westlichen Welt zugänglich gemacht zu haben. Damit hatte er die Italiener auf seiner Seite.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie schlecht es wirklich um die italienische Wirtschaft bestellt ist.)

Tatsache bleibt aber: Italien ist während der vergangenen 14 Jahre, in denen Berlusconi die italienische Politik bestimmte, dramatisch abgestürzt. Mehr als 40 Jahre lang, vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis etwa 1990, galt Italiens Wirtschaft als eine der erfolgreichsten der Welt – in einem Atemzug genannt mit Japan und Westdeutschland. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wuchs sie durchschnittlich um etwa fünf Prozent, in den Siebziger- und Achtzigerjahren noch um solide drei Prozent, was in einem Land, das lange Jahre Mühsal und Not gewohnt war, für Wohlstand, Bildung und einen großzügigen Sozialstaat sorgte.

Für Studenten zeitgenössischer Politik stellte Italien ein faszinierendes Paradoxon dar: Einerseits schien das Land ein entsetzliches politisches System zu besitzen – andauernd gaben sich Regierungen die Klinke in die Hand, Skandale und Regierungskrisen grassierten und dazu ein hohes Maß an Korruption in einem verschwenderischen, ineffizienten Beamtenapparat; und dennoch wuchs die Wirtschaft Jahr für Jahr weiter. Bis zirka 1989 hatte Italien ein etwa gleich hohes Bruttoinlandsprodukt wie Großbritannien.

Doch in den letzten 15 Jahren ging die ungewöhnliche italienische Gleichung – Korruption und Sand im Getriebe plus hohes Wirtschaftswachstum – nicht mehr auf. Italiens Bruttoinlandsprodukt nahm zwischen 1996 und 2006 um durchschnittlich 1,1 Prozent pro Jahr zu, im Vergleich zu den 2,3 Prozent in Großbritannien, den 2,8 Prozent in Spanien und den 1,7 Prozent im gesamten Euro-Gebiet. Mit der Folge, dass Italiens Wirtschaftsrate nun um zwanzig Prozent geringer ausfällt als die Großbritanniens und Italien auch von Spanien überholt wurde.

Das italienische System, das in der Ära geschützter Märkte einigermaßen funktionierte, ist im Zeitalter der EU, der Einheitswährung und des intensiven Wettbewerbs mit Niedriglohnländern in Asien schwer ramponiert worden. So kostet eine Firmengründung in Italien im Durchschnitt 5012 Euro und es dauert 62 Tage, bis die 16 verschiedenen bürokratischen Hürden bewältigt sind. Zum Vergleich: In Großbritannien sind es 381 Euro, vier Tage und fünf Verwaltungsvorgänge, in den USA 167 Euro, vier Tage und vier solcher Vorgänge.

Der Sand im Getriebe knirscht nun in nahezu allen Bereichen des italienischen Alltags, auf eine Weise, die einen unfassbar negativen Synergieeffekt mit sich bringt. Zum Beispiel gefährdet die Lähmung des Justizsystems das Rechtsstaatsprinzip, einen der Grundpfeiler eines funktionierenden Wirtschaftssystems. Die durchschnittliche Dauer eines Verfahrens bei Vertragsbruch liegt in Italien bei 1210 Tagen (fast vier Jahren), in Spanien (dem zweitschlimmsten Land in dieser Hinsicht) sind es 515, also nicht einmal halb so viele, in Frankreich 331 und in Großbritannien nur 217 Tage. In Italien dauert es unvorstellbare neunzig Monate, fast acht Jahre, das Haus eines säumigen Zahlers zwangsversteigern zu lassen. In Großbritannien braucht man dazu zehn Monate, in Frankreich 17 und in Dänemark sechs Monate.

Ein derart schwerfälliges System mag einem wie heller Wahnsinn vorkommen, aber dahinter steckt Methode: Es wurde mit Absicht so gestaltet, um seine Mitwirkenden unentbehrlich zu machen. Die Vervielfachung der Verwaltungsvorgänge, Genehmigungsverfahren, Regularien und bürokratischen Engstellen schafft eine extrem hohe Zahl an Hebeln, mit denen die Regierung ein Projekt kontrollieren, verzögern, beerdigen oder vorantreiben kann.

Jeder dieser Schritte ist eine Gelegenheit zur Machtausübung und Vetternwirtschaft, zur Bewilligung und Einforderung von Gefälligkeiten. Eine autostrada, deren Baukosten sich verdoppeln, hat große Vorteile – nicht nur für die Politiker, die dafür Provisionen einstreichen, sondern auch für alle, die daran arbeiten. Klar: Für den Rest des Landes bringt so etwas nur Nachteile. Dort muss man sich mit zweitrangiger Infrastruktur, hohen Steuern, miesem Service und einem System herumplagen, das zum genauen Gegenteil einer Leistungsgesellschaft verkommen ist. Es überrascht dann auch nicht weiter, dass Italien auf dem Global Competitiveness Index, dem Index für weltwirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit, vom 32. auf den 64. Platz abgerutscht ist.

Unfassbarerweise hat Berlusconi sich dennoch beim italienischen Volk in seinen 14 Jahren eine Art Wundertäter-Image zugelegt. In einem Interview Anfang 2008 maulte er halb darüber, halb protzte er damit, dass er wie ein Rockstar oder König behandelt werde, dessen Berührung Heilkräfte zugeschrieben würden. »Schwangere Mütter bitten mich, ihnen die Hand auf den Bauch zu legen. Anderen soll ich die Augen berühren, weil sie schlecht sehen… manchen – man stelle sich das nur vor – den Kopf, weil sie eine Glatze bekommen. Aber denen gebe ich einfach die Telefonnummer meines Arztes.«

Und im September 2008, mitten in der Finanzkrise, versicherte Berlusconi nach einer langen Nacht in einer Diskothek, dass er noch genügend Energie habe, alles zu bewältigen: »Nach drei Stunden Schlaf habe ich Schwung für weitere drei Stunden Sex.« Aber um Italien aus seinem derzeitigen Chaos zu befreien, braucht es viel mehr als nur Berlusconis königliche Hand und spätpubertäres Potenzgeprahle.

Hier können Sie noch einmal unsere Geschichte "Lecko mio" aus dem Jahr 2006 lesen.

Foto: Attila Hartwig