Nie mehr zweite Geige

Angelika Hagen hätte Teil des berühmten Hagen Quartetts sein können - und entschied sich dagegen. Eine Geschichte über das Glück, den schwierigen Weg zu gehen.

Freilich habe ich sie gleich wiedererkannt; die schwarzen Haare, die dunklen Augen, dieses Glühen im Blick. Wir umarmten uns, natürlich, küssten uns auf beide Wangen wie früher. Früher ist lange her, 25 Jahre. Damals träumten wir von der großen Karriere am Theater: Angelika Hagen und ich.

Grund zum Träumen hatten wir genug, waren wir doch zusammen mit zehn anderen aus Hunderten Bewerbern ausgesucht und in die Schauspielklasse des Mozarteums in Salzburg aufgenommen worden. Anfangs wunderten wir uns, weil Angelika in ihrer freien Zeit nicht im Kaffeehaus abhing so wie wir, sondern Geige übte. Dann erfuhren wir, dass sie schon seit vier Jahren am Mozarteum studierte, in der Geigenklasse. Ich erinnere mich nicht, dass sie je von ihrem zweiten Leben erzählt hat. Irgendwann fragte uns einer: »Habt ihr noch nie was vom Hagen Quartett gehört?« Die vier Geschwister Hagen waren damals Salzburger Berühmtheiten, zwei Buben, zwei Mädchen, zwischen 13 und 19 Jahre alt; zwei Geigen, eine Bratsche, ein Cello. Angelika, die Älteste, spielte die zweite Geige.

Nach den Sommerferien war Angelika plötzlich nicht mehr da. Nach und nach erfuhren wir, dass sie nicht nur die Schauspielschule hingeschmissen hatte, sondern auch das Geigenstudium, das Quartett verlassen hatte und sogar die Stadt. Das passte nicht zu ihr, so wohlerzogen, wie sie wirkte, so höflich. Wir fragten uns, warum jemand mit diesem musikalischen Ausnahmetalent derart radikal mit seinem Leben bricht. Aber wir fragten uns nur kurz, wir waren nämlich sehr damit beschäftigt, berühmt zu werden.

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Dem Hagen Quartett ist es gelungen, es gehört längst zu jener Handvoll Quartette, die zur absoluten Weltspitze zählen. Die Geschwister haben den Namen behalten und Angelika ersetzt. In all den Jahren habe ich immer Kritiken über Auftritte des Quartetts gelesen, von ihrem Konzertzyklus in Wien, von Auftritten in London, München, bei den Salzburger Festspielen.

Immer versetzte es mir einen kleinen Stich, wenn ich die Namen der Musiker las: Lukas Hagen, Geige, Veronika Hagen, Bratsche, Clemens Hagen, Cello, Rainer Schmidt, Geige. Endlich, 25 Jahre nachdem Angelika Salzburg verlassen hat, google ich ihren Namen. Vier Wochen später umarmen wir uns im »Café Prückel« in Wien. Und erzählen uns 25 Jahre im Schweinsgalopp.

Sie: Lebt seit 23 Jahren in Wien, hat einen Sohn, der in Salzburg Jura studiert. Sie ist Doktor der Ethnologie. Ihre Geige, eine Willer von 1776, lag 20 Jahre unbenutzt unter ihrem Bett. Einmal ließ sie sie restaurieren, das war alles. Bis sie vor ein paar Jahren Andreas traf, einen Geiger und Jazzmusiker. Als sie sich verliebten, »waren wir ein Jahr lang stumm vor Glück«. Er brachte sie dazu, mit ihm zu improvisieren, das fiel ihr unendlich schwer, denn »ich habe einen vollkommen existenziellen Anspruch an die Geige, und mein Über-Ich sagt mir, wie Töne zu klingen haben. Und anfangs klangen sie schiach.« Inzwischen liebt sie die Improvisation. Den Schritt weg vom Quartett hat sie nie bereut, sagt sie, »ich bin vollkommen glücklich mit dem, was ich jetzt mache«. – »Was machst du denn?«

Vieles, viel Verschiedenes: Sie leitet Seminare an der Uni Wien zum Thema »Ekel, ein überwältigendes Gefühl«, berät Unternehmen, Bundesländer, ja ganze Staaten – also gut: Liechtenstein, weil das von seinen Bürgern wissen wollte, wie glücklich sie sind. »Und du?«, fragt sie. »Auch nicht Schauspielerin geworden«, sage ich, »Begabung hat nicht gereicht, seither Journalistin. Auch gut.« »Noch manchmal Sehnsucht nach der Bühne?«, fragt sie. »Oh ja«, sage ich, »und du«? – »Ich auch. Ich habe mich schon als Kind immer auf der Bühne gesehen.« »Warum bist du dann damals weg vom Quartett»?

»Warum interessiert dich das nach all den Jahren immer noch? Das ist doch schon so lang her. Was ich jetzt mache, scheint mir viel interessanter.« Ich sage: »Ja, aber das, was du jetzt machst, begreife ich. Doch was deine Musik angeht, begreife ich vieles nicht: Du besitzt jenes Ausnahmetalent, nach dem sich so viele sehnen, warum kündigst du ihm eines Tages fristlos? Und: Der Kosmos der klassischen Musik, in dem du jahrelang gelebt hast, ist mir bis heute vollkommen verschlossen geblieben. Bitte erkläre ihn mir.«

»Ach«, sagt sie und wischt die Bemerkung fast weg, »Talent ist ein so komplexes Phänomen, es braucht günstige Bedingungen, um sich zu entwickeln. Mein Bruder Clemens zum Beispiel ist ein Genie, er bildet eine Einheit mit seinem Cello. Ich aber war von meinen Geschwistern am weitesten entfernt von meiner Begabung. Ich hab nur funktioniert.«

In den folgenden Wochen schreibt mir Angelika Mails, schickt Briefe mit Prospekten, Vorträgen, alles Beispiele ihrer Arbeit jetzt; Broschüren vom Bundesland Vorarlberg, das mit ihrer Hilfe herausfinden will, wie man bei Kindern Interesse für Technik fördern kann, um das Land wettbewerbsfähig zu halten. Sie legt den Briefen Kataloge einer großen Versicherung bei, deren Jubiläumsfeier sie vorbereitete. Sie schickt ein Buch über »Sozialkapital« – ein neuer Zweig der Soziologie –, an dem sie mitgearbeitet hat.

Unter all der Post ist auch ein Artikel, den sie mal für eine Wiener Hochschulzeitung über ihre Trennung vom Quartett geschrieben hat: Wir trugen blaue Faltenröcke. Er fängt so an: »Ich bin die Schwester. Es gibt viele Geschichten darüber, warum ich mit dem Quartett aufgehört habe; ich habe sie selbst teilweise erfunden…« Angelika sagt, sie wird mir ihre Geschichte erzählen. Kurz darauf umarmen wir uns wieder in Wien, diesmal im »Café Engländer«.

Vielleicht ist jetzt der Moment zu sagen, dass sie immer ein inniges Verhältnis zu ihren Eltern und Geschwistern hatte. Bis heute. Dennoch hat sie nie mit ihnen darüber gesprochen, warum sie das Quartett verlassen hat. Bis heute nicht: »Sie haben nie nach den Gründen gefragt.« Von außen betrachtet, sehen die Umstände, unter denen Angelika aufwuchs und musikalisch reifte, ideal aus, liebevoll, behütet, harmonisch; Strenge, Disziplin, sicher, die waren auch dabei. Von innen betrachtet jedoch, beginnt Angelika irgendwann zu leiden.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite, welcher Druck auf der jungen Musikerin lastete - und wie sich sich davon befreite.)

"Die Musik ist in mir", sagt Angelika Hagen heute.

Die äußeren Umstände: Vater: Musiker, Mutter: Krankenschwester, vier Kinder, eine Wohnung in Salzburg. Angelika bittet ihren Vater, als sie sieben ist, auch Geige lernen zu dürfen wie ihr kleiner Bruder, Lukas, sechs, der damals schon ein halbes Jahr spielt. Dann folgt Veronika, damals fünf. Nur Clemens ist mit einem Jahr noch zu klein. Ihr Vater, Solobratschist des Mozarteum Orchesters in Salzburg, übt mit ihnen, bald haben sie auch eigene Geigenlehrer.

Kaum zwei Jahre nachdem sie zu musizieren begonnen haben, treten die drei Geschwister im Großen Saal des Mozarteums auf. Als Clemens fünf ist, beginnt er Cello zu lernen, schnell kann er mit den älteren Geschwistern spielen. Als Veronika von der Geige zur Bratsche wechselt, ist das die Geburtsstunde des Hagen Quartetts: Ein Streichquartett braucht zwei Geigen, ein Cello und eine Bratsche, Angelika ist zwölf. Bald belegen sie bei »Jugend musiziert« den zweiten Platz, im Jahr darauf den ersten.

Die Momente, für die sich alles lohnt: wenn das Quartett diesen ganz besonderen Ton gefunden hat, der es unverwechselbar macht. Das sei, sagt Angelika, »etwas Spirituelles, wie der Kontakt zu einer anderen Welt«. Und dass man nach diesen Augenblicken immer suche. Disziplin und technische Perfektion sind die Voraussetzungen, um es zur Meisterschaft zu bringen, das wissen die Hagen-Kinder natürlich. Und fügen sich. »Wir waren alle sehr ehrgeizig, und mein Vater war sicher ein begnadeter Lehrer. Nur nicht für mich.«

Oskar Hagen, ihr Vater, heute 77, ein ganz entzückender Herr, freundlich, höflich und zuvorkommend wie Angelika, sitzt in Salzburg im »Café Bazar«. Er erzählt: »Zu Beginn haben die Kinder zehn Minuten am Tag geübt, das haben wir langsam auf zwanzig Minuten, dann dreißig und irgendwann auf eine Stunde gesteigert. Wenn sie mal nicht sauber intoniert hatten, haben wir die Stelle gesungen. Sie singen ja sehr sauber. Und so konnten sie es kontrollieren. Es hat die Kinder selbst gestört, wenn’s nicht sauber in der Intonation war.« Der Ausgleich zum Üben sei ihm immer wichtig gewesen, die Kinder sollten Fußball spielen, Rad fahren. »In der Schule gehörten sie immer zu den Besten im Sport.«

Als Angelika alles hinwirft, ist sie 20. Ihr Vater sagt: »Anfangs war es bitter. Andererseits muss man der Angelika auch Respekt zollen. Im Grunde bewies sie damit Weitblick, Verantwortung und Mut.«
Dieses Leben im Quartett hatte für Angelika auch eine andere, eine dunkle Seite: Ihre Geschwister waren ihre Freunde, sie hatte keine anderen. Außer der Schule gab es nur die Familie und die Musik, das Üben und das Quartett.

Allein war sie nie, nicht mal nachts, sie teilte sich ein Zimmer mit ihrer Schwester. »Wenn man als Kind so viel zusammen musiziert«, sagt Angelika, »dann gibt es noch eine Verständigung auf anderer Ebene, eine, die vollkommen ins Unbewusste übergeht.« Und darum konnten sie bald bei Konzerten auswendig spielen, und weil sie einander auswendig kannten, genügten Blicke. Auch bei kleinen Fehlern verständigten sie sich mit den Augen, da merkte oft nicht mal der Vater was.

Was er dagegen sofort merkte: wenn Angelika nicht geübt hatte. Manchmal, wenn ihr Vater nicht da war, legte sie ein Buch auf ihren Notenständer und las. Kaum hörte sie ihn an der Haustür, fing sie an zu spielen. Und weil, wer lang übt, am Kinn den sogenannten Geigenfleck bekommt, ritzte Angelika sich ihn mit einem Messer ein. »Das war natürlich sinnlos, denn mein Vater hatte ein vollkommen unbestechliches Ohr.« Die Disziplin und die Strenge, mit der sie aufgewachsen ist, sagt sie, sitzen bis heute tief in ihr: »Klassische Musik zu spielen bedeutet eine rigide Sozialisation, eine eigene Lebenshaltung. Darum muss jemand, der Jazz spielt, auch anders leben.«

Kleine Fluchten: Als Jugendliche steht sie nachts auf, malt riesige Bilder im Wohnzimmer. Im Alleinsein fühlt sie sich geborgen. Sie träumt davon, Schriftstellerin zu werden, Schauspielerin, Tänzerin. Weil aber der »Hagen-Korpus« eng ist, wie sie sagt, und das Quartett immer vorgeht, war kein Platz für irgendetwas anderes, jede noch so kleine Ablenkung störte. Genau genommen war sie ungeheuer brav, im Vergleich zu ihren Geschwistern aber war sie wild.

Irgendwann geht ihr auch Salzburg auf die Nerven, »eine eitle, anmaßende Stadt, kein Ort für junge Menschen«. Und wohl erst recht kein Ort für junge Menschen, die Kammermusik machen, denn das Publikum »ist zwischen 65 und achtzig«. Dass sie dann noch Schauspielerin werden wollte, sei nur ein weiterer Schritt in ihrem Ablösungsprozess gewesen.
Im Sommer, als die Schauspielschule Ferien machte, fuhr sie mit den Mozartsolisten nach Japan. Sie sprang für eine Geigerin ein. Weit weg von zu Hause fasste sie endlich den Entschluss, das Quartett zu verlassen, Salzburg zu verlassen, nicht mehr Geige zu spielen.

Sie erzählt ihren Eltern davon; ihr Vater hat nichts dagegen gesagt, »fast so, als ob er es erwartet hätte«. Sie hat kaum Erinnerungen an diesen Moment. Bis heute aber erkennt sie sofort, wenn im Radio das Hagen Quartett spielt: »Ich erkenne mich wieder, obwohl ich nicht mitspiele, aber es ist ein Teil von mir.«

Einmal noch, zum 75. Geburtstag des Vaters vor zwei Jahren, haben alle vier Geschwister wieder zusammen gespielt, Angelika die zweite Geige, wie früher. Sie haben vorher nicht geübt, »nur kurz angespielt«, die Vertrautheit war sofort wieder da. Und eigentlich war es auch gar nicht das Hagen Quartett, denn sie spielten nicht zu viert, sondern zu zehnt.

Sechs der zehn Enkel von Oskar Hagen spielten nämlich auch mit. Zwei seiner Enkel werden wohl als Musiker Karriere machen, meint Oskar Hagen. Einen unterrichtet er täglich auf dem Cello: Oskar Samuel, zwölf. Als Angelika zwölf war, wurde das Hagen Quartett gegründet.Fotos: Peter Rigaud/Shotview Photographers; Haare & Make-up: Boris Cavlina; Setdesign: Christine Dosch/Perfectprops

Fotos: Peter Rigaud