Krebs

Wann immer diese Krankheit einen Prominenten befallen hat, wird sie mit einer merkwürdigen Lust vor uns ausgebreitet.

Jede Zeit hat ihre Krankheit, und wenn man den Boulevard-Medien glauben darf, denen man immerhin zutrauen sollte, dass sie wissen, was die Menschen beschäftigt, dann ist die Krankheit unserer Zeit der Krebs. An einem Tag war es der Regisseur Christoph Schlingensief, dessen Schicksal die Titelseiten beschäftigte, am anderen Tag war es das Ehepaar Stolpe, dessen Auftritt bei Maischberger so groß in der Bild-Zeitung angekündigt wurde wie sonst nur Steuererhöhungen oder Flugzeugkatastrophen. Der Theaterregisseur Schlingensief gab auch noch ein ehrliches und erschütterndes Interview bei Beckmann, sein Krebstagebuch So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! schnellte am Tag danach bei Amazon auf Rang sechs.

Dass Krankheit die Menschen bewegt, ist nichts Neues. Neu ist, dass die nur entfernt boulevardeske Frankfurter Allgemeine in der gleichen Woche vor einer Gesundheitsdiktatur warnte, es ging dabei um die Erfassung von Gen-Daten. Neu ist, dass Krankheit ein Politikum werden kann, weil das Verhältnis von Krankheit und Gesundheit in unserer fitnessversessenen Zeit noch einmal grundsätzlich geklärt werden muss. Neu ist, dass gesellschaftliche Ängste so direkt auf einzelne Personen konzentriert werden. Es war Michel Foucault, der sagte, der Körper sei der Ort der Politik. Heute ist der Körper darüber hinaus ein Ort für Projektionen. Krebs ist Angst, auf diesen Satz kann man das Wabernde und Wuchernde, das Unheimliche und Unsichtbare dieser Krankheit reduzieren. Krebs ist die Angst des Kranken, die aber auch die Umgebung erfasst. Die sich in die Beziehung zu Freunden und Familie frisst. Die sich ausbreitet, selbst wenn die Krankheit gestoppt ist. Irgendetwas bleibt immer, Krebs ist eine Angst, die einen nie mehr verlässt. Krebs ist das Warten, auf die Werte, die der Arzt einem präsentiert, auf die Wiederkehr der Krankheit, die ständig droht. Krebs befällt nicht nur den Körper, Krebs frisst sich in den Alltag und in die Zeit.

Krebs ist aber auch eine Metapher. Bei keiner anderen Krankheit kommen die Menschen so sehr in Versuchung, sie zu erklären, zu deuten, zu psychologisieren. Es gibt Krebsvarianten, in denen psychische Faktoren eine Rolle spielen, es gibt Krebsvarianten, die allein körperlich sind und durch Gifte oder Strahlungen oder etwas ausgelöst werden, für das Schlingensief ein schönes, trauriges Wort fand: das Nichts. Aus dem Nichts kommt diese Krankheit, sagte er bei Beckmann, sie ist damit das ultimative Rätsel, und weil sie oft unerklärlich ist, wird sie mit Begriffen wie Schuld oder Strafe beladen, sehr viel häufiger etwa als der Herzinfarkt, als Diabetes, als Alzheimer oder Parkinson. Krebs ist ein Drama, ist ein Passionsspiel mit Schurken und Helden, mit Fallen und Tricks, mit List und Tücke. Es ist der Körper, der sich gegen sich selbst, gegen uns wendet. Krebs ist darum die unheimlichste Krankheit, weil sie uns am nächsten ist.

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Es gab eine Zeit, in der Krankheit nicht als Makel, sondern fast als Auszeichnung, als Distinktion verstanden wurde. Die Tuberkulose etwa, wie sie in sanatorienverliebten Romanen wie Thomas Manns Zauberberg verklärt und verphilosophiert wurde. Oder die Syphilis, die künstlerisch etwa in Voltaires Candide ihr Abbild fand. Der Krebs ist anders. Obwohl er nicht ansteckend ist, führt er doch oft in die Isolation. Nach dem Fernsehauftritt der Stolpes hieß es, sie seien »mutig« gewesen. Weil die Menschen nicht gern von Leiden und Tod erfahren? Oder weil die Menschen sich von ihnen abwenden könnten? Wenn Krebs eine Krankheit ist, die ein Rätsel bleibt, dann ist es das Irrationale, das den Umgang damit prägt.

Schlingensiefs Schicksal beschreibt da einen anderen möglichen Weg. Er schien oft wie der ewige Außenseiter des deutschen Kulturbetriebs. Nun wird dieser Ausgestoßene gerade durch seine Krankheit heimgeholt.

Foto: ap