"Kanzler? War ich nie der Typ dafür"

Nach der Wahl verabschiedet sich der SPD-Fraktionschef Peter Struck aus dem Bundestag. Ein letztes Gespräch über große Gegner, kleine Geister und - ja, klar: Deutschlands Verteidigung am Hindukusch.

SZ-Magazin: Herr Struck, sind Sie in diesen Tagen sentimental?
Peter Struck:
Nein. Ich habe 29 Jahre Bundespolitik hinter mir. Das reicht. So schlicht muss man das sagen.

Haben Sie die Lust an der Politik verloren?
Nicht an der Politik generell. Aber ich kenne die Debatten hinlänglich. Die immer gleichen Themen, die immer gleichen Argumente bei den eigenen Leuten und beim politischen Gegner, diese Rituale. Davon habe ich jetzt genug.

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Können Sie sich noch an Ihre Ansprüche als junger Abgeordneter erinnern?
Ich habe 1980 im Finanzausschuss angefangen. Ich wollte eine gerechte Steuerpolitik machen. Heute haben wir immer noch kein vollkommen gerechtes Steuersystem. Das ist ein Ziel, das man immer anstreben muss, aber nie in Vollendung erreichen wird. In 50 Jahren wird man sich darüber noch streiten. Aber das sollen jetzt andere machen. Irgendwann gibt man auf?
Ich wollte ja damals maximal acht Jahre im Bundestag bleiben und später Oberbürgermeister von Göttingen werden, meiner Heimatstadt. Dann habe ich den Absprung verpasst. So sind’s jetzt fast 30 Jahre geworden.

Sind Sie stolz darauf, dass Sie als Mann mit großer Schnauze gelten?
Ach, es gibt ja Leute, die mich deshalb mit Herbert Wehner vergleichen, auch weil ich Pfeife rauche. Das finde ich absurd. Das war eine andere Generation, ganz andere Biografien, ganz andere Lebensleistungen. Aber wenn man sagt, das ist ein knorriger Typ, das gefällt mir.

Auch Sie maulen die eigenen Leute an.
Wenn Sie in der Fraktion rumfragen, was die von mir halten, kriegen Sie entweder die Antwort, dass sie mich mögen oder dass ich ein autoritärer Knochen bin. Dazwischen gibt’s nix. Aber für mich ist am wichtigsten, dass ich eine klare Autorität habe. Wenn in der Fraktion einer zu lange quasselt und ich sage: »Jetzt ist aber gut« – dann hören die auch auf.

Sind Sie in den letzten Jahren ungeduldiger geworden?
Ja. Eindeutig.

Sind Sie auch ungerechter geworden?
Ich glaube, manchmal ja. In der Fraktion bemühen sich alle, rackern sich ab. Da bin ich schnell mal ungerecht, wenn die komplizierte Sachverhalte darstellen und ich ungeduldig reagiere.

Können Sie sich entschuldigen?
Ja. Das kann ich.

Wann sind Sie mal zu weit gegangen?
Die Betroffenen wissen es; das reicht.

Mit dem Begriff »Arschloch« sind Sie ja schnell dabei.
Das ist eine verbalradikale Schwäche von mir. Ich meine damit vor allem Leute, die aus ihrer Ideologiebefangenheit nicht rauskommen. Für die ein Sozi schlecht ist, nur weil er ein Sozi ist.

Hat die Zahl derer, die diesen Titel verdienen, in Ihren 30 Jahren im Bundestag zugenommen?
Ich glaube nicht. Wenn der Onkel hier noch sitzen könnte, Herbert Wehner, der würde sagen: So viele, wie du hier hast, hat es früher im Bundestag zehnmal gegeben.

Was war für Sie der Grund, in die Politik zu gehen?
Mehr Gerechtigkeit. Das hatte mit meiner Herkunft zu tun. Ich bin 1943 geboren. Mein Vater war Soldat, meine Mutter war Verkäuferin. Meine Eltern mussten nach dem Krieg hart um unsere Existenz kämpfen. Mein Vater hat sich hochgearbeitet zu einem Betriebsleiter in einer Werkstatt für Lastwagen. Hat geschafft, was er schaffen konnte. Wenn ich meine Verwandtschaft sehe: Das waren alles arme Leute, würde man heute sagen. Deshalb ging’s für mich immer darum, dass es solchen Leuten besser geht.

Und dafür ging man damals in die SPD.
Ich kann mich noch genau an eine Rede von Willy Brandt als Kanzlerkandidat erinnern, 1961 in Göttingen.

Faszinierend?
Ja. Meine Mutter war eigenartigerweise so ein Fan von Erich Mende aus der FDP. Heftige Debatten haben wir zu Hause gehabt. Mein Vater stand auf meiner Seite, aber der ist nie in die SPD eingetreten. Er hat gesagt: Nach den Nazis will ich mit Parteien nichts mehr zu tun haben.

Eine andere Partei als die SPD wäre für Sie nie in Frage gekommen?
Nee. Auch heute nicht. Nie. Weil ich weiß: Die Idee ist richtig, für die sie steht.

Sie kamen aus einfachen Verhältnissen und haben eine schnelle akademische Laufbahn hinter sich gebracht. Wie war das möglich?
Ich habe als Schüler und Student nebenher bei der Post gearbeitet, Pakete zugestellt und mein Studium mitfinanziert. Ich war sogar noch Student, als ich 1965 geheiratet habe. Meine Frau leitete einen Kindergarten, Anfang 1966 kam unsere Tochter zur Welt. Das war schon eine harte Zeit, aber im Studium hatte ich nie Schwierigkeiten.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Ich sage das noch heute den Gymnasiasten: Wenn ihr nichts Besseres wisst, macht Jura. Das ist ein leichtes Studium, wenn man einigermaßen was im Kopf hat.")

Warum Jura?
Ich hätte gern Geschichte studiert. Aber damit hätte ich nur Lehrer werden können. Dazu hatte ich keinen Bock. Dann Jura. Ich sage das noch heute den Gymnasiasten: Wenn ihr nichts Besseres wisst, macht Jura. Das ist ein leichtes Studium, wenn man einigermaßen was im Kopf hat.

Sie haben über Alkoholismus und Jugenddelinquenz promoviert.
Ich war als Jugendlicher Guttempler. Das sind die Leute, die nicht rauchen und nicht trinken. Mein Schwiegervater war Leiter der Hamburger Trinkerfürsorge. Ich wusste, welche Folgen Alkohol haben kann, als ich das Thema wählte. Meinen Fragebogen habe ich an siebzig zu lebenslanger Haft verurteilten Knackis in Fuhlsbüttel getestet. Da war ich fünf Monate und habe die Interviews geführt. Meine Tochter hat im Kindergarten zum Entsetzen meiner Frau immer gesagt: Der Papa ist jetzt im Knast in Fuhlsbüttel.

Wann haben Sie das Nichtrauchen und Nichttrinken aufgegeben?
Als ich anfing mit dem Studium. Aber ich war in meinem ganzen Leben noch nie betrunken.

Tatsächlich?
Ich habe das alles im Hinterkopf, was da dranhängt.

Gibt es im Bundestag Leute mit Alkoholproblemen?
Ja. Ich musste mich selbst schon um solche Fälle kümmern.

Sie waren Fraktionschef, Minister. Haben Sie nie daran gedacht, Kanzler zu werden?
Nein, nie.

Warum nicht?
Ich bin nicht der Typ dafür. Ich verstehe mich bis heute vor allem als Parlamentarier. Alle sind von uns abhängig. Es gibt nichts Höheres.

Aber Sie waren doch besonders gern Verteidigungsminister?
Ja. Das war für mich eine überraschende Erfahrung, dass ich an diesem Amt so viel Freude gewonnen habe. Ich bin da mit großem Bedauern gegangen. Auf einer Kommandeurstagung haben sie mich mit Standing Ovations verabschiedet. Das hatte es noch nie gegeben. Da ist mir klar geworden: Du verlierst was, was du gern behalten hättest.

Hat Ihr Vater Sie als Minister noch erlebt?
Nein. Er ist vorher gestorben. Leider.

Hatte er Ihnen erzählt, was Krieg bedeutet?
Er war in Russland. Ich kann mich an quälende Gespräche erinnern, wo ich als Sohn wissen wollte, wie das war. Er hat aber kaum was preisgegeben.

Sie selbst waren nicht bei der Bundeswehr.
Ausgemustert – wegen Augenproblemen.

Und dann Verteidigungsminister.
Das wurde bei Schröder zu Hause entschieden. Ich wollte ums Verrecken nicht. Ich wollte Fraktionsvorsitzender bleiben. Als es beschlossen war, habe ich meine Frau angerufen. Die fiel bald vom Stuhl vor Schreck.

Dabei waren Sie in der SPD Mitte der Neunzigerjahre einer der ersten Befürworter von Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
Nach dem Fall der Mauer und der Einheit war für mich klar: Wir können uns nicht mehr raushalten. Wir zahlen Millionen und Milliarden, und die anderen leisten den Blutzoll.

Dafür wird Deutschland jetzt am Hindukusch verteidigt.
Der Satz von mir steht jetzt in einem Buch mit geflügelten Worten, neben Goethe und Schiller. (lacht) Aber im Ernst denke ich manchmal, dass ich an diesem Satz noch einmal gemessen werde. Irgendwann muss womöglich entschieden werden: Wir müssen da raus, uns aus Afghanistan zurückziehen. Das ist meine große Furcht, dass wir diesen Einsatz, den ich entscheidend mit auf den Weg gebracht und unterstützt habe, dass wir das nicht anständig zu Ende bringen. Und dann wird dieser Satz noch mal ganz anders bewertet.

Als Verteidigungsminister waren Sie eine Stütze im Kabinett Schröder. War Ihnen das eine Genugtuung, nachdem er Sie in früheren Jahren auch mal herablassend behandelt hatte?
Ich habe das nicht als Triumph empfunden.

Dachten Sie schon über den niedersächsischen Landespolitiker Schröder, dass er das Zeug zum Kanzler hat.
Ja.

Mit Furcht oder mit Freude?
Mit Freude. Und ich finde, dass er eine sehr respektable Arbeit als Bundeskanzler vorweisen kann. In der Außenpolitik zum Beispiel, aber auch die Agenda 2010, das war schon ein gewaltiger Kraftakt. Der Schröder ist für mich ein sehr guter Politiker.

Auch ein Freund?
Wir haben Kontakt. Er hat ja die Kinder, ich habe sieben Enkel, darüber reden wir. Es ist ein unkompliziertes Verhältnis. Aber es ist nicht so, dass ich sagen würde: Schröder ist ein guter Freund von mir. Ich glaube, er sieht das genauso.

Sie sind bekannt für Ihre Freundschaften mit politischen Gegnern und wurden dafür auch angegriffen.
Ja, für mich war es nie ein Problem, fraktionsübergreifend Freunde zu gewinnen. Theo Waigel, Heribert Blens, Friedrich Bohl, alle aus der Union.

Helmut Kohl hat Sie geschätzt und immer mit den Worten begrüßt: Na, du Oberstrippenzieher.
Kohl respektierte verlässliche Leute. Und manchmal brauchte er auch die Opposition. Das hat er nicht über den Fraktionsvorsitzenden gemacht, Klose und Scharping mochte er nicht. Dann ist er gelegentlich zu mir gekommen. Kohl wollte am liebsten jeden Tag einen Sozi auffressen. Aber da wusste man wenigstens, woran man ist.

Anders als bei Angela Merkel?
Bei der weiß ich nicht, wofür sie steht. Das ist so. Daran wird sie irgendwann auch scheitern.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Ich glaube, Herzinfarkte hätte ich auch ohne die Politik bekommen.")

Konnten Sie mit ihr streiten?
Ja. Das schätze ich auch an ihr. Wir hatten ein paar Fälle, da bin ich im Koalitionsausschuss auf sie losgegangen, richtig heftig. Sie hat dann zurückgekeilt. Aber danach war Schwamm drüber und gut.

Sie hat einmal gesagt: Der Struck ist halt der Struck. Klingt abfällig.
Ich glaube nicht, dass sie das böse meinte. Ich denke, sie kann mich einerseits nicht leiden, weil ich derjenige bin, der immer an ihr rummäkelt und nervt und so. Das hat sie natürlich nicht so gern. Die Frau ist aus meiner Sicht unheimlich empfindlich. Bei mir wird sie trotzdem sagen: Schade, dass der Struck aufhört, weil man nicht weiß, was danach kommt.

Ist es schwieriger, in der Politik eine Frau anzukoffern als einen Mann?
Nee, für mich nicht. Ist mir egal.

Herr Struck, lassen Sie uns über Politik und Gesundheit reden. Beginnen wir mit den leichten Dingen: Sie sind dreimal am Meniskus operiert worden.
Ja, jetzt hab ich überhaupt keinen mehr: keinen Außenmeniskus, keinen Innenmeniskus. Ich kann nicht mehr Fußball spielen. Schon Mist.

Sie hatten 1989 kurz hintereinander zwei Herzinfarkte und vor wenigen Jahren einen leichten Schlaganfall. Hat die Politik Sie krank gemacht?
Ich glaube, Herzinfarkte hätte ich auch ohne die Politik bekommen. Das ist auch teilweise erblich bedingt. Mein Vater ist an mehreren Herzinfarkten gestorben. Rauchen ist natürlich auch nicht besonders förderlich.

Sie rauchen heute noch. Haben Sie nach den Herzinfarkten überhaupt etwas geändert?
Meine Einstellung. Aufgeregtheiten lassen mich innerlich kalt. Beruflicher Ärger trifft mich nicht mehr im Kern. Das können Sie nicht verstehen, weil Sie das nicht erlebt haben. Wenn Sie mit Notarzt und Blaulicht in ein Krankenhaus gefahren werden und Sie haben das Gefühl: Es wird alles zugedreht am Herz. Das ist so, als ob immer mit einem Gürtel gezogen wird, immer fester. Und irgendwann reißt das alles kaputt. Wenn Sie da wieder rauskommen, dann sehen Sie alles ein bisschen anders.

Man ist freier?
Ja, das Leben hat dann andere Prioritäten. Erst die Familie und dann irgendwann der Beruf.

Fällt es Politikern besonders schwer, über ihre eigene Krankheit zu reden?
Ich mach das nicht gern. Ich glaube auch nicht, dass die Menschen das erwarten. Die erwarten, dass wir unseren Job anständig machen.

Darf man deshalb eine Krankheit verschleiern, wie Sie es bei Ihrem Schlaganfall getan haben?
Das war ein großes Problem, das gebe ich zu. Der Vorfall ist bekannt geworden durch die Mitteilung der Berliner Polizei: »Wir haben den Verteidigungsminister gerade mit dem Notarzt ins Krankenhaus gebracht.« Das haben Kollegen von Ihnen mitgekriegt. Also standen alle vor der Charité. Meine Frau ist dann geholt worden, aus Uelzen. Die musste durch den Hintereingang und den Wäschefahrstuhl nehmen, damit sie überhaupt da hinkam.

Sie haben verlautbart: Kreislaufprobleme.
Ja. Ich wusste nicht, wie stark dieser Schlaganfall war und welche Folgen er haben würde. So ein Schlaganfall – da haben die Menschen ja bestimmte Vorstellungen. Man ist gelähmt und so. Das war ja nun wirklich nicht so
dramatisch bei mir. Ich verstehe, dass es Kritik an dieser Darstellung gegeben hat. Vor allem meinen engsten Mitarbeitern hab ich damit keinen Gefallen getan. Sogar der Schröder ging von einem Kreislaufkollaps aus.

Sie haben den Kanzler angelogen?
Er bekam zuerst die offizielle Version. Ich habe ihm aber sehr bald in einem geheimen Treffen gesagt, was los ist.

Man hat Ihnen danach eine Zeit lang Probleme angemerkt.
Ja, ich hatte am Anfang einige Sprechprobleme.

Inzwischen hat man den Eindruck, es geht Ihnen wieder besser.
Das ist auch so.

Hat das auch mit der Entscheidung zu tun aufzuhören?
Ja.

Hören Sie wirklich ganz auf?
Ja, nix mach ich mehr. Ich geh auch nicht in Talkshows und erzähle als Rentner, wie man Politik macht. Das ist jetzt ein Schnitt – und fertig.

Und wenn plötzlich ein Verteidigungsminister gebraucht wird?
Nein. Die Antwort ist Nein.

Schweren Herzens?
Ja.

Fotos: André Rival