1. Zwanzig Millionen gegen 1,30 Euro
Deutschland im Sommer 2009
Herr Tuchlenski von Kaiser’s kämpft auf der Seite der Ungerechten, ob ihm das passt oder nicht, er kämpft auf der Seite derer, die alles dürfen, besitzen und sich das im Zweifel auch einfach herausnehmen. Herr Tuchlenski, Vorname Tobias, 47, Hornbrille, kantiges Kinn, ist Berlin-Chef von Kaiser’s und verantwortlich für die fristlose Entlassung von Barbara E., jener Kassiererin, die unberechtigt Pfandbons für sich eingelöst haben soll. Pfandbons im Wert von 1,30 Euro. Inzwischen saß Barbara E. bei Kerner, ihr Fall wurde bei Anne Will diskutiert, ihre Geschichte stand wochenlang in der Bild-Zeitung, und ganz Deutschland fragte sich, wie gnadenlos man sein kann. Jemanden wegen 1,30 Euro zu entlassen, eine dreifache Mutter, nach 30 Jahren in derselben Filiale.
Man fragte sich das auch deshalb, weil zur gleichen Zeit Klaus Zumwinkel, Ex-Chef der Post, für die Hinterziehung von 970 000 Euro Steuern mit Bewährung davonkam und sich mit 20 Millionen Euro Vorausrente in seine Burg am Gardasee zurückziehen konnte. Barbara E. wurde zum Gesicht eines ungerechten Landes, das alle Verhältnismäßigkeit verloren zu haben schien. An ihr kommt nicht vorbei, wer 2009 über Gerechtigkeit schreibt, der Fall steht am Anfang einer fast 3000 Kilometer langen Fahrt durch die Republik, von Berlin nach Bochum, von Ludwigshafen nach Stadtroda, von Essen nach Hamburg, auf der Suche nach einem großen Ideal: Gerechtigkeit.
»Für uns ist die Sache natürlich ein Desaster«, sagt Herr Tuchlenski von Kaiser’s in seinem Büro in Berlin-Mariendorf, »aber eines, das wir im Grunde nicht verhindern konnten. Auch wenn ich sehe, dass diese Angelegenheit einen schlechten Eindruck macht.« Firmenpolitik sei nun mal, dass man sich von unehrlichen Mitarbeitern trenne, egal ob es sich um 500 Euro oder fünf Euro handle. Oder um 1,30 Euro. »Wir können keine Frau an der Kasse lassen, von der wir sicher sind, dass sie uns hintergeht. Und wir müssen Unehrlichkeit immer gleich behandeln, alles andere wäre doch ungerecht!« Mit der öffentlichen Aufregung hat niemand hier im Kaiser’s-Flachbau gerechnet und noch weniger damit, bei Anne Will auf eine Stufe mit Aldi und Lidl gestellt zu werden. »Das war nicht fair«, sagt Tuchlenski, »wir zahlen nach Tarif, wir behandeln unsere Angestellten gut und wir haben Betriebsräte. Die in
der Sache Barbara E. übrigens auf unserer Seite stehen.« Zweimal hat Kaiser’s inzwischen vor Gericht Recht bekommen, mit der Folge, dass die Empörungswelle erst so richtig anrollte: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse sprach von einem »barbarischen Urteil von asozialer Qualität« und die Demonstrationen vor und in den Berliner Kaiser’s-Filialen wurden zahlreicher.
Mit hoch erhobenem Kopf, den sie nicht einziehen wird, stolz, weil sie nicht weicht, eine Spur zu trotzig vielleicht, so steht Barbara E., genannt Emmely, an einer Straßenecke in Berlin-Kreuzberg. Gegenüber ein Kaiser’s-Supermarkt, ein bisschen Provokation muss sein. Den Treffpunkt hat jemand vom Komitee »Solidarität mit Emmely« vorgeschlagen, »die vom Soli-Komitee kommen auch gleich«, sagt Barbara E., 51, ohne sie will sie nicht reden, »die kennen das Juristische besser«. Ein bisschen später sitzt sie mit einem Cappuccino vor einer türkischen Bäckerei und sagt, es gehe ihr den Verhältnissen entsprechend. Die Verhältnisse: Sie hat noch keinen neuen Job, sie bekommt Hartz IV, sie musste umziehen, weil das Geld vom Staat nicht reicht für ihre bisherige Wohnung. Aber sie wirkt nicht geschlagen, nicht einmal niedergeschlagen. Eher kämpferisch, Kinn hoch, Fäuste geballt auf dem Tisch.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wer 2009 nach der Gerechtigkeit sucht, stößt auf klare Fronten.)
So zynisch das klingt: Seit Barbara E. wegen 1,30 Euro entlassen wurde, ist sie jemand. Aus der Kassiererin Barbara E. wurde die mutige Emmely, die sich nichts bieten lässt, sie ist jetzt prominent, ihr Soli-Komitee organisiert Interviews mit ihr und Demonstrationen für sie, sie wird auf der Straße erkannt, erzählt sie, die Leute klopfen ihr auf die Schulter und sagen: »Weiter so!« Das trägt sie durch den Alltag. Selbst wenn ihr der Kompromiss gefiele, den Kaiser’s anbietet, nämlich die Umwandlung der fristlosen in eine fristgerechte Kündigung – sie könnte nicht einknicken. Nicht mehr, es ist zu spät. »Ich klage vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte, dann werden wir ja sehen«, sagt sie, stolz, weil sie nicht weicht, und ein bisschen unsicher, weil sie weiß, dass es nicht mehr um sie geht. Es geht jetzt um das ganz Große. Um Gerechtigkeit.
Und Herr Tuchlenski kann im Grunde sagen, was er will, es wird erdrückt von dem in Moral gemeißelten Argument, dass kein Unternehmen wegen 1,30 Euro die Existenz einer Mitarbeiterin ruinieren dürfen soll.
Wer 2009 nach der Gerechtigkeit sucht, stößt auf klare Fronten, vor allem aber auf Feindbilder. Neben Tuchlenski versammeln sich die Manager und Boni-Banker; Klaus Zumwinkel, der Betrüger, und Georg Funke, der Gierige, der Ex-Chef der Hypo Real Estate, unter dessen Kommando die Bank Milliarden verlor und der jetzt vor Gericht seine ausstehenden Gehälter in Millionenhöhe einklagen will. Genaue Unterscheidungen werden wenig gemacht in diesen Zeiten der Krise und des Wahlkampfs, das bekam der Schraubenfabrikant Reinhold Würth zu spüren: Der Spiegel zog über ihn her, weil Würth im März eine 100 Millionen Dollar teure Yacht in Empfang nahm, kurz nachdem er einem Teil seiner Arbeiter Gehaltskürzungen und Kurzarbeit verordnet hatte. Aber Würth hatte die Yacht 2007 bestellt, auf dem Höhepunkt des Aufschwungs. Hätte er die Annahme verweigern sollen?
In besseren Zeiten hätte viele vieles wenig gestört – soll der Funke doch seine Millionen haben, der Würth seine Yacht und der Zumwinkel seine Burg – aber wenn fast eine halbe Million Menschen Hartz IV brauchen, obwohl sie den ganzen Tag arbeiten, erbärmlich bezahlt, wenn die Arbeitslosenzahl wieder in Richtung fünf Millionen steigt und die Krise den Menschen Angst macht, sieht es eben anders aus. Wenn dann noch die großen Banken und Industrien scheinbar mühelos Milliarden vom Staat bekommen, aber Erzieherinnen für halbwegs erträgliche Arbeitsbedingungen auf die Straße gehen müssen, wenn Unternehmen wie Lidl, Bahn und Telekom ihre Mitarbeiter ausspähen und selbst Politiker wie Horst Köhler und Erwin Huber über zunehmende soziale Ungerechtigkeit klagen – dann wundert es wenig, dass eine Gesellschaft neu darüber nachdenken will, ob es zu ungerecht zugeht. Darüber, wie ungerecht die Verhältnisse sind und wie ungleich, und
wann das dasselbe ist und wann nicht. Darüber, wie viel Ungleichheit eine Gesellschaft ertragen muss, wenn sie die Freiheit der Menschen nicht einschränken will, und wie viel sie ertragen kann, ohne auseinanderzubrechen.
Vielleicht sollte man mit dem Fundament beginnen: Die wohl wichtigs-te Gerechtigkeitstheorie der Neuzeit stammt von dem amerikanischen Philosophen John Rawls; einer seiner methodischen Tricks in The Theory of Justice war der Schleier des Nicht-Wissens: Die Bürger können mitentscheiden, wie die künftige Gesellschaft aussehen soll, sie können sie mitgestalten; was sie aber nicht wissen, was also hinter jenem Schleier verborgen bleibt, ist, wo ihr Platz in dieser Gesellschaft wäre: ob sie Bettler wären oder Großgrundbesitzer. So ist, in der Theorie, keiner parteiisch, und alle wollen, dass es auch den Schwächsten noch erträglich geht. Weil jeder der Schwächste sein könnte.
In Deutschland, im Hier und Jetzt, mit unverschleiertem Blick: Würden die Deutschen dieser Gesellschaft zustimmen, wenn jeder jederzeit auch ganz unten aufwachen könnte?
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Das neue Unbehagen - wie sich die Wahrnehmung ändert.)
2. Das neue Unbehagen
Wie sich die Wahrnehmung ändert
Wilhelm Heitmeyer, 63, Konfliktforscher an der Universität Bielefeld, führt seit 2002 die Langzeitstudie »Deutsche Zustände« durch, er kennt die Deutschen und ihre Gefühlslage wie kaum ein anderer, er wird weiterhelfen. Ein enger Aufzug ruckelt in den sechsten Stock, wo Heitmeyer, weiße Haare, dunkler Anzug, dunkles Hemd, an einem Holztisch mit Blick auf bewaldete Hügel sitzt und auf einem Zettel vor sich Zahlen umkringelt. Sie haben alle mit Gerechtigkeit zu tun, er zeichnet damit das Bild eines verunsicherten, wütenden und enttäuschten Deutschen: Immer mehr Deutsche fühlen sich immer ungerechter behandelt, jeder zweite Deutsche denkt, er bekäme weniger als seinen gerechten Anteil, zwei Drittel der Deutschen glauben, Arme würden immer ärmer und Reiche immer reicher. Die Hälfte der Deutschen ist der Meinung, es würden in Deutschland immer mehr Leute an den Rand der Gesellschaft gedrängt. »Wir erleben eine Demokratieent-
leerung, eine wachsende Distanz der Menschen zum demokratischen System, die Menschen fühlen sich ohne Stimme, nicht mehr vertreten.«
In den Fragebögen, die Heitmeyer ausgibt, ist auch das Entsetzen über den plötzlichen Abstieg herauslesbar, der mit dem Jobverlust einsetzt und nach einem Jahr schon bei Hartz IV endet. »Ich bin in einer Kategorie mit den Pennern gelandet«, heißt es da zum Beispiel, und Heitmeyer sagt, dass diese Wut nicht selten ist: »Die Menschen nehmen die Entwicklung unserer Gesellschaft als ungerecht wahr, sie haben das Gefühl, in einem immer ungerechteren Land zu leben.«
Was besonders ins Gewicht fällt: Dieses Phänomen ist neu in Deutschland. Seit 1964 wird in Umfragen regelmäßig gefragt, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse – was Menschen besitzen und was sie verdienen – im Großen und Ganzen gerecht oder ungerecht seien. Über die Jahrzehnte blieb das Ergebnis relativ konstant, fast gleich viele Befragte hielten das Land für gerecht beziehungsweise ungerecht. Erst ab der Jahrtausendwende wurde Deutschland als immer ungerechter empfunden, zuletzt standen 73 Prozent, die das Land als ungerecht an-
sahen, gegen nur mehr 13 Prozent, die die Lage als gerecht wahrnahmen. Aber warum?
Wilhelm Heitmeyer sagt: »Weil das Land sichtbar ungleicher geworden ist.«
Hans-Olaf Henkel, Ex-Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, meint: »Weil eine Armee von Meinungsführern den Deutschen seit Jahren einredet, unser Land wäre besonders ungerecht, dabei kann mir kaum jemand ein Land nennen, wo der Unterschied zwischen Arm und Reich so gering ist wie in Deutschland!«
Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, sagt: »Weil wir die meiste Zeit nicht von Fakten ausgehen, sondern von Gefühlen.« Hüther hat darüber ein Buch geschrieben, es liegt auf einem Glastisch in seinem Büro, der Titel Die gefühlte Ungerechtigkeit, er sagt, mit talkshowgestähltem Lächeln, alle Zahlen, die in das Bild eines ungerechten Landes passen, würden sofort aufgebauscht, und alle gegenteiligen Entwicklungen weitgehend ignoriert. Was er nicht sagt: dass es gerade ziemlich wenige gegenteilige Entwicklungen gibt.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Eine Frage der Verhältnisse - das Land in Zahlen.)
3. Eine Frage der Verhältnisse
Das Land in Zahlen
Die meisten Fakten widersprechen den Umfrageergebnissen nicht wirklich: Der Vorstandsvorsitzende eines Großkonzerns, der in den Siebzigern im Schnitt das 30-fache eines Arbeiters in seinem Betrieb verdiente, bekam 30 Jahre später das 350-fache. Von 1991 bis 2005 stieg der Einkommensanteil der reichsten 20 Prozent der Bevölkerung um rund fünf Prozent auf etwa 40 Prozent, während der Lohnanteil der ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung leicht sank, auf 9,4 Prozent. Nicht dramatisch, aber doch. Anders beim Vermögen, da wird es drastisch: 2007 hatte ein knappes Drittel der Deutschen nichts gespart oder sogar Schulden, und die unteren 70 Prozent kamen zusammen auf gerade mal neun Prozent des Vermögens. Dagegen sammelte sich mehr als 60 Prozent des Gesamtvermögens bei den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung.
In einer kürzlich vorgestellten Studie der EU wurde untersucht, wie sozial gerecht ihre Mitgliedsstaaten sind, anhand von 35 Faktoren wie Arbeitsmarktchancen, Bildungschancen, Absicherung, Einkommensverteilung oder Generationenverhältnis. Ganz vorn stehen die, die immer dort stehen: Schweden, Dänemark, die Niederlande und Finnland. Deutschland kommt auf Platz 19, hinter Bulgarien und Polen. In einer OECD-Studie vom vergangenen Herbst wurde Deutschland sogar bescheinigt, dass die soziale Ungleichheit hierzulande von 1995 bis 2005 stärker zugenommen habe als in allen anderen Industrieländern.
Lange Zeit galt die bauchige Zwiebel als Bild der deutschen Gesellschaft, sehr schmal ganz oben, bei den Reichen, sehr schmal ganz unten, bei den Armen, und breit in der Mitte. Das Bild stimmt nicht mehr. Die deutsche Zwiebel tendiert zur Birne.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Was heißt schon "sozial"?)
4. Was heißt schon »sozial«?
Das Problem eines strapazierten Begriffs
Die Ungleichheit in Deutschland wächst. Das sagen die Zahlen, das sagen die Umfragen und das sagen die Menschen, denen man im Lauf dieser Reise durch Deutschland die kurze Frage stellt, ob Deutschland sozial gerecht sei: Die Bedienung in einem Göttinger »McDonald’s«, der Rentner in der Bremer Innenstadt, die Frau an der Rezeption eines Dessauer Hotels, der Maurer im thüringischen Stadtroda. Sie alle antworten sofort mit »Nein«. Genauso der Theaterintendant und ausgewiesene Linke Claus Peymann in Berlin, der gleich noch den großen Knall prophezeit, den Aufstand: Es sei doch kein Zufall, dass Schriftsteller wie Elfriede Jelinek oder Peter Handke die ganze Zeit vom Untergang schrieben. »Niemand glaubt das«, ruft Peymann, »wir lachen darüber, aber ich sage Ihnen, das sind die Seher, die haben den klareren Blick!« Auch Wachtmeister Heinz-Jürgen Dembinski, der im Bochumer Landgericht Klaus Zumwinkel in den Gerichtssaal geführt hat, sagt: »Wat? Nää! Sozial gerecht ist das nicht, wie es zugeht in Deutschland.«
Gleichzeitig sagen 66 Prozent der Deutschen, soziale Gerechtigkeit sei ihnen ganz besonders wichtig. Aber was ist das: soziale Gerechtigkeit? Eine Wahlkampfparole? Das Erkennungszeichen der Gutmenschen? Ein anderes Wort für Neid, weil der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit fast immer verbunden ist mit der Forderung der Umverteilung, von oben nach unten? Oder ist soziale Gerechtigkeit doch etwas, wofür der Staat zu sorgen hat, weil sie die Gesellschaft zusammenhält, weil das Gefühl wichtig ist, dass irgendwie an alle gedacht wird? Dass jeder in Würde an unserer Gesellschaft teilhaben kann?
Und wo setzt man an? Kann man dem Kind eines Fließbandarbeiters die gleichen Chancen verschaffen wie dem eines Richters? Und wie oft soll der Staat nachjustieren? Immer wieder?
In einer Befragung sollten vergangenes Jahr Menschen erklären, was sie unter dem Begriff »soziale Gerechtigkeit« verstehen, weil man wissen wollte, welche Art von Gerechtigkeit die Menschen sich wünschen. Heraus kam von allem ein bisschen: Die meisten wollten gleiche Chancen für alle, sehr viele eine gerechte Verteilung von Löhnen sowie ordentliche Sozialleistungen und einige sagten noch, die Leistung solle entscheiden, wie viel jemand bekomme. Aber haben in Deutschland alle die gleichen Chancen? Kann jemand so viel leisten, dass mehrere Millionen Gehalt gerechtfertigt sind? Sind vier Euro in der Stunde ein gerechter Lohn und ist Hartz IV eines Menschen würdig?
Der Reihe nach.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Keine Bildung - keine Chance.)
5. Setzen, Sechs!
Keine Bildung – keine Chance
In einem sind sich links und rechts, Lothar Bisky und Hans-Olaf Henkel einig: Bildungs- und Chancengerechtigkeit sind erstens das Wichtigste und zweitens in Deutschland in verheerendem Zustand. Egal ob OECD- oder PISA-Studie, das Ergebnis lautet immer: In kaum einem anderen westlichen Land werden Kinder aus ärmeren Familien so benachteiligt wie in Deutschland. »Nur hilft diese Einigkeit allein nichts«, sagt Klaus Klemm, 66, und geht Kaffee kochen. Der emeritierte Professor für Erziehungswissenschaften wohnt in einem schmucken Eckhaus im vornehmen Essener Süden und kommt wenig später mit einer Zahl wieder, die ihn verzweifeln lässt: Jedes Jahr fallen 150 000 Jugendliche aus dem deutschen Bildungssystem, bleiben ohne Ausbildung.
»Hundertfünfzigtausend! In zehn Jahren eineinhalb Millionen! Das ist eine Katastrophe für diese Jugendlichen und ein Desaster für unsere Gesellschaft, wir vergeuden Arbeitskräfte und wir schaffen einen Brandherd für die Zukunft. Denn diese Menschen werden nie andere Arbeit finden als die sogenannte prekäre.«
Die Gerechtigkeitsmisere im Bildungssystem ist auf frappierende Weise einzigartig, weil ziemlich wenig dagegen unternommen wird, obwohl man ziemlich genau die Gründe kennt: »In jeder Situation, in der für ein Kind eine schulische Weiche gestellt wird, werden Kinder aus bildungsfernen Schichten diskriminiert«, erklärt Klemm, »und je mehr Übergangssituationen ein Bildungssystem hat, umso stärker öffnet sich die Schere zwischen den sozialen Schichten.«
Er geht die Stationen durch: Kinder aus ärmeren Familien gehen seltener in den Kindergarten, »das ist schon für deutsche Kinder ein Nachteil, für Kinder mit Migrationshintergrund aber fatal«. Beim Übertritt aufs Gymnasium werden Kinder aus Akademikerfamilien dreifach bevorzugt: einmal von den Lehrern, die sie mehr als doppelt so häufig für das Gymnasium empfehlen als Kinder von Facharbeitern, selbst wenn diese gleich gut sind. Dann von ihren Eltern, die sie häufig auch gegen eine Lehrer-Empfehlung aufs Gymnasium schicken, und schließlich noch von dem höheren Grad der familiären Unterstützung in Akademikerhaushalten, angefangen bei der Hausaufgabenkontrolle bis zur Nachhilfe. Andersherum werden Arbeiterkinder in all diesen Punkten benachteiligt. Und selbst bei denen, die das Abitur schaffen, verzichten deutlich mehr auf ein Studium als Kinder von Eltern, die studiert haben.
Katja Urbatsch, 30, hat studiert, als Erste in der Familie, und musste sich ständig rechtfertigen in der Verwandtschaft, warum sie nicht arbeiten gehe. An der Uni bekam sie mit, dass viele Mitstudenten ihre Seminararbeiten von ihren Eltern korrigieren ließen. »Ich konnte mit meinen Eltern kaum übers Studium reden«, erzählt sie. Nach dem Studium gründete sie die Initiative ArbeiterKind.de, um Kindern aus Arbeiterhaushalten die Vorteile eines Studiums nahezubringen, sie zu ermutigen und ihnen Hinweise auf Stipendien und Fördermöglichkeiten zu geben, damit das Studium nicht am Geld scheitert. Ihre Idee schlug ein. Was als Internetseite mit ein paar Tipps begann, entworfen am Schreibtisch einer 38 Quadratmeter großen Studentenwohnung in Gießen, hat sich mittlerweile zu einem Programm mit tausend Mentoren an vielen deutschen Universitäten ausgewachsen und wurde sogar schon von der Bundeskanzlerin ausgezeichnet, vom Bundespräsidenten gelobt und mit dem Engagementpreis 2008 bedacht.
Allerdings: Was Katja Urbatsch für Gymnasiasten tut, bräuchten die meisten benachteiligten Kinder schon viel früher, damit sie überhaupt die Chance haben, es bis zum Abitur zu schaffen, meint Klaus Klemm. Zum Beispiel: Mehr und vor allem kostenlose Krippen und Kindergärten, »es ist absurd, dass Kindergärten Geld kosten, und das Studium zum Teil frei ist. Im Kindergarten wird die Basis gelegt; wer Abitur hat, ist aus dem Gröbsten raus«, in den Krippen und Kindergärten müsste Deutsch unterrichtet werden, »und zwar massiv«, es bräuchte mehr Ganztagsschulen und mehr Sozialarbeiter, um den Familien zu helfen, um auf die Problemgruppen einzugehen. Und schließlich bräuchte es Ausbildungsstellen für Hauptschüler außerhalb des dualen Systems von Lehre und Berufsschule, damit die Plätze für alle reichen. »Es ist unseres Landes nicht würdig«, sagt Klemm, »dass so viele Kinder keine gerechte Chance bekommen.«
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Sackgasse Hartz IV - das Ende aller Perspektiven.)
6. Das Ende aller Perspektiven
Die Sackgasse Hartz IV
Mittlerweile gibt es ganze Regionen in Deutschland, vor allem im Osten der Republik, die von der Entwicklung im restlichen Land abgekoppelt sind. Wo die Kinder der Hartz-IV-Empfänger unweigerlich wieder Hartz-IV-Empfänger werden. Ein Landstrich, der nicht ganz am Boden liegt, dem es aber auch nicht besonders geht, ist der thüringische Saale-Holzland-Kreis, Autokennzeichen SHK, dorthin geht die Reise jetzt. Zuvor noch ein kurzer Abstecher nach Berlin, zu Norbert Bolz, 56, Professor für Medientheoretik an der TU. Er blinzelt in einem Café am Pariser Platz in die Sonne und sagt: »Soziale Gerechtigkeit macht die Menschen unmündig.« Er lächelt, er weiß, dass das jetzt erst mal brutal klingt. Und natürlich: Aufmerksamkeit erzeugt. »Der Wohlfahrtsstaat produziert eine gewisse Mentalität, nämlich die der Betreuten, der Abhängigen. Wir züchten diese Hilflosigkeit geradezu. Jede Wohltat des Staates verschärft diese Unselbstständigkeit immer weiter. Wissen Sie, man kann auch zu sozial sein.«
Ist das so? Oder trügt die Perspektive von der gesellschaftlichen Plattform weit oben?
Einer, dem Norbert Bolz damit besser nicht kommen sollte, ist Dieter Schwalbe, 59, geboren in Weimar, wohnhaft in jenem Saale-Holzland-Kreis, kräftige Statur und in den Neunzigern mal vier Jahre CDU-Mitglied; bis 2005 technischer Leiter einer hessischen Firma, dann arbeitslos, dann Hartz IV. »Das ist entwürdigend und verletzend bis dorthinaus, das kann jeder gern mal selbst versuchen«, sagt er und beißt dabei auf jedes Wort, »man wird dauerhaft behandelt als sei man ein erwiesener Betrüger!« Schwalbe sitzt in einem kargen Kellerraum des Gymnasiums Stadtroda in Thüringen, dort leitet er noch bis Ende Juli eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, das Gymnasium wird hergerichtet, er bekommt 582 Euro im Monat dafür. Fünf arbeitslose Jugendliche, überwiegend sogar mit Ausbildung, sind ihm zugeteilt, vier von ihnen spachteln draußen an einer alten Natursteinmauer herum, einer fehlt unentschuldigt. Für den ABM-Einsatz bekommen sie rund 50 Euro mehr im Monat als den normalen Hartz-IV-Satz. »Und jetzt erklären Sie denen mal, dass sie dafür jeden Tag um sechs aufstehen sollen«, sagt Schwalbe.
Ab August werden sie alle wieder auf Hartz IV zurückfallen. »Aber das betrifft hier in der Gegend nicht einzelne Gestalten und nicht jeden Zweiten, sondern fast jeden«, sagt Dieter Schwalbe und nickt, wütend. Seine Frau zum Beispiel, Astrid Schwalbe, 58, pendelt jeden Monat von Stadtroda nach Göppingen in
Baden-Württemberg, wo sie 14 Tage am Stück in 24-Stunden-Bereitschaftsschichten als Altenpflegerin einer älteren Frau arbeitet. Schwalbe ist flexibel, mobil, motiviert, und verdient dennoch nicht genug, um davon leben zu können. Astrid Schwalbe ist eine von etwa einer hal-ben Million sogenannter Hartz-IV-Aufstocker, sie bekommt existenzsichernde Zuschläge, Arbeitslosengeld II. Sie ist eine von vielen im Saale-Holzland-Kreis, in der Region gibt es deutschlandweit die meisten Aufstocker, und sie alle werden in kaum einer Wahlkampfrede fehlen, wenn auch nur phänomenologisch, als die Menschen, die vom Lohn ihrer Hände Arbeit nicht leben können.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Mit Hartz IV ist in Deutschland ein strukturelles Misstrauen gegenüber den Menschen eingezogen.")
Die Schwalbes sind nicht verzweifelt über ihre finanzielle Lage, ein bisschen was ist gespart, sie kommen zurecht. Aber die Art und Weise, wie Hartz IV sich auswirkt, hinterlässt Spuren. »Das Gnadenlose«, sagt Dieter Schwalbe, »das macht mich rasend.« Dass seine Frau nichts davon hat, wenn sie über Weihnachten arbeitet, weil ihre Feiertagszuschläge mit dem Hartz-IV-Satz gegengerechnet werden, ist
nur eines von vielen solcher Beispiele. »Damit ist es also egal, ob jemand fleißig ist, das wird nicht belohnt, andersherum sind sie aber schnell bei der Hand mit Bestrafungen! Verstehen Sie? Ich will nicht viel Geld. Ich kann nicht einerseits auf Hilfe angewiesen sein und andererseits in Saus und Braus leben wollen. Aber ich möchte anständig behandelt werden.« Aus Wut haben die Schwalbes sogar schon mal auf Unterstützung vom Amt verzichtet, nach einem Monat mussten sie einsehen, dass sie das Geld brauchen.
Die beiden haben fünf Enkel. »Und auch Enkel von Hartz-IV-Empfängern haben jedes Jahr Geburtstag und wollen etwas geschenkt bekommen«, sagt Dieter Schwalbe.
»Mit Hartz IV ist in Deutschland ein strukturelles Misstrauen gegen-über den Menschen eingezogen«, sagt Stephan Lessenich, 43, Soziologe an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, nur eine halbe Stunde von Stadtroda. In seinem Buch Die Neuentdeckung des Sozialen beschreibt er, wie der Staat seit den Hartz-Gesetzen immer mehr von den Einzelnen erwartet, wie immer mehr die Verantwortung des Einzelnen, der Gesellschaft keine Last zu sein, betont wird. »Auf einmal gilt der erfolgreiche, motivierte, flexible Mensch als Normalmaß«, wettert Lessenich, »aber Himmelherrgott, das ist er eben nicht! Auch nicht, wenn man ihn mit Hartz IV gängelt und bestraft. Ihn permanent demütigt. Das hat einen gegenteiligen Effekt, damit motiviert man nicht. Menschen reagieren auf Drangsalierungsmaßnahmen mit Rückzug, mit Depressionen, mit Frust!«
Ist Hartz IV gerecht? Die es bezahlen, werden vielleicht sagen: Ja. Weil sie bei Hartz IV an Menschen denken, die nicht arbeiten wollen. Die kennt man, es sind die, die bei RTL 2 jeden Tag vorgeführt werden. Aber was, wenn der Wille da ist, aber das nichts nützt, weil es keine Arbeit gibt oder der Lohn zum Leben nicht reicht? Ist das gerecht, und vor allem: Kann ein Lohn gerecht sein, der so niedrig ist?
So niedrig:
2,73 Euro in der Stunde zum Beispiel für einen Leiharbeiter in Nordrhein-Westfalen.
3,00 Euro für eine Friseurin in Thüringen.
3,33 Euro für Astrid Schwalbe in Baden-Württemberg.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Was genau sollen gerechte Steuern und gerechter Lohn sein?)
7. Gerechte Steuern! Gerechter Lohn!
… und was genau soll das sein?
Hans-Olaf Henkel legt einen Ausriss aus der Bild-Zeitung auf den Tisch seines Berliner Büros, eine Liste, was Hartz-IV-Empfänger alles nicht bezahlen müssen. Er liest vor: keine Steuern, keine Krankenkasse, keine Miete, keine Heizkosten, keine GEZ und so weiter. Die Liste ist lang. »Es ist also eine Unverschämtheit, den Deutschen unter Verweis auf Hartz IV einzureden, sie hätten ein Armutsproblem. Hartz IV ist ein Anti-Armutsprogramm, ein Armuts-Verhinderungsprogramm, wer Hartz IV bekommt, ist gerade nicht arm und wird auch nicht ungerecht behandelt, im Gegenteil: Ihm wird durch die Gemeinschaft mehr geholfen als früher bei uns und als anderswo in der Welt!«
Wenn Hartz IV nicht ungerecht ist, was ist dann ungerecht, Herr Henkel? »Dass zehn Prozent der deutschen Steuerzahler 53 Prozent der Steuern zahlen. Das ist ungerecht. Aber natürlich auch, wenn ein Aufsichtsrat seinem Vorstandsvorsitzenden für eine schwache Leistung viel Geld zahlt.« Da sei es zu Auswüchsen gekommen, die unbedingt abgestellt gehörten.
Zu der Rechnung gehöre aber auch, dass der Vorstandsvorsitzende fast
50 Prozent Steuern bezahle. »Damit finanziert er eine Menge Hartz-IV-Empfänger. Im Übrigen finde ich es ungerecht, dass die Gleichen, die das soziale System finanzieren, sich dann auch noch von unseren Sozialpolitikern beschimpfen lassen müssen.«
Natürlich weiß Henkel, dass manche seiner klaren Ansichten ihn vielleicht arrogant wirken lassen und kalt und dass er deswegen in Talkshows weniger Beifall bekommt als die anderen. Aber er sieht sich als Anwalt der Vernunft, und weil er das Gefühl hat, dass kaum noch jemand in Deutschland auf die Vernunft hört, und gleichzeitig die meisten anderen, die er für vernünftig hält, nur selten in Talkshows gehen, macht er das eben. »Jedes Mal erzählen mir die Redakteure, wer wieder alles abgesagt hat, welcher Bankchef, welcher Konzernlenker, welcher Verbandsfunktionär. So bleibt es dann an mir, die Dinge gerade zu rücken, die die Sozialpolitiker in den Talkshows gern verbiegen. Auch auf das Risiko hin, als der hartherzige Henkel zu gelten.«
Es gab auch bei der Planung dieser Reise eine Menge Absagen aus der Wirtschaft, 26 genau, vom Chef der Deutschen Bank Josef Ackermann, vom Chef der Commerzbank Martin Blessing, vom Deutschlandchef von Goldman-Sachs Alexander Dibelius, vom Siemens-Chef Peter Löscher, von Jürgen Schrempp, dem Ex-Chef von Daimler, von Hilmar Kopper, dem Ex-Chef der Deutschen Bank, und von Ex-Continental-Chef Manfred Wennemer. Die Liste der Absagen ist ähnlich lang wie die der Hartz-IV-Vergünstigungen. Sagt es vielleicht auch etwas über den Zustand der Gerechtigkeit in Deutschland, wer alles nicht dar-über sprechen möchte?
Dann sagt doch noch einer zu, der Chefökonom einer großen Bank; er will allerdings nicht für die Bank sprechen, also ohne Namen. Er sagt, dass Deutschland in den vergangenen Jahren vielleicht tatsächlich ein wenig zu
ungleich wurde. Zwar sei Gleichheit aus ökonomischer Sicht auch nicht unbedingt erstrebenswert, »weil es keinen eindeutigen Zusammenhang gibt zwischen der Gleichheit einer Gesellschaft und ihrem Wachstum. Zu starke Gleichheit ist nicht gut. Aber zu starke Ungleichheit eben auch nicht.« Sehr gleiche Länder wie die ehemalige Sowjetunion seien ineffizient, weil sich für die Talentierten Leistung zu wenig lohne. Sehr ungleiche Länder wie einige lateinamerikanische Staaten seien ineffizient, weil nur die herrschende Klasse richtig reich und alle anderen sehr
arm seien, da fehle die Aussicht auf Aufstieg. Das richtige Maß an Gleichheit zu finden, sagt er, sei sehr schwer, und dass das keine statische Sache sei, sondern immer wieder hoch und runter gehe.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie viel Gehalt ist gerecht für einen Vorstand?)
Dann erzählt er, dass die meisten Banken gerade folgendes Problem hätten: Sie haben wegen der Krise die Bonus-Zahlungen gekürzt, auch unter dem Druck der Öffentlichkeit. Jetzt drohen die besten Leute zu gehen. Also mussten sie einige Gehälter deutlich erhöhen, gerade auch in den Investment-Abteilungen. Dort, wo die großen Fehleinschätzungen gemacht wurden, ausgerechnet dort. »Das ist ein
Dilemma, so etwas lässt sich kaum kommunizieren. Aber wir brauchen die guten Leute, sie sind die Zukunft.«
Sollen ein Unternehmen oder dessen Aktionäre nicht mehr selbst entscheiden dürfen, was den Mitarbeitern bezahlt werden soll? Und wie viel Gehalt ist gerecht für einen Vorstand? Das Zehnfache eines Angestellten oder das Hundertfache? Das Tausendfache? Für eine tausendfache Leistung? Oder für die Verantwortung, das Risiko? Selbst wenn der Mensch für seine Fehler nicht haftet? In Amerika steht die Bank Goldman Sachs unter dem staatlichen Rettungsschirm und tut gerade alles, um da wieder rauszukommen, so schnell wie möglich. Auch weil Barack Obama als Bedingung für den staatlichen Kredit von zehn Milliarden Dollar festgelegt hat, dass es eine Gehaltsobergrenze von 500 000 Dollar pro Jahr gibt. Ist das der gerechte Lohn für einen Manager? Ein vernünftiger Lohn? Oder eher die Neid-Untergrenze, das Maß an Ungleichheit, das allgemein verträglich ist?
Würzburg ist nicht Amerika, aber Peter Bofinger, 54, einer der fünf Wirtschaftsweisen, ist dort Professor für Volkswirtschaft und sagt, gut verdienende Manager seien doch nicht das Problem, »sondern dass sich die Gerechtigkeit aus dem deutschen Wirtschaftssystem verabschiedet hat und aus dem Prinzip ›Wohlstand für alle‹ nun ›Luxus für wenige‹ geworden ist. Nach oben gibt es keine Grenze, und in Richtung unten schreien sie: ›Keine Mindestlöhne!‹, als ginge es um Freiheit oder Sozialismus! Dabei sind Mindestlöhne in Europa Standard. Wir sind der Geisterfahrer.«
Langsam wird das Gefühl stärker, dass man raus sollte aus dem politischen Betrieb und vielleicht ganz anders weiterfragen: Was würde Gott dazu sagen? Wen würde Jesus wählen? Diese Fragen machen Friedhelm Hengsbach nervös, weil er sie nicht beantworten will. Dabei ist der Jesuitenpater und katholische Sozialethiker bekannt dafür, wenig Rücksichten auf etwaige Empfindlichkeiten seiner Kirche zu nehmen oder auf die Parteien, die dem Namen nach christlich sind, die Hengsbach aber eher nicht zur Wahl vorschlagen würde. Vor einiger Zeit rezensierte er die beiden Bücher Mehr Kapitalismus wagen. Wege zu einer gerechteren Gesellschaft des CDU-Politikers Friedrich Merz und Das Kapital des katholischen Bischofs Reinhard Marx und erzählt, dass er im Prinzip »beide gleichermaßen zum Kotzen« fand.
»Aber jetzt zur Gerechtigkeit, nicht?« Hengsbach schenkt Wasser ein, lächelt und sagt: »Sieht tatsächlich so aus, als sei die Gerechtigkeitsfrage in unsere Gesellschaft zurückgekehrt.« Und der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit, der nun wieder lauter vernehmbar sei, sei immer ein Ruf nach veränderten Machtverhältnissen. »Denn dass die Löhne oben so enorm geworden sind und unten so lächerlich gering und wir in Deutschland zum Teil Zwangsverhältnisse haben, ungerechte Verträge, das ist ja weder ökonomisch noch gesellschaftlich erklärbar. Es ist eine Machtfrage.« Arbeitgeber und Gewerkschaften seien nicht mehr auf Augenhöhe, nur so sei der brutale Druck erklärbar, den viele Arbeitgeber inzwischen auf ihre Angestellten ausübten. Und dass die Herrschenden soziale Unruhen befürchteten, davor warnten, sei schon ein Indikator für echte Spannungen in der Gesellschaft. Hengsbach lächelt. »Von oben wird natürlich die Stabilität des Systems gefordert, Ruhe ist erste Bürgerpflicht. Aber nicht jede Art von Unruhe muss schlecht sein.«
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Unruhe wächst.)
8. »Ich bin blank, dank Citibank«
Die Unruhe wächst
Eine sanfte Form sozialer Unruhe, damit ist ganz gut umschrieben, was der frühere Stern-Redakteur Thomas Walde, 69, ein kampfeslustiger Mann mit weißen kurzen Haaren und blitzenden Augen, seit vergangenen Herbst tut. Er entwarf in seinem reetgedeckten alten Bauernhaus in Hamburg-Vierlande am Computer ein Plakat, ließ es groß ausdrucken und laminieren, schraubte es an schmalen Brettern fest – »in Hamburg ist eine Menge Wind« –, befestigte es an einem langen Stab und stellte sich vor die Filiale seiner Citibank. Dort, wo man ihm seine inzwischen wertlosen Lehman-Papiere in Höhe von 15 000 Euro verkauft hatte. Walde war einer der Kunden, die von den Bankern intern mit dem Etikett A & D versehen worden waren: alt und doof. Auf seinem ersten Plakat stand: »Jetzt bin ich blank, dank Citibank.«
Es war November und kalt, aber Walde stellte sich fast jeden Tag vor seine Filiale, hielt sein Schild hoch, warnte Kunden vor der Bank. Er sah nicht ein, dass die falsche Beratung keine Folgen haben sollte. Inzwischen ist aus seinem Protest eine deutschlandweite Kampagne geworden; Zeitungen berichteten, es gibt eine eigene Internetseite. Nun geht es auch gegen andere Banken, die mit Lehman-Zertifikaten gehandelt haben, in Dutzenden Städten werden Mahn-wachen und Demonstrationen abgehalten. Und die Wut der meist grauhaarigen Demonstranten steigerte sich, als sie sahen, wie die Bundesregierung die Löcher der Banken mit Milliarden zuschüttete. Zum Jahrestag der Lehman-Pleite überlegt die Gruppe um Walde zu drastischeren Maßnahmen zu greifen, er selbst würde gern eine Bank besetzen. »Die sollen dann ruhig die Polizei rufen«, sagt er, »aber ich weiß nicht, ob die anderen sich das trauen. Ich finde, wir können ruhig mal ein bisschen aggressiver werden.«
Hamburger Rentner, die Banken besetzen wollen. Da muss was passiert sein in Deutschland.
»In unserem Land gärt es. Da hat sich viel Wut und Empörung aufgestaut. Das Gerechtigkeitsgefühl ist tief verletzt«, sagt der SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier. In Frank-reich entlädt die Wut sich schon, arbeitslose Jugendliche randalieren in den Pariser Vorstädten, Manager werden von ihren aufgebrachten Angestellten »gebossnappt«, im Büro festgehalten. Laut einer Umfrage rechnet eine knappe Mehrheit der Deutschen mit jenen Unruhen, vor denen Gesine Schwan und Gewerkschaftsboss Michael Sommer gewarnt hatten. Stehen die Deutschen kurz vor der Revolte? Entschuldigung? Ausgerechnet die Deutschen?
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Zu sehen ist davon wenig auf der Fahrt durch das Land, es ist nicht
so, dass die Sozialbauten an den Stadträndern von Duisburg oder Jena sichtlich verfallen und die Villen bei Köln frisch getüncht wären, es stehen keine Wachposten vor wohlhabenden Siedlungen und in den Innenstädten tobt nicht der Mob. Aber was wären, was sind Zeichen für ein ungerechtes Land, von dem die Menschen überall sprechen? Das verfallene Bahnhofsgebäude in Stadtroda, das einen anrührt, während man auf den verspäteten Zug nach Erfurt wartet? Die »Weg mit Hartz IV«-Graffiti, auf die man vereinzelt stößt, in Bochum, in Bremen? Auf das Schöne, das Friedliche aufmerksam zu machen fiele leichter: auf das verträumte Thüringer Land, das vor dem Fenster vorbeizieht, die erhaben wirkende Kulisse Brandenburgs mit seinen vornehmen Alleen oder den mächtigen Rhein, der breit und wuchtig dahinströmt.
Unruhig wirkt Deutschland erst in Berlin, wo ein Abfalleimer am Pariser Platz sechsmal in 20 Minuten auf Pfandflaschen durchwühlt wird, wo ein Gespräch in einem Kreuzberger Café ungezählte Male von bettelnden Händen unterbrochen wird, wo Kaiser’s-Filialen aus Solidarität zu Barbara E. besprüht werden mit Sprüchen wie »Gegen miese Jobs und ein schlechtes Leben« und wo gleich hinter der Verdi-Zentrale jemand ein schwarzes Plakat aufgehängt hat, auf dem steht: »Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten!«
In Bielefeld holt Wilhelm Heitmeyer tief Luft. Unruhen? In nächster Zeit? »Nein«, sagt der Konfliktforscher, das kann er sich nicht vorstellen. Arbeitslose, und um die ginge es hauptsächlich, seien eher kein revolutionäres Potenzial, die verarbeiteten das in Deutschland anders. »Sie ziehen sich zurück, verfallen in Depressionen oder betäuben sich mit Alkohol.« Gleichzeitig fehle den Deutschen – anders als den Franzosen – das Klassenbewusstsein für kollektive Aktionen, vielleicht auch eine charismatische Persönlichkeit, die zu gewaltsamen Protesten aufrufen könnte, »und dann auch die Verantwortung dafür übernimmt«. »Dennoch«, sagt er, »unterschätzen darf man das alles nicht. Sich ungerecht behandelt zu fühlen ist
eine unserer stärksten Antriebskräfte gegen andere vorzugehen. Auch gewaltsam.«
Wie bei den Mai-Unruhen? »Nein, das ist eher ein Ritual.«
Wie bei den brennenden Autos in Berlin? »Schon eher.«
Zu den fast 350 Brandanschlägen der vergangenen Jahre bekannte sich eine linke Gruppierung namens BMW, Bewegung für militanten Widerstand. Ihr vorgebliches Motiv: soziale Gerechtigkeit. Laut Bekennerschreiben protestieren sie mit den Aktionen gegen die »Gentrifizierung«, die Vertreibung von sozial Schwächeren aus bestimmten Bezirken, durch die Luxussanierung von Häusern.
»Sind die bescheuert?«, fragt Natalia Hauk, 28, blond, zierlich, große Sonnenbrille, in einem Straßencafé in Kreuzberg. »Warum zündet jemand, der für eine gerechte Gesellschaft ist, meinen Wagen an?« Ihr neun Jahre alter Mercedes CLK brannte in der Nacht zum 2. Mai in Friedrichshain, das gebraucht gekaufte Auto war ihr Traum, der Traum einer Frau, die mit 18 Jahren aus Russland, aus dem Uralgebiet, nach Deutschland kam, ohne ein Wort Deutsch zu können, die hier nach dem russischen auch noch das deutsche Abitur machen musste, weil das russische nicht zählte, und die dann Jura studierte. Obwohl die Frau auf dem Sozialamt ihr bei der Ankunft gesagt hatte: »Was wollen Sie denn Abitur machen? Das schaffen schon viele Deutsche nicht! Su-chen Sie sich lieber einen Job, gehen Sie arbeiten.« Jetzt ist Natalia Hauk Diplomjuristin. Das ist was. Dafür hat sich Hauk belohnt, mit dem Mercedes. So wird man zum Feindbild. Ist das gerecht?
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Am Ende der Reise im rau gewordenen Land.)
9. Am Ende der Reise
Das rau gewordene Land
Fehlt noch: die Perspektive von außen. Die gibt es auch in Berlin, und zwar bei Michael Burda, 50, Professor für Volkswirtschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Burda stammt aus New Orleans, sein amerikanischer Akzent klingt noch weich mit, und auch er sieht ein Deutschland, das unzufrieden ist mit sich. »Aber wenn die Deutschen das Gefühl haben, dass sie mehr Gleichheit wollen, weil sie das gerechter finden, dann können sie eine Partei wählen, die hohe Spitzensteuersätze anstrebt, Vermögenssteuer, Mindestlohn und vielleicht eine Begrenzung von Managerlöhnen oder Boni. In der Folge werden ein paar reichere Menschen das Land verlassen, aber das müssen die Deutschen dann eben in Kauf nehmen«, sagt er in seinem Büro, an der Wand die Harvard-Urkunde. Burda glaubt als Ökonom allerdings nicht, dass Umverteilung an der Unzufriedenheit der Deutschen etwas ändern würde: »Schauen Sie die USA und Dänemark an. In den USA wird weniger umverteilt, also weniger Gleichheit hergestellt, in Dänemark mehr umverteilt als hier.« Er lächelt. »Und wissen Sie was? Laut Glücksforschung sind die Menschen in beiden Ländern glücklicher als die Deutschen.«
Aber Deutschland ist eben ein Land, in dem Gerechtigkeit einer Umfrage zufolge für die meisten der allerwichtigste Wert ist, vor Toleranz, vor Freiheit. Und hier hat sich das Gefühl eingenistet, in einem zutiefst ungerechten Land zu leben, in dem kaum einer noch daran glaubt, dass jeder eine Chance hat. Und in dem sowohl die ganz unten wie auch die ganz oben in eigenen Welten leben; zu der einen gibt es kaum Zutritt, aus der anderen kaum einen Ausweg.
Die deutschen Zustände, die der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer seit Jahren analysiert, haben sich zu-gespitzt. »Die Spielregeln der Gesellschaft sind unsicher geworden. Die soziale Spaltung gefährdet die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft. Den Menschen fehlt Anerkennung, zum Teil fehlen auch schon Anerkennungschancen. Wir haben gelernt, Menschen nach Wirtschaftlichkeit zu beurteilen. Sie werden abgewertet, wenn sie nicht nützlich sind. Da verändert sich die moralische Substanz einer Gesellschaft.«
Zwei Wochen durch Deutschland, sechzig Jahre nach der Gründung,
zwanzig Jahre nach dem Mauerfall – und ein Gefühl dominiert: Wir waren schon mal näher dran an der Gerechtigkeit.
Das Land ist rauer geworden.Redaktionelle Mitarbeit: Till Krause, Martin Langeder, Ariane Stürmer