...fragen wir am besten eine AUTOrität

Der amerikanische Journalist Tom Vanderbilt kennt sich mit den psychologischen Geheimnissen des Straßenverkehrs aus wie kein Zweiter.

SZ-Magazin: Herr Vanderbilt, der deutsche Titel Ihres amerikanischen Bestsellers Traffic führt in die Irre. Das Buch heißt bei uns: Auto.
Tom Vanderbilt:
Ich habe lange mit dem Verlag diskutiert, aber die sagten, wenn wir den Titel wörtlich übersetzen, müssten wir das Buch »Verkehr« nennen, und alle würden denken, es handle von Sex.

Aber in Auto geht es genau genommen nicht um Autos, sondern um die Psychologie des Autofahrens. Sie schreiben sonst für die New York Times oder Vanity Fair über Design und Architektur. Wie kamen Sie darauf, ein Buch über den Straßenverkehr zu schreiben?
Ich stand morgens im Stau in New Jersey. Vor mir auf der Autobahn verengten sich die Spuren, ich musste einfädeln, und während ich mich fragte, ob ich lieber früh oder spät die Spur wechseln sollte, dachte ich: Autofahren ist ein Thema, das jeden beschäftigt. Warum scheint im Stau der Verkehr auf der anderen Spur schneller voranzukommen? Wieso passieren die meisten Unfälle bei herrlichem Wetter auf Strecken, die der Fahrer bestens kennt? Weshalb fahren wir an einem Fahrradfahrer mit Helm dichter vorbei als an einem ohne Helm?

Und: Soll man besser früh oder spät einfädeln?
In diese Frage haben manche Ingenieure und Verkehrswissenschaftler ihre Karrieren investiert. Die Antwort: Der heutige Stand der Forschung favorisiert das Einfädeln in letzter Sekunde. Höflichkeit bringt uns an dieser Stelle nicht weiter. Man muss den gesamten Straßenraum ausnutzen und sich notfalls vordrängeln. Dann kommen alle schneller voran. Sie sagen aber auch, eines der wesentlichen Probleme beim Autofahren sei die mangelnde Kommunikation. Menschen sind auf Blickkontakt angewiesen, um gemeinsam Probleme zu lösen. Studien haben bewiesen, dass wir in der Anonymität sehr viel schlechter kooperieren. Auf der Straße kommunizieren wir ständig, mit Blicken, mit Gesten, doch ab einer Geschwindigkeit von dreißig Kilometern wird der Augenkontakt unmöglich. Auch deswegen geht so vieles schief.

Was Auto zu einem der erfolgreichsten Sachbücher des letzten Jahres macht: Sie widerlegen gängige Überzeugungen. Zum Beispiel stellen Sie fest, dass auf besonders gut gesicherten Straßen mit Leitplanken und vielen Hinweisschildern oft mehr Unfälle passieren als auf derselben Straße im vermeintlich gefährlicheren Zustand vor dem Umbau.
Ein interessanter Fall aus Orlando, Florida: der U.S. Highway 50, Amerikas zweitgefährlichste Straße. In der Innenstadt wollten die Planer ein Sicherheitskonzept ausprobieren. Also verbreiterten sie die Straße, brachten Planken an und stellten Warnschilder auf. Die Zahl der Verkehrstoten stieg, weil die Fahrer im Schnitt schneller fuhren.

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Nach dieser Logik fahren wir also auch an Radfahrern mit Helm näher vorbei: Weil wir uns sicherer fühlen?
Korrekt.

Was macht eine Straße wirklich sicher?

Das hat mit dem Unterbewusstsein der Fahrer zu tun: Bei breiten Straßen mit vielen Schildern wiegen wir uns in Sicherheit. Das Gehirn des Fahrers schaltet ab. Deswegen passieren auch die meisten Unfälle auf Straßen, die der Fahrer kennt. Das Ziel der modernen Verkehrsführung liegt darin, dem Fahrer zu signalisieren, dass er jederzeit hellwach sein muss.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Auf die Unfallstatistik haben Schwellen und Blumenkübel keine messbare Auswirkung.)

Die in Deutschland beliebte »grüne Welle« zum Beispiel widerspricht diesen Erkenntnissen?
Vollkommen. In Paris und Mexiko-Stadt haben Untersuchungen gezeigt, dass der Zeitgewinn ohnehin minimal ist.

Sollte man lieber überall Hindernisse aufstellen?
Auch die bringen nur selten Erfolg. Weil Autofahrer zwischen den Hindernissen mehr Gas geben, um die verlorene Zeit aufzuholen. Auf die Unfallstatistik haben Schwellen und Blumenkübel keine messbare Auswirkung.

Sind Autofahrer überhaupt zu zähmen?
Einer meiner wichtigsten Informanten für das Buch war der holländische Pionier des Verkehrsingenieurswesens: Hans Monderman. Leider starb er vor Kurzem. Monderman war bekannt als der Mann, der Verkehrsschilder hasste. Doch seine Arbeit war komplexer. Sie basiert auf dem Gedanken, dass die »Welt des Verkehrs« und die »Welt des Menschen« zwei Universen sind. Der Verkehr ist unpersönlich, genormt, auf reine Effizienz ausgerichtet. Die Bedürfnisse des Menschen stehen denen des Autoverkehrs genau entgegen. Trotzdem diktiert das Auto unser Verhalten im öffentlichen Raum.

Außer in deutschen Fußgängerzonen, die dennoch furchtbar deprimierend wirken.
Nicht, weil dort keine Autos fahren. Es war gar nicht Mondermans Ziel, Autos zu verbannen.

Was wollte er?

1985 entwickelte er ein legendäres Konzept für das Städtchen Oudehaske in Holland, eine Art Heiliger Gral der progressiven Verkehrsplanung. Monderman verengte Straßen, asphaltierte sie mit Mustern und wandelte Kreuzungen in Kreisverkehre um. Er verbreiterte Fußwege und baute sogar optische Attraktionen an den Straßenrand. Das widersprach allen Regeln. Die Zahl der Unfälle sank um neunzig Prozent.

Sie zitieren in Ihrem Buch eine Frau, die für das deutsche Bundesverkehrsministerium arbeitet und sagt: In Holland passieren einige Dinge, die wir in Deutschland nie tun würden. Was hat sie gegen Mondermans Ideen?
Sie rümpfte die Nase über den holländischen Verkehr, als würden wir über Kiffer in Amsterdam reden. Dabei haben die Holländer eine deutlich bessere Unfallstatistik als die Deutschen. Mit ihr habe ich auch über die deutsche Autobahn geredet.

Und: Ihr persönliches Urteil über unseren ganzen Stolz?
Wunderbar. Auch Monderman war übrigens ein Fan, denn ihm gefiel die Effektivität. Hier konkurriert die »Welt des Verkehrs« nicht mit der »Welt des Menschen«, und deswegen passieren relativ wenig Unfälle.

Sie haben auf allen Kontinenten recherchiert. Was fiel Ihnen sonst noch in Deutschland auf?
Neulich war ich in München: Da bleiben die Fußgänger an jeder roten Ampel stehen! Ein Phänomen, auf das man nur in Ländern stößt, in denen das Leben sehr geregelt abläuft. Zum Beispiel auch in Skandinavien. Das andere Extrem ist Hanoi, die Stadt mit der höchsten Motorraddichte der Welt. Dort macht jeder, was er will, und wer die Straße überquert, kann nur hoffen, nicht erwischt zu werden. Nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt und bin wie ein Vietnamese zwischen den Mofas hindurchgelaufen. Verblüffend, wie gut diese Lösung funktioniert.

Auch die Amerikaner sind schlechte Autofahrer. Warum?
Wie weit wir in der Unfallstatistik zurückgefallen sind, hat mich in der Tat schockiert. Wir haben schlechte Straßen und bauen zu schwere Autos. Es ist auch nicht wirklich hilfreich, dass jeder einen Führerschein hinterhergeschmissen bekommt. In Kalifornien wurde jetzt sogar die praktische Fahrprüfung von 30 auf 20 Minuten verkürzt.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Autofahren ist eine Tätigkeit, für die man uns weder lobt noch kritisiert.)

Neigen die Amerikaner auch leichter als andere zur Selbstüberschätzung?
Das ist ein globales Problem. Autofahren ist eine Tätigkeit, für die man uns weder lobt noch kritisiert. Niemand sagt uns, ob wir eine gute Leistung am Steuer abliefern. Es fehlt, was Verhaltenspsychologen den »Feedback Loop« nennen. Piloten zum Beispiel trainieren es, sich gegenseitig zu korrigieren. Die Statistik sagt: Wenn wir Beifahrer haben, verursachen wir nur halb so viele Unfälle, weil wir uns beobachtet fühlen. Leider befindet sich bei 96 Prozent aller Fahrten nur der Fahrer im Auto.

Albert Einstein sagte: »Jeder Mann, der behauptet, er könne sicher fahren, während er ein Mädchen küsst, schenkt dem Kuss nicht die Aufmerksamkeit, die er verdient.«
Einstein umschrieb damals auf elegante Weise, was die Verkehrswissenschaft erst sehr spät begriff: Wenn Sie nicht als Atomphysiker oder Gehirnchirurg arbeiten, ist das Autofahren vermutlich die komplexeste Tätigkeit, die Sie regelmäßig tun. Nach neuesten Erkenntnissen koordinieren wir dabei bis zu 2500 verschiedene kognitive und motorische Fähigkeiten. Wir operieren mit einer kraftvollen, gefährlichen Maschine bei einem Tempo, das unsere natürlichen Fähigkeiten weit übersteigt. Gleichzeitig müssen wir eine Masse an Informationen verarbeiten und dauernd neue Entscheidungen treffen.

Deswegen gehen Sie streng ins Gericht mit Leuten, die am Steuer telefonieren oder essen.
Solange wir nicht abgelenkt sind, bewegt sich unser Fokus ständig in die Richtung, in der wir die wichtigsten Informationen vermuten. Wir beobachten einen Fahrradfahrer am Straßenrand oder eine Baustelle. Sobald wir telefonieren oder essen, konzentriert sich der Fokus auf einen Punkt irgendwo am Ende der Motorhaube. Die Unfallhäufigkeit nimmt übrigens mit der Dauer des Telefonats exponentiell zu. Am gefährlichsten sind aber Fahrer, die auf ihrem iPod einen Song suchen.

Gibt es Autos, die besonders häufig in Unfälle verwickelt sind?
Alle Wagen, die dem Fahrer ein Gefühl von Sicherheit suggerieren – Fahrzeuge, in denen man erhöht sitzt, also vor allem SUVs und Jeeps. Die sind auch deswegen gefährlich, weil sie wegen ihres Gewichts bei dem anderen Auto einen vielfach schlimmeren Schaden verursachen.

In Auto haben Sie viele Fachleute zitiert, die ihr Leben dem Straßenverkehr verschrieben haben. Sie beschreiben diese Theoretiker auf sehr unterhaltsame Art – Ihr Lieblingsexperte neben Monderman?

Der schillerndste Charakter war ein Mann, der in der zentralen Verkehrskontrolle von Los Angeles gearbeitet hat. Ich verbrachte die Oscar-Nacht mit ihm, und
er hatte größtes Vergnügen daran, die Kolonnen von Limousinen zu koordinieren, damit sie pünktlich bei der Gala vorfuhren. Er kam sich vor wie ein Gott. Ein paar Monate später wurde er verhaftet, weil er nicht aufhören konnte, Gott zu spielen. Ständig brachte er den Verkehr durcheinander, er schaltete zum Beispiel manche Ampeln in alle vier Richtungen auf Rot.

Welches Auto fahren Sie eigentlich?
Von den Tantiemen meines Buches habe ich mir einen Kombi von Subaru gekauft.Ist das Auto überhaupt noch ein adäquates Verkehrsmittel im 21. Jahrhundert? Die Industrie wird sich nicht so einfach verdrängen lassen. Wir werden neue Technologien haben, aber Autos werden nicht aus unserem Leben verschwinden.

Wie schätzen Sie Ihre Qualitäten als Fahrer ein?
Mit all dem Wissen, über das ich inzwischen verfüge, würde ich behaupten: etwas besser als der Durchschnitt.

Das Buch "Auto" von Tom Vanderbilt ist im Verlag Hoffmann und Campe erschienen.