Die Flucht ins Ich

Als Sänger und Kopf der Band Blumfeld war Jochen Distelmeyer jahrelang der Liebling des deutschen Feuilletons. Jetzt tritt er solo auf und versucht, in der Musik zu sich selbst zu finden. Begegnung mit einem Mann, der alles sehr, sehr ernst meint.

Bildunterschrift"Ich fühlte mich befreit, und eine Ahnung, die ich seit Jahren mit mir herumgetragen hatte, wurde zur Gewissheit: dass ich allein bin mit dem, was ich tue."
Am 25. Mai 2007 wurde Jochen Distelmeyer von einem Gewitter geweckt. Ein Sturm fegte durch Hamburg, Blitze zuckten über dem Hafen. »Sonderbar«, sagt er, »ein paar Wochen vorher hätte ich das Unwetter noch als Zeichen verstanden, als Symbol für irgendwas, aber an diesem Morgen sah ich aus dem Fenster und dachte mir: Nee, Jochen, das ist einfach nur ein Gewitter.« Distelmeyer hält inne, der Gedanke scheint ihm wichtig: »Ich fühlte mich befreit, an einem Endpunkt angekommen«, sagt er, »und eine Ahnung, die ich seit Jahren mit mir herumgetragen hatte, wurde zur Gewissheit: dass ich allein bin mit dem, was ich tue.« Ein paar Stunden später gab Distelmeyer sein Abschiedskonzert mit Blumfeld. Es war das Ende der ungewöhnlichsten deutschen Band der letzten 15 Jahre.

Zwei Jahre danach hat Distelmeyer, 42, ein Soloalbum aufgenommen, Heavy heißt es. Er hätte auch ein Buch oder ein Theaterstück schreiben können, Anfragen gab es, »aber ich kann nicht ohne Musik«, sagt er. Sein ganzes Leben sei ein einziger Gesang, ein Klingen, auf einmal seien ihm wieder überall Melodien in den Sinn gekommen. In der Musikzeitschrift Spex hieß es: »Distelmeyer hat eine post-poststrukturalistische Platte gemacht.« Fragt man ihn, was das heißt, sagt er: »Keine Ahnung, I don’t know«, und zündet sich eine Zigarette an; er wirkt konzentriert, wenn er daran zieht, fast andächtig, man möchte ihn malen, so elegant sieht er aus, wenn sich seine Wangen nach innen wölben und er dann den Rauch bedacht zur Seite bläst. Ein höflicher Mensch, blass, mit Scheitel und schmalen, ernsten Lippen. Wer einmal gesehen hat, wie Distelmeyer auf der Bühne seine Zigarette zwischen die Gitarrensaiten klemmt und lossingt, immer links außen, nie in der Mitte stehend, der ahnt: Dieser Mann tut nichts ironisch oder nebenbei oder einfach so. Nicht rauchen. Nicht sprechen. Nicht singen. Der meint alles ernst, vor allem sich selbst. »Ich mache Sachen, weil ich etwas will, nicht, weil ich was verhindern will«, sagt er. Aber was will Jochen Distelmeyer? Seit 1992 galten Blumfeld – der Name stammt aus einer Kafka-Erzählung – als Stimme einer Gegenkultur, intellektuell, akademisch, antikapitalistisch, irgendwie links, aber nicht wirklich; dazu waren die Band und vor allem ihr Sänger zu smart, zu chic. Frühe Lieder hießen Von der Unmöglichkeit Nein zu sagen, ohne sich umzubringen oder Penismonolog. Es waren privatphilosophische Selbstgespräche eines Intellektuellen, der keine Ausbildung gemacht und nie studiert, aber Adorno gelesen hatte oder zumindest so tat, als ob. Ende der Neunziger dann die Wende: Blumfeld tauschten Protest gegen Privatheit, Distelmeyer reimte »spüren« auf »berühren« und besang Liebe, Familie und Kinder, das kleine Glück im Winkel, irgendwann nur noch Igel, Schmetterlinge und Apfelsorten. Es schien, als sei er endgültig an der Diktatur der Angepassten verzweifelt, als begebe sich da einer, der die Menschen nicht mehr ertragen konnte, auf seine ganz persönliche Weltflucht. Am Ende hielten ihn selbst die Feuilletonisten für durchgeknallt, die ihn zuvor zum »Messias der deutschen Pop-Intelligenz« gekrönt hatten. Erst im Rückblick erschließt sich, was Distelmeyer da losgetreten hatte: Ja, er war Vater geworden, das auch, vor allem aber wollte er noch tiefer ins wirkliche Leben vorstoßen, so ehrlich, so geradeaus, so direkt, dass er die Dinge irgendwann beim Namen nennen musste.

Seitdem spricht er mit Journalisten nur noch von »Feuilletonmetaphernhöfen«, auf jeden Fall so, dass man ihn kaum versteht, in seinen Texten ist ein Herz ein Herz, und wenn es sich auf Schmerz reimt, umso besser. Distelmeyer war kein Fall für Florian Silbereisen geworden, er war nur radikaler und ehrlicher als sein Publikum. »Liebeslieder«, sagt er, »sind der Ausdruck meines Versuches, achtsam und ohne die Augen zu verschließen mit meiner Liebe zu leben und sie in Gänze zu erfahren, mit allem, woraus sie sich zusammensetzt. Seit ich denken kann, will ich beides: in der Musik leben und das Leben leben, harmonisch, aber getrennt voneinander.« Ingmar Bergman, der Regisseur, sei immer einer seiner Helden gewesen – bis er ihn vor ein paar Jahren in einem Fernsehinterview gesehen habe: »Er flirtete mit der jungen Journalistin und ich erkannte in ihm nur noch einen alten, traurigen Mann, der vor den Menschen auf eine Insel geflüchtet war und seine Ängste und Dämonen, notiert auf einem Zettel, in der Hosentasche bei sich trug.«

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Distelmeyer flieht nicht, er stellt sich. Und er schaut nicht auf die Welt herab, er schaut ihr in die Augen. Und nun, mitten in der größten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren, hat er eine astreine, weise und wunderschöne, aber wieder keine politische Platte gemacht. Er habe den Wahnsinn doch schon kommentiert, lange bevor Peer Steinbrück sich schützend vor die Spareinlagen der Deutschen gestellt hat. »Du hast die Zeichen ignoriert / und dich dabei verspekuliert / jetzt stehst du da und tust schockiert« heißt es in dem Lied In der Wirklichkeit, es stammt aus dem Jahr 2003. Leitmotiv der neuen CD: die erlösende Kraft der Musik. Musik transportiert keine Botschaften und Erkenntnisse mehr, Musik ist die Botschaft, ist Gemeinschaft und sinnstiftende Kraft, vielleicht sogar die Lösung, »zumindest der Zugang zu Lösungen«, sagt er.

»Einsam sein ist keine Kunst«, heißt es auf dem neuen Album. Oder »Wenn Musik erklingt, dann weiß ich, ich bin nicht allein«. Einmal singt er: »Alles, was ich weiß, ich bin nicht wie ihr.« Er stellt sich ins Abseits, schaut von außen auf die Welt, aber nicht mit gerümpfter Nase, sondern mit einem gütigen Blick auf die Menschen. »Ich bin kein Politiker«, sagt er, »ich bin Sänger meiner Songs, Teil des fahrenden Volks, ich singe meine Lieder. Mehr isses nich.« Er meint es ernst. Jochen Distelmeyer ist ein sonderbarer Mensch. Nach einem Gespräch mit ihm hat man das Gefühl, dass man selbst hoffnungslos angepasst und schrecklich normal ist.

Tobias Haberl empfiehlt als Einstieg in die Welt von Jochen Distelmeyer das Blumfeld-Video zu Tausend Tränen Tief. Auf Youtube, mit Helmut Berger als Protagonist.

Tibor Bozi (Foto)