"Man kann etwas tun oder es sein lassen"

Interviews mit Menschen, die wir gut finden. Diese Woche: Liz Murray, die obdachlos war und jetzt in Harvard studiert.

Respekt, Frau Murray, Sie waren obdachlos und haben jetzt Ihren Psycho-logie-Bachelor in Harvard bestanden.
Liz Murray: Danke! Spätestens ab 2011 möchte ich promovieren und dann als Psychologin Menschen helfen. Ich habe genug Erfahrungen gemacht, um zu wissen, wo man ansetzen muss, um sein Leben zu ändern.

Welche Erfahrungen meinen Sie?
Ich wuchs zusammen mit meiner Schwester Lisa in der Bronx auf, unsere Eltern waren drogenabhängige Sozialhilfeempfänger. Sie hatten sich beim Drogenkauf kennengelernt; das war eine Art Nebenjob meines Vaters, während er Psychologie studierte. Sie bezahlten von der Sozialhilfe ihre Drogen, dafür haben sie auch unseren Fernseher und mein Fahrrad verkauft. Meine Mutter war schizophren und fast blind, mein Vater litt an Zwangsneurosen, beide hatten Aids. Wann wurden Sie obdachlos?
Mit 15 Jahren. Unsere Familie war da schon auseinandergebrochen. Meine Mutter lag im Krankenhaus, mein Vater lebte im Heim, Lisa bei einem Ex-Freund unserer Mutter. Ich war aus dem Wohnheim ausgerissen, ging fast nie zur Schule und schlief bei Freunden oder in der U-Bahn. Was ich so brauchte, Lebensmittel, Bücher, klaute ich.

Wann änderte sich Ihr Leben?
Der Tod meiner Mutter war mein Weckruf. Bis dahin lebte ich im »Später«-Modus: In die Schule geh ich später. Einen Job suche ich später. Als meine Mutter tot war, begriff ich: Es gibt kein »Später«. Man kann etwas tun oder es sein lassen, das ist alles.

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Und, was haben Sie getan?
Ich ging wieder zur Highschool, obwohl ich zu alt war und schlechte Noten hatte. Zum Glück fand ich einen Lehrer, der mich unterstützte. Ich arbeitete sehr hart, wurde besser und bekam schließlich nur noch Einsen.

War das schon Ihr Ticket nach Harvard?
Ja, die besten Highschool-Absolventen bekamen nämlich einen Ausflug nach Harvard geschenkt. Ich war vom Campus fasziniert, aber als die Bewerbungsunterlagen kamen, dachte ich: Wie soll ich die vielen tausend Dollar Studiengebühren bezahlen? Dann hörte ich von einem Stipendium der New York Times. Die Aufgabe war, einen Aufsatz zu schreiben über die Schwierigkeiten, die man im Leben schon gemeistert hat. Da dachte ich nur: Danke, mein Thema.

Haben Sie das Stipendium bekommen?
Einige Wochen später. Ich hatte an diesem Tag sogar drei Bewerbungsgespräche: In der Früh ging ich zum Sozialamt, um neue Lebensmittelmarken abzuholen. Mittags war das Harvard-Vorstellungsgespräch, danach musste ich zur Times, wegen des Stipendiums. Das Einzige, was nicht klappte, war das mit den Lebensmittelmarken.

Neben Ihrem Studium arbeiten Sie auch als Motivationscoach. Wie kam es dazu?
Das begann mit einem Missverständnis. Ich wurde eingeladen, auf einer Veranstaltung von Stephen Covey zu reden. Covey hat ein berühmtes Selbsthilfe-Buch geschrieben, das ich auch mal geklaut und gelesen hatte. Ich habe zugesagt, ohne zu wissen, auf was ich mich einlasse. Plötzlich stand ich vor 3000 Menschen, und der Redner nach mir war Michail Gorbatschow. Aber ich überwand die Angst, und nach dem Auftritt bekam ich weitere Einladungen. Inzwischen habe ich 75 bis 100 Auftritte im Jahr.

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Liz Murray, 29, studiert Psychologie und lebt in Cambridge und New York.
Ihr Leben klingt nicht nur filmreif, es wurde tatsächlich verfilmt -
From Homeless to Harvard. Ihre Autobiografie wird nächstes Jahr erscheinen. Sie sagt, sie würde sich nicht darüber aufregen, sollte ein obdachloses Kind dann ein Exemplar davon stehlen.