These 5: Und was folgt auf das amerikanische Jahrhundert?

Es spricht einiges dafür, dass wir gerade am Beginn des chinesischen Zeitalters stehen.

Hat der Westen die Orientierung verloren? Er hat auf jeden Fall kein
Gefühl für die Zukunft. Er verschließt die Augen vor dem Aufstieg Chinas, und während er immerhin zugesteht, dass in China ein ökonomischer Wandel stattfindet, weigert er sich anzuerkennen, dass dieser Prozess mit der Zeit weitgreifende politische, kulturelle und intellektuelle Auswirkungen nach sich ziehen wird. Der Westen kann sich keine andere Form der Modernität vorstellen als die eigene. Und er ist fest im Glauben verhaftet, eine Modernisierung in Ländern wie China müsse zwangsläufig in eine Verwest-lichung münden.

Doch China wird kein Abziehbild sein. Das moderne Leben wird von Geschichte und Kultur ebenso sehr geprägt wie von Märkten und Technologie. Die chinesische Moderne wird eine eigene Ausprägung haben. Und während China zu einer Weltmacht heranwächst, wird es auch einen vollkommen anderen Einfluss auf die Welt ausüben, als es die Vereinigten Staaten im vergangenen Jahrhundert taten. Wie wird also die chinesische Hegemonie aussehen? Was werden ihre Merkmale sein? Es gibt Mutmaßungen, China könnte eine Expansionsmacht nach dem Vorbild der USA und des britischen Königreichs werden. Ich bezweifle das. Europäische Staaten und die USA gingen meistens aggressiv und expansionistisch vor – die europäischen Staaten sogar über viele Jahrhunderte hinweg. Im Gegensatz dazu hat China nie Überseeterritorien kolonisiert, obwohl es Mittel und Gelegenheiten dazu hatte. Vielmehr wird sich Chinas markanteste Form der Expansion sehr wahrscheinlich auf kultureller Ebene finden, und das betrifft auch die Massenkultur, also das, was wir vereinfacht Pop nennen können.

China war, historisch gesehen, zuallererst eine große Kulturmacht. Das Land blickt zurück auf eine der ältesten und bemerkenswertesten Schriftsprachen, eine außergewöhnlich reiche Literaturtradition, große Philosophen wie Konfuzius und eindrucksvolle Zeitspannen, in denen ständig neue Erfindungen entstanden. Das ist der Grund, weshalb die Chinesen so stolz auf ihre Zivilisation sind (und sich selbst durchaus als anderen überlegen betrachten).

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Als armes Land war China natürlich bis heute nicht in der Lage, sich auf moderne und überzeugende Weise zu präsentieren. Immerhin – bei den Olympischen Spielen in Peking, einer gigantischen Pop-Inszenierung, durften wir einen Blick darauf erhaschen, wie China zukünftigen Generationen erscheinen wird: in der Anmut des »Vogelnests«, in der mitreißenden Wucht der Eröffnungsfeier und der Schilderung der Geschichte Chinas.

Das Gesicht der Kulturmacht China wird sich sehr von dem der Vereinigten Staaten unterscheiden. Und das hat natürlich auch eine politische Dimension: Während Letztere ein Gebilde neuesten Datums sind, das auf der Vernichtung seiner indigenen Völker und folglich seiner vorangegangenen Geschichte fußt, ist China Tausende von Jahren alt. Wo die Amerikaner ständig den Drang verspüren, sich selbst neu zu erfinden, wissen die Chinesen schon ganz genau, wer sie sind.

Den Kern der amerikanischen Psyche bilden ein zuversichtlicher Individualismus und ein tiefer Argwohn dem Staat gegen-über; die Chinesen, die weit davon entfernt sind, den Staat als Fremdkörper zu betrachten, bringen ihm Ehrfurcht entgegen (und nein, wir ignorieren nicht, dass der chinesische Staat kritische Bürger unterdrückt, aber das ist ein anderes, schwerwiegendes Thema, und darum soll es an dieser Stelle nicht gehen).

Mit dem Aufstieg Chinas als (Pop-)Kulturmacht werden wir eine weitreichende Verschiebung der globalen Werte erleben. Wir können allmählich schon den Wandel im Wertesystem erahnen, den der Aufstieg Chinas prophezeit: Zivilisation vor Nationalismus; Staat vor Individuum; Geschichte vor Gegenwart; kulturelle Hierarchie vor mili-tärischer Expansionspolitik. Die chinesische Kultur ist dazu berufen, umfassenden Einfluss auf die Welt auszuüben, und wird mit der Zeit zweifellos die gegenwärtige Kulturvorherrschaft Amerikas verdrängen.

Martin Jacques, ehemaliger Kolumnist der britischen Times, ist Autor des Buches When China Rules the World: The Rise of the Middle Kingdom and the End of the Western World.