Kleiner Mann - was nun?

Reden halten, Klinken putzen, wieder reden, Wurst essen, Wahl verlieren, noch mehr reden: Der Alltag eines Politikers ist ernüchternd. Eine Bestandsaufnahme von Georg Diez.


Wer von der Politik redet, der muss von Menschen erzählen. Nicht von Programmen, Parteien, Theorien. Max Weber hat das schon vor neunzig Jahren gewusst. Lange bevor wie heute alles und jedes durch den Fleischwolf der Personalisierung gedreht wurde, schaute er sich die Psyche der Politiker an: Politik als Beruf hieß der Aufsatz, Weber interessierte sich für die Biografien der Politiker und war sich bis zuletzt nicht sicher, ob er den Typus des Berufspolitikers, den er doch loben wollte, wirklich für eine gute Idee hielt.

Auch Michael Glos ist da schwankend, so wie er sich auch nicht recht entscheiden kann, ob er nun mürrisch sein will oder doch eher ironisch. Er war mal groß in der CSU und dann glückloser Wirtschaftsminister, heute ist er 65 und ein einfacher Bundestagsabgeordneter. Sein Büro liegt mitten in Berlin in einem Haus mit vielen Eingängen, und wenn man seinen Personalausweis an einem der Eingänge abgegeben hat, dann holt einen ein Mitarbeiter ab, damit man sich nicht verläuft. In der weiten Eingangshalle schwebt ein riesiges Ruderboot, und wenn man will, kann man dieses herrenlose Boot als ein Symbol nehmen, weil ein Vorwurf an die heutigen Mittelmäßigen in der Politik ja der ist, dass es zu wenige Kapitäne gibt und zu viele Matrosen. Klaus Harpprecht, früher einmal Redenschreiber von Willy Brandt, hat diesen Ärger formuliert, als er neulich in der Zeitschrift Cicero der gegenwärtigen Berliner Politikergeneration ihre Schicksalslosigkeit vorwarf und auf seine eigene Geschichte blickte, die immerhin einen Weltkrieg aufweist. Ist das also das Problem? Oder ist es die Tatsache, dass sich ein Hamburger Parlamentspräsident vor seiner Haustür von der Stadtreinigung das Eis von der Straße kratzen lässt?

Dass sich Thilo Sarrazin immer mehr mit Clint Eastwood als Dirty Harry verwechselt und dabei ein sehr taktisches Verhältnis zu Zahlen, Daten und Fakten beweist? Oder geht es um die Frage, warum Jürgen Rüttgers und Guido Westerwelle so eine ganz eigene Vorstellung davon haben, wie Gemeinwohl und Eigenwohl zusammengehen?

Meistgelesen diese Woche:

Was ist passiert, wenn eine an sich schon etwas zwiespältige politische
Figur, nämlich der FDP-Fraktionsvorsitzende in Schleswig-Holstein, Wolfgang Kubicki, sagt: »Unsere politische Klasse befindet sich in einem elendem Zustand«?

Max Weber, so die Vermutung, könnte da eine Antwort liefern. Sein Aufsatz ist immerhin die Bibel der politischen Leitartikler, die sich gern an Weber-Worten wie »Gesinnungsethik« und auch »Leidenschaft« festhalten. Der genialische, getriebene Mann selbst erfand die deutsche Soziologie, brach zwischendurch zusammen und starb 1920, kurz nach der Veröffentlichung von Politik als Beruf. Also: Was ist das eigentlich heute für ein Beruf?

(Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der Beruf des Politikers tatsächlich aussieht und warum Michael Glos manchmal gern alles hingeschmissen hätte)

»Ich wollte immer unabhängig sein von der Politik«, sagt Michael Glos, der graue Haare hat und dieses beeindruckende Kinn. Wir sitzen im matschigen Licht des Berliner Morgens. »Ich wollte mich umdrehen können und gehen.« Aber er ist immer noch da. Geht in Ausschüsse, redet mit Journalisten, macht Politik, wie das dann immer so heißt, ohne dass man genau versteht, wie das wirklich funktioniert. Weber hatte schon die Vermutung, dass vor allem die Verwaltung Politik macht, und sein Aufsatz wirkt manchmal so, als wolle er sich selbst überzeugen, dass »sachliche Leidenschaft«, »Verantwortungsgefühl« und »distanziertes Augenmaß« wichtige Eigenschaften eines Politikers seien.

Glos vermeidet diese Worte und erzählt lieber von seinen Wurzeln in der Kommunalpolitik und von seinem Vater, der starb, als Glos zehn war. Glos war das älteste von drei Geschwistern, er machte erst die Realschule, später die Meisterprüfung zum Müller und übernahm auch den väterlichen Betrieb.

Das ist wohl das, was Klaus Harpprecht mit Schicksal meint, auch wenn man natürlich Minister werden kann, ohne Halbwaise zu sein. Aber irgendetwas haben diese Biografien schon zu tun mit dem Unbehagen an der Generation Randlos, jene Abgeschliffene-Brillen-Träger, die sich um Angela Merkel scharen. Seltsam asexuelle, unmännliche und weiche Management-Lemuren sind das, denen man auch zutraut, dass sie Tiefkühlkost nach Spanien verkaufen oder Reifen nach Österreich. Eckart von Klaeden etwa oder natürlich der Oberrandlose Ronald Pofalla, Merkels Kanzleramtschef, dem man eben nicht zutraut, dass er irgendwann, so sagt es der Soziologe Heinz Bude, »einfach die Brocken hinschmeißt«, weil er eben nichts anderes gelernt hat und kann als Politik.

Bude ist ein oft gefragter, dabei distanzierter Beobachter, der Sachen sagt wie: »Wir haben zu viele Politiker, die jemandem wie mir glauben.« Er mag Machiavelli und dessen offenen Umgang mit der Macht, er erzählt von dem Film Il Divo, der die Choreografie der Macht zeigte, die aus dem buckligen Guilio Andreotti erst den italienischen Ministerpräsidenten machte und dann einen göttlichen Teufel. Der Umzug nach Berlin, meint Bude, habe die deutsche Politik »dramatisch« verändert.

Er spricht vom »Bedarf an Bildern«, auf dem Politik gründet, von »Berlin als einer Bühne der gesteigerten Verkörperungserwartung«, von der Bunten, die Politik bildfähig gemacht habe. Für Bude bleibt es vor allem wichtig, »ob es einen geschichtlichen Schein im Bild des Politikers gibt«. So wie ihn »Schröder hatte oder auch Fischer als Nachkriegskind von einer fast Baselitz’schen Bedürftigkeit«.

Ein Widerspruch der Mediengesellschaft ist es nun, dass sie diesen »geschichtlichen Schein« oder einfach das Außergewöhnliche sucht, und die Menschen, die diese Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sich gleichzeitig, aus lauter Furcht hervorzustechen, bis zur Konturlosigkeit verleugnen. Für die Politik bedeutet das, dass wir regiert werden von Menschen, die uns auf den ersten Blick immer ähnlicher werden. Und natürlich erschrecken wir, wenn wir uns im Fernsehen in Gestalt von Ronald Pofalla wiedererkennen.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum es für Politiker wichtig ist, den Wählern wieder Visionen zu vermitteln)

Max Weber hat diese Medialisierung der Politik schon mitbedacht und einen Teil seines Aufsatzes den Journalisten gewidmet und den »ganz unvergleichlich viel schwereren Versuchungen, die dieser Beruf mit sich bringt«. Bude spricht mit Blick auf das heutige Berlin von einer »neuen Generation des politischen Journalismus«, die »etwas bewegen will«, die selbst Politik macht. Und Manuela Schwesig spricht von Guido Westerwelle, von Populismus und von medialer Zuspitzung.

Sie ist blond, sie spricht ruhig, sie schaut ernst und es ist richtig angenehm, mit einer Hoffnungsträgerin der SPD zu reden, die sich nicht dauernd für ihre ehemalige Volkspartei entschuldigt. Auf den ersten Blick könnte Schwesig, schon weil sie erst 35 Jahre alt ist und vor der Bundestagswahl 2009 von Frank-Walter Steinmeier herbeigezaubert wurde, wie jemand wirken, auf den das Verdikt der Konturlosigkeit zutrifft. Aber dann erzählt sie von ihren Erfahrungen in der Kommunalpolitik, wie sie verhinderte, dass eine Kita geschlossen wurde, wie sie etwas bewegen konnte, wie sie geerdet wurde, und auf einmal klingt sie ein wenig wie Michael Glos.

Schwesig verwendet oft die Worte sensibel und vorsichtig, wenn sie von den Politikern spricht. Sie spürt, sagt sie, eine Sehnsucht nach Direktheit, sie glaubt, dass Menschen das Visionäre wollten – das ist in etwa das, was Bude mit den Worten »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« meint und damit, dass »Politik es schaffen muss, die Aufstiegsmotivation der Bürger offenzuhalten, weil eine Gesellschaft, die den Glauben an den Aufstieg verloren hat, kaputtgeht«.

Auch Bude verwendet das Wort »vorsichtig«, um den gegenwärtigen Berliner Betrieb zu beschreiben. Aber er verteidigt auch »unser Personal«, da stehen wir, meint er, noch gut da im Vergleich etwa mit Frankreich oder England. In Angela Merkel sieht er jemanden, der »durch und durch« für die Politik lebe und »Klartext« rede, an Wolfgang Schäuble beobachtet er eine neue Form des »Charismas des Dienens«, Schäuble sei aber, wichtige Machiavelli-Lektion, auch in der Lage, »was Dreckiges zu tun«, genauer gesagt, 100 000 Mark als Parteispende anzunehmen und dann zu schweigen.

Schwesig spricht dagegen ganz unmachiavellistisch davon, dass man den Mut haben müsse, Entscheidungen zu hinterfragen, die SPD-Arbeitsmarktreformen etwa. Das klingt alles gut und richtig, trotzdem bleibt die Frage, ob es zu wenig Machiavelli gibt in Berlin, ob sich die Politik nicht zu sehr im Management erschöpft.

Machiavelli ist der Anti-Max-Weber, weil er das Individuelle und Dämonische über das System und das Mittelmaß stellt, die Macht gegen die Verantwortung. Jemand wie Philipp Rösler spricht viel von Verantwortung. Sein Büro ist deutlich heller als das von Michael Glos, aber Rösler ist ja auch noch Minister. Das Ambiente ist trotzdem ähnlich, von der gefälligen und seltsam gesichtslosen modernen Kunst im Wartebereich bis zu den müde modernistischen Sesseln.

Es ist keine Architektur der Macht, in der Rösler residiert, sondern eher eine der mittleren Verwaltung. Ein Ort der heutigen Politik, wie Vereinsgaststätten, Heimwerkermärkte, Fußgängerzonen, Computermessen, Rauchersalons, Hotel-lobbys und Vorstandsvorsitzendenbüros. Die Verantwortung ist die Schrumpfform der Macht, der Widerpart sind die sogenannten Interessen, und zumindest davon muss jemand wie Rösler als Gesundheitsminister eine Menge verstehen.

Er ist munter, fast aufgekratzt, obwohl es mal wieder ein Tag wird, an dem er viel zu erklären hat. Er bietet etwas Lakritze an und nimmt sich selbst zwei Stück. Dann zieht er sein Sakko aus, setzt sich und schaut einen direkt an, mit einem leichten Lächeln um die Lippen. Er hat eine sanfte Stimme und verwendet gleich zu Beginn das Wort Motivation, das eher aus der therapeutischen und Selbstverbesserungs-Gesellschaft des späten als aus Webers frühem 20. Jahrhundert stammt. Er ist schnell genug, um selbst zu Weber überzuleiten und darauf hinzuweisen, dass es Motivationsberater gebe, aber keine Leidenschaftsberater, weil Leidenschaft ja so ein wichtiges Wort war für Weber und Motivation eine Nummer kleiner ist.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler nicht der Obama der FDP sein möchte und mit 45 aus der Politik aussteigen will.)

Rösler wirkt fast übermotiviert. Er war am Tag der Geburt seiner Zwil-
linge im Bundestag und wurde als Minister vereidigt. Er ist höflich, wartet ab, hört zu, ist fast zu geschickt im Gespräch. Wenn einen Politiker früher seine Biografie prägte, ist es heute seine Beflissenheit. Rösler ist extrem wach, weist selbst darauf hin, dass er erst einen Teil einer Frage beantwortet habe und dass es einen Unterschied zwischen Macht und Autorität gebe.

Er weiß schon jetzt, dass Politik einen verändert und vor allem misstrauischer macht. Er hat angekündigt, dass er mit 45 aus der Politik aussteigen will. Er war Arzt, er wurde in Vietnam geboren, er ist Scheidungskind. Rösler hätte das, was Bude mit »historischer Signifikanz« meint. Aber er will nicht der Obama der FDP sein. Er will nur alles richtig machen. Und bleibt deshalb so widersprüchlich luftig.

Das Max-Weber-Klischee ist der Satz von den »dicken Brettern«, die man bohren muss in der Politik. Rösler sucht sich lieber ein anderes Brett, das er bohren kann, wenn das eine zu dick ist, und darin ist er durchaus stellvertretend für die gegenwärtige Politik von Versuch und Irrtum; Weber, und da ist Rösler ganz bei ihm, spricht von Ethik, aber auch vom drohenden »Fluch kreatürlicher Nichtigkeit«. Ins heutige Deutsch übersetzt bedeutet das ungefähr das Gleiche, wie wenn Rösler sagt, dass man ihn jetzt und vielleicht auch noch eine Weile mit »Guten Morgen, Herr Minister« begrüße, dass seine Kinder aber ihr Leben lang »Papa« zu ihm sagen werden.

Wir haben, mit anderen Worten, Politiker, die Weber übererfüllen und ihm gleichzeitig fremd sind. Sie sind darin natürlich nicht anders als wir selbst. Sie sind so freundlich und verbindlich, wie es die Dienstleistungsgesellschaft erfordert. Rösler redet vom Dienen, Schwesig spricht von Gemeinschaftlichkeit. Bilder, wie sie Bude beschrieb, gibt es von diesen Politikern wenige, fast sehnt man sich da nach Scharpings Irrlichtern im Swimmingpool. Aber so sind diese Zeiten. Unsere Politiker denken und handeln wie der schrumpfende Schnittmengenteil der Bevölkerung, jene blassdeutsche Mittelschicht, die die Umfragen bestimmt.

Politik ist nichts, was man vom eigentlichen Leben trennen kann. Natürlich ist sie ein »Spezialistensport« geworden, wie Bude sagt. Natürlich ist die Welt eine Blase, wenn man wie die Berliner Politiker und Journalisten zu lange im »Café Einstein« Unter den Linden sitzt. Natürlich ist Schicksal nicht etwas, was man einfach mal so verschreibt.

»Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will«, so beendete Max Weber seinen Aufsatz vor neunzig Jahren, nur der habe den »Beruf« zur Politik. Michael Glos würde bei so einem Satz sicher schief lächeln, wie ein müdes Krokodil.

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Überrascht war Georg Diez, 40, wieder einmal von dem etwas Wauwau-haften Auftreten der Pressesprecher. Sitzen da neben ihrem Politiker in einer Mischung aus Unterwürfigkeit und Beschützergestus. Was immer den vermutlich irreführenden Eindruck hinterlässt, sie würden ihren Chefs nicht zutrauen, selbst auf das aufzupassen, was sie da sagen. Aber was, wenn sie damit recht hätten?

Fotos: dpa, ddp, ap,