Ich stehe vor Tante Margits Grab und versuche, mich an ihr Gesicht zu erinnern, aber es gelingt mir nicht. Wenn ich an Tante Margits Gesicht denke, sehe ich immer nur ihre Zunge.
Es ist ein schlichtes Grab, Friedhof Castagnola, am Fuße des Monte Brè am Luganer See – nur eine einfache Granitplatte, obwohl Margit eine der reichsten Frauen Europas war und Bescheidenheit eigentlich nicht ihre Tugend. »21. Juni 1911 – 15. September 1989 Margit Batthyány-Thyssen«. Eine Enkelin pflegt das Grab, sie hat gelbe Chrysanthemen vorbeigebracht, die Erde im Topf ist frisch.
In meiner Kindheit gingen wir zweimal im Jahr mit ihr essen, immer im »Hotel Dolder« in Zürich, mein Vater fluchte schon auf der Hinfahrt und rauchte in unserem Opel eine Zigarette nach der anderen, meine Mutter kämmte mir die Haare mit einem Plastikkamm. Wir nannten sie Tante Margit, nie Margit, als wäre Tante ein Titel, in meinen Erinnerungen trägt sie Kostüme, zugeknöpft bis zum Hals, und Seidenschals mit Pferdemotiven.
Sie ist groß, ein gewaltiger Oberkörper auf dünnen Beinen, ihre Krokodilledertasche ist bordeauxrot und hat goldene Verschlüsse, und wenn sie erzählt, von der Rehbrunft oder von Schiffsreisen in die Ägäis, dann streckt sie in den Pausen zwischen den Sätzen ihre Zungenspitze heraus, wie eine Eidechse, sie tut es, wie andere Menschen dauernd in den Haaren spielen oder sich an die Nase fassen. Ich sitze so weit wie möglich von ihr entfernt, Tante Margit hat Kinder gehasst, und während ich in der geschnetzelten Kalbsleber herumstochere, schaue ich immer wieder zu ihr hin. Ich will diese Zunge sehen.
Nach ihrem Tod sprachen wir nur noch selten von ihr, meine Erinnerungen an diese Mittagessen verblassten, bis ich im Jahr 2007 zum ersten Mal von diesem österreichischen Dorf las: Rechnitz. Von einem Fest. Von einem Massaker. Von 180 Juden, die erschossen wurden und sich zuvor nackt ausziehen mussten, damit ihre Leichen schneller verwesen. Und Tante Margit?
Sie war mittendrin.
Ich rufe meinen Vater an und frage ihn, ob er davon gewusst habe. Ich höre, wie er eine Weinflasche entkorkt, und sehe ihn vor mir auf diesem abgewetzten Sofa, das ich so mag, in seinem Wohnzimmer in Budapest. »Margit hatte eine Affäre mit einem Nazi namens Hans-Joachim Oldenburg, das hat man sich in der Familie erzählt.«
In der Zeitung steht, sie habe ein Fest organisiert, als dessen Höhepunkt 180 fast verhungerte Juden den Gästen vorgesetzt wurden. Alle waren stockbesoffen. Es wurden Waffen verteilt. Alle durften schießen. Ein englischer Journalist namens David Litchfield nennt Margit im Independent »Killer Countess«, in der FAZ heißt sie »Gastgeberin der Hölle«, und die Bild-Zeitung schreibt: »Thyssen-Gräfin ließ auf Nazi-Party 200 Juden erschießen«. »Das ist Quatsch. Es gab ein Verbrechen, aber dass Margit damit etwas zu tun hatte, halte ich für unwahrscheinlich. Sie war ein Monster, aber dazu war sie nicht in der Lage.«
Wo war Margits Mann, Ivan? Auch beim Fest?
»Ivan war mein Onkel, der Bruder deines Großvaters. Während sich Margit in Rechnitz auf ihrem Schloss mit Nazis vergnügte, war Ivan in Ungarn. Ihre Ehe war von Anfang an ein Desaster. Sie war die deutsche Thyssen-Milliardärin und Ivan der verarmte ungarische Graf.« Wieso war Margit ein Monster? »Das sind alte Geschichten.«
Kurz nach dem Krieg kam es zu mehreren Prozessen. Liest man die Zeugenaussagen zum Massaker von Rechnitz, Akte Vg 12 Vr 2832/45, Landesarchiv Wien, so ergibt sich folgendes Bild: Die Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 ist eine mondhelle Nacht. Im Schloss von Margit Batthyány-Thyssen in Rechnitz, Burgenland, österreichisch-ungarische Grenze, findet ein Gefolgschaftsfest statt, eine Art Kameradschaftsfest der Nazis. Ob Margit begeisterte Gastgeberin war oder nur ihr Schloss zur Verfügung stellte, lässt sich nicht genau sagen. Nur dass sie dabei war. Mitglieder der Gestapo und lokale Nazi-Größen wie SS-Hauptscharführer Franz Podezin, wie Josef Muralter, wie Hans-Joachim Oldenburg unterhalten sich mit Hitlerjungen und Angestellten des Schlosses und setzen sich an runde Tische im kleinen Saal im Erdgeschoss.
Für die Nationalsozialisten ist der Krieg verloren, die Russen sind schon an der Donau, doch das soll die Stimmung nicht trüben. Es ist acht Uhr abends. Zur selben Zeit stehen am Bahnhof in Rechnitz etwa 200 jüdische Zwangsarbeiter aus Ungarn, die beim Bau des Südostwalls eingesetzt wurden, einer gigantischen Verteidigungslinie von Polen über die Slowakei, Ungarn bis nach Triest, welche die anrollende Rote Armee hätte stoppen sollen. Um halb zehn Uhr abends lädt der Lkw-Unternehmer Franz Ostermann einen Teil der Juden in seinen Lastwagen und übergibt sie nach kurzer Fahrt in die Hände von vier Männern der Sturmabteilung, SA, die den Juden Schaufeln in die Hand drücken und ihnen befehlen, einen L-förmigen Graben auszuheben.
Wo sind die Toten?
Es ist Frühling, als ich zum ersten Mal nach Rechnitz fahre, alles grün, die Wiesen, die Wälder, noch sind die Trauben an den Rebstöcken klein und hart, Rechnitz ist kein schönes Dorf: eine Hauptstraße, an der links und rechts niedrige Häuser stehen mit schmalen Fenstern und blickdichten Vorhängen. Es gibt kein Zentrum, keinen Hauptplatz; das Schloss, das der schwerreiche deutsche Unternehmer und Kunstsammler Heinrich Thyssen seiner Tochter Margit, unserer Tante Margit, in seinem Testament überschrieb, steht nicht mehr. Die Russen zerbombten es bei ihrem Einmarsch 1945. Jedes Jahr organisiert der Verein Refugius eine Gedenkfeier für die ermordeten Juden. Am Ortseingang beim Kreuzstadl, einem Mahnmal, wird gesungen und gebetet; das Verbrechen darf nicht vergessen werden, Löwenzahn blüht, das Gras ist knöchelhoch, irgendwo darunter befinden sich 180 Schädel.
Den Zeugenaussagen der Rechnitzer Prozesse, Akte Vg 12 Vr 2832/45, Landesarchiv Wien, ist zu entnehmen: Mit Schaufeln und Krampen graben die ungarischen Juden eine L-förmige Grube, sie sind müde und schwach, die Erde ist hart, im Schloss von Tante Margit wird getrunken und getanzt. Um zirka 21 Uhr erhält SS-Hauptscharführer Franz Podezin einen Anruf. Weil der Lärm im Festsaal zu groß ist, muss er ins Nebenzimmer, das Gespräch dauert keine zwei Minuten, Podezin sagt: »Ja, ja!«, und er beendet es mit den Worten »verdammte Schweinerei!«
Er beauftragt Hildegard Stadler, sie ist die Leiterin des örtlichen Bundes Deutscher Mädel (BDM) und Podezins Geliebte, etwa zehn bis 13 Festteilnehmer in einen Raum zu führen. »Die Juden vom Bahnhof«, teilt er ihnen mit, »sind an Fleckfieber erkrankt und müssen erschossen werden.« Keiner widerspricht. Angeblich erkrankte Juden sind im Dritten Reich häufig Anlass für Erschießungen. Ein gewisser Karl Muhr verteilt Gewehre und Munition an die Festgäste. Es ist kurz nach 23 Uhr. Im Schlosshof stehen drei Pkw bereit. Nicht alle aus der Gruppe haben Platz in den Autos, sie gehen zu Fuß.
»Wir haben die Pflicht zu erinnern, damit es nicht mehr passiert«, sagt der katholische Pfarrer von Rechnitz vor dem Kreuzstadl, dem Mahnmal, die meisten Trauergäste tragen eine Kippa, im Hintergrund heulen Benzinmotoren von der nahen Kart-Bahn, es klingt wie hundert kaputte Rasenmäher.
Es ist Sonntag, die Sonne scheint. Die Einwohner von Rechnitz bleiben der Gedenkfeier fern, nur der Bürgermeister ist anwesend. Engelbert Kenyeri, ein korpulenter, freundlicher Mann, er steht in seinem besten Anzug etwas abseits, die Hände verschränkt auf seinem Bauch. »Natürlich würde ich gern wissen, wo das Grab ist«, sagt er am nächsten Tag in seinem Büro, anders als seine Vorgänger unterstützt er die Aufarbeitung des Massakers.
»Solange die Toten nicht gefunden werden, solange werden die Gerüchte nicht verschwinden.« Die Juden seien in einen nahen Stausee geworfen worden, flüstern die einen, oder verbrannt. Nein, sie wurden längst zubetoniert und lägen unter dem Fußballplatz der Schule, behaupten die anderen. Jedes Jahr laufen Wünschelrutengänger im Zickzackschritt die Felder ab und melden eigenartige Schwingungen. Die New York Times war schon da, CNN auch, das kleine Dorf im Süden des Burgenlands ist weltberühmt – doch niemand kommt wegen des trockenen Rieslings, der hier gekeltert wird, alle kommen wegen des Massengrabs, von dem keiner weiß, wo es ist.
Und die Dorfbewohner schweigen.
Die Suche nach dem Grab wird für Rechnitz zum Fluch. In den 65 Jahren seit dem Verbrechen ist der Ort zu einem Symbol für Österreichs Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit geworden. Wer Rechnitz sagt, der meint Verdrängen.
Ich rufe meinen Vater an. Du wusstest, sage ich ihm, dass Tante Margit in jener Nacht dort war, und du wusstest auch vom Massaker.
»Ja.«
Aber du hast dir nie überlegt, ob sie damit was zu tun haben könnte?
»Ist das ein Verhör?« Ich frage nur.
»Nein. Nie habe ich gedacht, dass es zwischen dem Fest und dem Massaker eine Verbindung geben könnte, wie das seit Neuestem alle behaupten. Warte kurz«, er hustet, ich höre, wie er sich eine Zigarette aus der Schachtel nimmt. Du rauchst zu viel.
»Wie geht’s der Kleinen?«
Sie bekommt ihren dritten Zahn und sie krabbelt. Wieso hast du mit Margit nie über den Krieg gesprochen?
»Was hätte ich fragen sollen? Du, Tante Margit, willst du noch einen Schluck Wein? Und übrigens, Tante Margit, hast du Juden erschossen?«
Ja.
»Sei nicht naiv. Es waren Höflichkeitsbesuche. Wir haben übers Wetter gesprochen, und sie ist über Familienmitglieder hergezogen. ›Verfaulter Keim‹, sagte sie, wenn sie über die Thyssens und Batthyánys sprach. ›Verfaulter Keim‹, das war ihr bester Spruch. Kannst du dich noch an ihre Zunge erinnern?«
Archive in Russland
Die ersten Grabungen fanden bereits 1946 statt, schon damals widersprachen sich alle Aussagen zum Grab. Es gab eine Handskizze von zwei Rechnitzer Dorfbewohnern, die sich beide sicher waren, die Stelle zu kennen. Doch dort fand man die Toten nicht.
Es gab Flugaufnahmen von Piloten der Royal Air Force, die kurz nach dem Krieg über das Gebiet flogen. Ein Grab dieser Größe wäre aufgrund der frischen Erde zu erkennen gewesen, doch die Wolken hingen tief, ausgerechnet an diesem Tag, die Sicht war schlecht, die Fotos unbrauchbar.
Zwanzig Jahre später starteten das österreichische Innenministerium und der Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge (VdK) einen neuen Versuch. Ein gewisser Horst Littmann leitete die Grabungen und fand die
Gebeine von 18 Leichen am Hinternpillenacker in der Nähe des Schlachthauses. Aber das Massengrab, das er suchte, fand Littmann nicht; dafür lag auf der Windschutzscheibe seines Autos ein anonymer Drohbrief: »Wenn du nicht aufhörst, dann liegst du dort, wo die anderen auch liegen.«
1990 machte sich ein Team der Universität Wien ans Werk. Erneut wurden sämtliche Quellen und Zeugenaussagen sondiert, erneut kam es zu Grabungen, über die Margareta Heinrich und Eduard Erne einen Dokumentarfilm drehten. Die beiden Filmemacher klopften an jede Haustüre im Dorf, klapperten Altersheime ab, suchten in abgelegenen russischen Archiven nach zusätzlichen Hinweisen und gaben Zeitungsannoncen bis nach Israel auf: Wer etwas über das Massaker von Rechnitz wisse, schrieben sie, der solle sich melden. Bitte. Dringend. Sie recherchierten fünf Jahre: wieder nichts.
Die letzten Bodenproben und geoelektrischen Messungen nahm man 2006, mit verbesserter Technik und teurer Software. Ohne Erfolg. Zum ersten Mal wurden auch Blutspürhunde eingesetzt, sie fanden Tierknochen, wahrscheinlich von Hühnern, und auch einige Menschenknochen. Aber das ist normal, die Gegend war Frontabschnitt. Der Leiter dieser Untersuchung spricht von etwa 300 möglichen Plätzen rund um den Kreuzstadl, an denen das Grab sein könnte. Mit ein paar Millionen Euro und drei bis fünf Jahren Zeit könnte man die abarbeiten, theoretisch.
In den Zeugenaussagen der Rechnitzer Prozesse, Akte Vg 12 Vr 2832/45, Landesarchiv Wien, steht geschrieben:
Zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens fährt der Lkw-Unternehmer Franz Ostermann insgesamt siebenmal vom Bahnhof zum Kreuzstadl, auf der Ladefläche dreißig bis vierzig Juden, die er den vier SA-Männern übergibt. Die Juden müssen sich ausziehen, vor der Grube stapeln sich ihre Kleider, nackt knien sie am Rand ihres L-förmigen Grabes, der Boden ist hart, die Luft ist kalt, es ist eine mondhelle Nacht. Podezin steht da, Oldenburg auch, beides fanatische Nationalsozialisten. Und sie schießen den Juden in den Nacken. Ein gewisser Josef Muralter, NSDAP-Mitglied, schreit, während er schießt: »Ihr Schweine gehört ins Feuer. Ihr Vaterlandsverräter!«
Die Juden sacken zusammen und fallen ins Erdloch, wo sie in der Sardinentechnik aufeinandergestapelt werden. Im Schloss wird getrunken und getanzt, jemand spielt auf der Ziehharmonika. Einem Kellner namens Viktor S. fällt auf, dass die Gäste, die um drei Uhr morgens wieder im Saal erscheinen, wild gestikulieren, sie haben gerötete Gesichter, SS-Hauptscharführer Podezin, der mutmaßliche Anführer, eben noch hat er Frauen und Männern in den Kopf geschossen, jetzt tanzt er ganz ausgelassen.
Auch Margit ist wie aufgedreht, sie ist jung und sie mag es gern lustig und sie hat die schönsten Kleider an von allen.
Nicht alle Juden werden in dieser Nacht erschossen. 18 lässt man vorerst am Leben. Sie erhalten die Aufgabe, die Grube mit Erde zuzuschütten. Totengräberdienst. Zwölf Stunden später, am Abend des 25. März, werden sie im Auftrag von Hans-Joachim Oldenburg, Margits Geliebtem, ebenfalls umgebracht und in der Nähe des Schlachthauses beim Hinternpillenacker verscharrt. Es sind ihre Leichen, die Horst Littmann im Frühling 1970 findet.
Margits letzter Abend
Es ist Ende Sommer, als ich zum zweiten Mal nach Rechnitz fahre, die Luft ist schwül, die Weinbeeren sind jetzt rot. Ich besuche Annemarie Vitzthum, sie ist 89 Jahre alt und wahrscheinlich die letzte Lebende, die an Margits Fest teilgenommen hat, vor 65 Jahren.
»Wir saßen an runden Tischen im kleinen Saal, das Grafenpaar mittendrin, die Gräfin Margit sah aus wie eine Prinzessin, so schöne Kleider, wie die anhatte.«
Dauernd seien Männer in Uniform gekommen, die das Fest wieder verließen, sie könne sich an deren Namen nicht erinnern, »es war ein Wirbel«, das habe sie auch dem Staatsanwalt erklärt, 1947, als sie verhört wurde. Um Mitternacht sei sie von einem Soldaten nach Hause begleitet worden, bis zu diesem Zeitpunkt habe die Gräfin das Schloss nicht verlassen. »Des von die Juden«, sagt Frau Vitzthum, wir essen hausgemachten Apfelkuchen, habe sie erst später erfahren. Schrecklich. »De oarmen Laid, gonz knochert sollns gwesn sei.«
Ich besuche Klaus Gmeiner. Er war Tante Margits Förster, und der Letzte, der sie lebend gesehen hat. Margit besaß tausend Hektar Land in Rechnitz, und sie kam jedes Jahr zur Jagd, Hochwild, Schwarzwild, Niederwild, »sie war eine hervorragende Schützin, eine erfahrene Afrika-Jägerin«, an Gmeiners Wand im Büro hängen Hirschgeweihe, »sie hat sich sehr gefreut, wenn sie was erlegt hat, nie sah ich sie glücklicher«. In all den Jahren sei nicht ein einziges Mal über die Nazi-Zeit gesprochen worden, sagt Gmeiner, der wie so viele im Dorf für Margit schwärmt, wie Untertanen für ihre Königin: Großzügig sei sie gewesen, liebenswürdig, so fromm, so hübsch, mit dem Massaker habe sie ganz sicher nichts zu tun.
»Wir waren auf der Pirsch«, erzählt er über den Abend vor ihrem Tod.
Danach gab es Wein im Jagdhaus. Er wisse noch, wie sie sich an diesem Abend darüber beschwerte, von vielen Menschen um Geld angebettelt zu werden. »Das war das Letzte, was sie sagte.« Am nächsten Morgen erschien sie nicht zum Frühstück. Klaus Gmeiner ging hoch, 15. September 1989, und klopfte an ihre Tür, 10 Uhr 15, Margits Augen waren zu. Herzversagen.
»Wie war’s in Rechnitz? Hast du was rausgefunden?«, fragt mich mein Vater am Telefon. Er klingt müde, vor wenigen Wochen ist ihm ein junger Hund zugelaufen, der nicht von seiner Seite weicht, vielleicht deshalb.
Die Menschen im Dorf nannten mich Herr Graf, das ist komisch. In der Schweiz denken viele, Batthyány sei indisch, am Telefon sprechen sie deshalb langsam und überdeutlich. Und im Burgenland machen sie fast einen Knicks vor mir. Dann bin ich lieber Inder.
»Ich mag dieses Getue auch nicht.«
Manche behaupten, dass Margits Mann Ivan, dein Onkel, auch auf dem Fest war. »In der Familie hieß es immer, er sei in Ungarn gewesen an jenem Abend.«
Ich habe langsam das Gefühl, dass jeder diese Geschichte für seine Zwecke manipuliert. Die Familie will nicht hineingezogen werden und zieht sich zurück. Die Medien wollen die Schlagzeile von der blutrünstigen Gräfin, die die Juden massakriert, und die Einwohner von Rechnitz wollen das Ganze unter den Teppich kehren. Für sie ist Tante Margit eine Heilige – wer von ihr spricht, fängt an zu weinen.
»Und was willst du?«
Von der Hölle in den Himmel
Gemeinsam mit seinen Eltern floh mein Vater 1956 aus Ungarn, er war damals 14. »Ich bin in Budapest und sehe tote Pferde auf der Straße«, seit ich ein Kind war, begann er die Geschichte seiner Flucht mit diesem Satz, und er erzählte sie oft. »Mit zwei Rucksäcken überqueren wir die Grenze nach Österreich und reisen von dort weiter in die Schweiz.« Zu Margit und Ivan, die sie bei sich aufnahmen, Lugano, Villa Favorita, am Fuße des Monte Brè: Schöner geht’s nicht. »Ein Chauffeur wartet auf uns beim Bahnhof, man bringt mich in ein Zimmer, ich fühle mich fiebrig, am nächsten Morgen wache ich auf, die Sonne scheint aufs Bett, im Garten stehen Palmen, dann kommt Ivan rein, mein Onkel, er fragt mich, ob ich Lust hätte auf eine Spritztour im Ferrari.
Ich denke: Bin ich im Himmel?«
In den Protokollen der Rechnitzer Prozesse, Akte Vg 12 Vr 2832/45, ist zu lesen:Sieben Personen werden des vielfach vollbrachten Mordes und der Quälerei beziehungsweise des Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt. Josef Muralter, Ludwig Groll, Stefan Beigelbeck, Eduard Nicka, Franz Podezin, Hildegard Stadler, Hans-Joachim Oldenburg. Doch der Prozess gerät ins Stocken, weil 1946 die beiden Hauptzeugen ermordet werden. Der Erste ist Karl Muhr. Er händigt in jener Nacht am 24. März die Gewehre aus und sieht den späteren Tätern direkt ins Gesicht.
Ein Jahr später liegt Muhr mit einer Kugel im Kopf im Wald neben seinem toten Hund – sein Haus steht in Flammen, die Patronenhülse, die die Polizei am Tatort sicherstellt, verschwindet. Der Zweite ist Nikolaus Weiß: ein Augenzeuge. Er überlebte das Massaker, flieht und versteckt sich bei einer Rechnitzer Familie im Schuppen. Ein Jahr später wird sein Wagen beschossen und gerät ins Schleudern, Weiß ist auf der Stelle tot. Seit diesen beiden mutmaßlichen Fememorden leben die Einwohner von Rechnitz in Angst vor Vergeltung. Niemand spricht. Das Schweigen hält bis heute.
In den Prozessakten steht: Am 15. Juli 1948 werden Stefan Beigelbeck und Hilde-gard Stadler gemäß § 259/3 StPO einhellig freigesprochen. Der Angeklagte Ludwig Groll wird zu acht Jahren schweren Kerkers, Josef Muralter zu fünf Jahren und Eduard Nicka zu drei Jahren verurteilt. Podezin
und Oldenburg, die beiden mutmaßlichen Haupttäter, sind auf der Flucht. In den Akten heißt es, sie seien bei Gräfin Margit Batthyány-Thyssen in der Schweiz, in einer Wohnung oberhalb von Lugano.
Interpol Wien benachrichtigt die Behörden in Lugano per Telegramm am 28. August 1948: »Es besteht die Gefahr, dass sich die beiden nach Südamerika begeben. Bitte um Festnahme.« Die Verhaftungsbefehle gegen die Flüchtigen werden am 30.8. 1948 im Schweizer Polizeianzeiger, Seite 1643, Art. 16965, ausgeschrieben. Doch da sind beide schon weg. In seinem Schlusswort sagt Dr. Mayer-Maly, Staatsanwalt in Österreich, der das Massaker in Rechnitz aufzuklären hatte: »Die wahren Mörder sind noch nicht gefunden.«
Lieber Pferde als Kinder
Tante Margit war nicht bloß »reich«. Sie war unendlich reich. Die Thyssen-Familie, über die sie immer hergezogen sein soll, der »verfaulte Keim«, hat finanziell vom Zweiten Weltkrieg profitiert, von der Kohle aus der Zeche Walsum, vom Stahl, von Bank-geschäften. Margit hatte Häuser in der Schweiz, in Rechnitz und in Kanada sowie das Apartment Le Mirabeau in Monte Carlo – wohl aus steuerlichen Gründen –, auf dessen Terrasse ich als Kind durchs Fernrohr aufs Meer und die Rennstrecke guckte. Wie viele reiche Deutsche mit nicht ganz reiner Vergangenheit besaß auch sie eine Hazienda in Uruguay und in Mosambik gehörte ihr das Gut Mafroga.
Margit lebte ein Leben im Luxus. Sie hatte unzählige Affären, ihr Mann Ivan wusste davon und erhielt für jede Bettgeschichte seiner Frau, so sagt man sich, eine angemessene Summe, um den Schein zu wahren. Denn eine Scheidung, die lag für Margit nicht drin, sie war eine fromme Katholikin. Mehrmals im Jahr unternahm sie große Reisen, sie liebte die Jagd und die Jagdgesellschaften noch mehr und war dem Kir Royal nicht abgeneigt. Doch am allerglücklichsten war sie bei ihren Pferden.
Margit war zeitweise Deutschlands erfolgreichste Pferdezüchterin, Nebos, ihr bester Hengst im Stall, wurde 1980 Galopper des Jahres, berühmt für seinen Antritt auf den letzten Metern. Zu Nebos hatte Margit ein innigeres Verhältnis als zu ihren beiden Kindern, Ivan, benannt nach dem Vater, und Christoph, genannt Stoffi. Als ihr Sohn Ivan mit einem Flugzeug zwischen Wien und Lugano abstürzte und starb, vergoss sie keine Träne, eine Anekdote, die in meiner Familie jährlich die Runde machte.
Alte Geschichten.
Das Monster Margit kannte keine Mutterliebe – nie hat sie ihre Kinder umarmt. Aber sie war großzügig.
Nicht nur meinem Vater und meinen Großeltern, auch anderen Verwandten zahlte Tante Margit Geld. Wenn sie in Wien war, speiste sie immer im »Hotel Sacher«, und viele aus der Familie standen Schlange und machten sich Hoffnungen. Auch zu ihrem Personal war sie spendabel. Ihrem Förster Klaus Gmeiner sicherte sie eine Lebensanstellung. An die Gemeinde Rechnitz verschenkte sie Waldland, das später zu Bauland wurde. Und ihre ehemaligen Schlossangestellten erhielten Grundstücke, was Theresia Krausler, die damalige Zofe, bestätigt. »Wir haben alle was gekriegt. Häuser. Grund.
Die Herrschaften haben uns alle beschenkt, niemand darf sich beklagen. Ich habe noch ein Kleid der Gräfin Margit im Kasten, ein Samtkostüm mit Mascherln.« Tante Margit machte aus Bauernmädchen Landbesitzer, jahrzehntelang lebten sie ohne fließendes Wasser, plötzlich besaßen sie ein Stück Garten, eine Garage, ein Galakostüm mit Mascherln – nie werden sie ihr das vergessen.
Jedes Jahr spendete »die Gräfin Margit« den Weihnachtsbaum auf dem Rechnitzer Dorfplatz, »sie war eine Seele von Mensch«, sagt Frau Krausler mit Tränen in den Augen in ihrem Wohnzimmer außerhalb des Dorfes, eine Kuckucksuhr tickt an der Wand. Margit beschenkt, sie spendet, sie unterstützt. Ohne Hintergedanken? Oder ist das Schweigen der Dank der Rechnitzer?
»Der Hund ist verrückt«, sagt mein Vater am Telefon. »Im Auto springt er nach vorn und setzt sich auf meine Knie. Was macht dein Artikel über Tante Margit?«
Inzwischen hat sich rumgesprochen, dass ich über sie schreibe. Ich erhalte Anrufe von Verwandten, die ich noch nie gesehen habe. Sie sagen: »Wozu alte Geister wecken?«
»Und was antwortest du ihnen?«
Ich antworte: Vergangenheitsbewältigung ist nur möglich, wenn man immer wieder erzählt, was sich ereignet hat. Dieser Satz stammt natürlich nicht von mir, es ist ein Zitat von Hannah Arendt. Findest du auch, der Artikel bringe nichts?
»Nein. Aber ich zweifle daran, dass unsere Verwandten was wissen.«
Darum geht es ja. Niemand weiß was, weil niemand je gefragt hat. Ihr alle wusstet von diesem Massaker, und ihr wusstet, dass Tante Margit dort war. Aber ihr wart zu höflich, um zu fragen. Ihr wolltet es euch nicht mit ihr verscherzen. Ich höre das Klicken eines Feuerzeugs. Es ist das Geld, stimmt’s? Es hat euch alle stumm gemacht. Tante Margit hat bezahlt und deshalb hatte sie die Macht. Sie entschied, worüber man spricht – und worüber nicht. Ihr seid wie die Dorfbewohner von Rechnitz. Tante Margit hatte euch alle in der Hand.
Flucht nach Südafrika
Nur einmal wurde Margit von der Polizei zum Massaker verhört, so steht es auch in ihrer Schweizer Staatsschutz-Akte, Eintrag C.2.16505. Am 07. 01. 1947 gab sie der Kriminalabteilung für Vorarlberg in Feldkirch zu Protokoll: »Weder mein Gatte noch ich haben das Fest je verlassen. Am folgenden Tag in der Früh ist mir ein Wagen aufgefallen, der mit Kleidern beladen war. Es wurde mir erzählt, dass in der Nacht Juden umgebracht worden seien, zirka zwei Kilometer von unserem Schloss entfernt.«
Ivan war also doch dabei, auf Familiengerüchte ist wenig Verlass. Im Verhör wird Margit auch auf Hans-Joachim Oldenburg angesprochen, einen der beiden mutmaßlichen Haupttäter: »Oldenburg hat sich die ganze Nacht auf dem Schloss aufgehalten«, sagt sie, »ich kann versichern, dass er nichts mit der Sache zu tun hatte.« Sie lügt für ihn, ihren Geliebten, denn Oldenburg ist von Zeugen beim Massaker gesehen worden. Ihrer Schwester Gaby schreibt sie in gedrängter Handschrift am 11. 11. 1946: »Damit es nicht auffällt, habe ich mit Oldenburg besprochen, dass er vorerst zwei Jahre alleine nach Südamerika geht. Habe Visa für ihn in Aussicht.«
Sie hat ihm zur Flucht verholfen, dem mutmaßlichen Massenmörder, Oldenburg kehrte erst in den Sechzigerjahren nach Deutschland zurück, wo er sich bei Düsseldorf niederließ.
Der andere Haupttäter, SS-Sturmscharführer Franz Podezin, tauchte nach dem Krieg 1945 in der westlichen Besatzungszone unter, wo er später als Agent in der DDR arbeitete. Auch er kehrte zurück in den Westen und zog nach Kiel. Dort lebte Podezin, im Krieg ein Nationalsozialist durch und durch, ein unauffälliges Leben als Versicherungsangestellter.
Auch ihm wird Tante Margit später zur Flucht verhelfen.
Als die Staatsanwaltschaft Dortmund 1963 doch noch ein Verfahren wegen mehrfachen Mordes gegen Podezin eröffnet, flieht er nach Dänemark und von dort in die Schweiz, von wo er Margit und Oldenburg erpresst: Sie sollen ihm Geld für seine Flucht geben, andernfalls werde er beide »durch den Schmutz ziehen«. Absender: Hotel Gotthard-Terminus, Basel, Centralbahnstrasse 13.
Zuletzt gesehen wurde Podezin in Johannesburg, Südafrika, wo er ganz offiziell bei einem gewissen Josef Helmut Hansel in Untermiete stand, 74 Clifford Avenue, Linbro Park, unweit des Alexandra-Townships. Ich rufe an. Natürlich ist das naiv, Podezin, Jahrgang 1911, wird schon lange tot sein – und wenn er sich doch meldet? Was soll ich ihn fragen? Wo ist das Massengrab? Was hat Tante Margit damit zu tun? Es klingelt, lange passiert nichts, dann: »Hello?« Eine Frauenstimme.
»Ja, ich kannte Herrn Podezin, ein lieber Kerl, sehr belesen«, sagt Annette Wilkie auf Deutsch, die Tochter von Herrn Hansel, bei dem Podezin lebte. »Er war sportlich und immer elegant gekleidet, am Ende hatte er Hüftprobleme, der Arme, er hinkte.« Die Firma, für die er in Südafrika tätig war, Hytec, arbeitet heute noch mit dem deutschen Unternehmen Thyssen-Krupp zusammen. Ob ihm Tante Margit, die geborene Thyssen, in den Sechzigerjahren zur Flucht verhalf und ihm auch noch einen Job vermittelte?
»Herr Podezin hinterließ eine Schachtel mit privaten Dingen«, sagt Annette Wilkie am Telefon, »es sind Fotos aus seiner Zeit in Afrika und ein paar alte Kleider mit dem Firmenemblem. Sonst nichts.« Podezin starb Mitte der Neunzigerjahre, zu seiner Beerdigung, so Annette Wilkie, erschienen drei, vier Freunde in Hansels Haus, alle mittlerweile tot, alles Deutsche, die nach dem Krieg nach Südafrika auswanderten und sich wöchentlich zum Kartenspielen trafen.
Jüdische Propaganda
Das letzte Mal ins Burgenland fahre ich im Herbst. Es ist neblig, die Häuser, die Felder, der Himmel, alles grau, die Weintrauben sind längst geerntet. Ich fahre zu einem Familientreffen, nicht weit von Rechnitz. Tanten, Onkel, Cousins, Menschen, die ich kaum kenne, wir sitzen an einem langen Holztisch, das Massaker führt uns zusammen.
Die meisten können sich gut an Margit und Ivan erinnern, an ihre Reisen, an ihre Häuser, an Margits Pferde und Ivans Eitelkeit, und je länger ich an diesem Tisch sitze, desto wohler fühle ich mich. Die Art, wie sie reden, ihre Witze, die alten Möbel, das Porzellan, das Silberdöschen mit Zucker – alles vertraut.
»Was in den Zeitungen steht, ist Unsinn«, behaupten die Älteren, auch Elfriede Jelineks Theaterstück Der Würgeengel, das von Rechnitz und Margit handelt, vermittle ein falsches Bild. Margit habe mit dem Massaker nichts zu tun, »sie war zwar unbeliebt und den Männern hörig«, sexbesessen soll sie gewesen sein – aber eine Mörderin? »Bestimmt nicht.« Und ich nicke, wie alle nicken, und als jemand aus der Runde, ein älterer Mann, der mich so nett begrüßte, obwohl wir uns nicht kannten, über Juden spricht, über jüdische Propaganda, da nicken manche, andere hören weg und tun so, als ob sie ihn nicht verstünden. Auch ich bleibe stumm. Ich widerspreche ihm auch nicht, als er sagt: »Vielleicht hat das Massaker gar nie stattgefunden?«
Wir trinken schwarzen Tee und essen Schinkenbrote.
Am Tisch diskutieren jetzt alle laut durcheinander, über das Grab, über die Suche, die Jüngeren stellen Fragen, die Älteren weichen aus. »Was bringt das alles?« – »Wozu?« – »Was haben wir damit zu tun?« Kopfschütteln. Schweigen. »Will noch jemand Tee?« Stille. »Über die Verbrechen an den Juden ist schon genug geschrieben worden«, verteidigt sich der alte Mann, »die Verbrechen der Kommunisten waren genauso schlimm«, und wieder hören alle weg, niemand geht darauf ein, »die Jelinek ist auch eine Jüdin, deshalb schreibt sie so einen Mist.« Witze fallen, und alle lachen, und auch ich lache, wie man halt lacht und nickt in Familien, zwei Stunden später verabschieden wir uns.
»Gib Acht auf den Namen der Familie«, sagt ein Onkel zu mir, der den ganzen Abend still war, »du darfst ihn nicht verschmähen.« Fast zärtlich fasst er mich ans Kinn und legt seine Hand an meine Wange, wie es mein Vater immer tut, erst später im Auto fühle ich mich erbärmlich.
Es gab viele Gründe, warum niemand mit Tante Margit über das Massaker sprach: Verdrängung, Faulheit, das Geld. Und Gleichgültigkeit.
Weil es sich bei den Toten »nur« um Juden handelt, ist dieses Verbrechen heute noch vielen egal. Ich rufe meinen Vater an und frage ihn, ob er das nicht auch glaube. »Nein, das glaube ich nicht.«
Warum dann die Bemerkungen auf dem Familientreffen über die Juden und über Jelinek? »Er hat die Verbrechen der Nazis mit den Verbrechen der Kommunisten verglichen. Das hat wenig Sinn, ist aber legitim.«
Mich erinnert es an eine Begegnung mit einem älteren Herrn im Speisewagen von Zürich nach Wien, mit dem ich lange über meinen Artikel diskutierte. Er meinte, die Juden wären ja eh gestorben, ob im KZ oder in diesem Massaker – oder vor Hunger. Bevor er in Salzburg ausstieg, sagte er: Was spielt das für eine Rolle?
»Wirst du den Familienbesuch in deinem Artikel erwähnen?«, fragt mich mein Vater, »das wird für böses Blut sorgen.«
Ich weiß noch nicht.
Wer schweigt, wird schuldig
Ich stehe vor Tante Margits Grab, in dem neben ihr auch der unglückliche Ivan liegt, und versuche, mich an ihr Gesicht zu erinnern, aber es gelingt mir nicht. Wind weht die letzten Blätter von den Bäumen, es ist Mitte November, ein paar Sonnenstrahlen haben sich durch den bedeckten Tessiner Himmel gekämpft – und für einen kurzen Moment beginnt der Luganer See zu glitzern. Nach den Gesprächen mit Experten, Zeitzeugen und Verwandten und der monatelangen Sichtung der Akten bin ich sicher:
Tante Margit hat die Mörder gedeckt und ihnen zur Flucht verholfen, aber sie hat nicht geschossen in jener mondhellen Nacht am 24. März 1945.
Sie hat keine Juden ermordet, wie all die Zeitungen behaupten.
Es gibt keine Beweise, die sie belasten. Es gibt keine Zeugen.
Ich bin sicher, Tante Margit stand nicht um Mitternacht in der Kälte vor dieser Grube, wo die nackten Frauen und Männer in einer Reihe knieten. Sie lachte und tanzte im Schloss, als die ausgemergelten Körper zusammensackten und in die Erde fielen, sie lachte und tanzte mit den Mördern, als diese um drei Uhr morgens zurück aufs Schloss kamen, während draußen die ermordeten Juden wie Sardinen aufeinandergestapelt wurden, irgendwo in Rechnitz.
Und während die 180 Leichen verwesten, fuhr Tante Margit alljährlich mit einem Kreuzschiff durch die sommerblaue Ägäis, trank Kir Royal in Monte Carlo und jagte Rehe in den Herbstwäldern des Burgenlandes.
Tante Margit genoss den Rest ihres langen Lebens, obwohl sie alles über das Massaker gewusst hat. Sie war Mitwisserin und hätte helfen können, das Grab zu finden und die Verstorbenen zu exhumieren. Doch sie schwieg – und das macht sie schuldig.
Verfaulter Keim.
Fotos: Gemeindeamt Rechnitz, Karisma, Archiv David R L Litchfield, dpa. Illustration: Reinhard Kleist