Die Gewissensfrage

»Ich lese schon sehr lange die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin und (seit ihrem Entstehen) auch die Gewissensfrage. Leider habe ich immer weniger Zeit, sodass ich meist nur dazu komme, das für mich Essenzielle zu lesen: Das Streiflicht, die Seite Drei, die Medienseite und am Freitag das Magazin. Der Rest wandert ins Altpapier. Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, weil so viele Redakteure, Layouter, Fotografen und so weiter jeden Tag eine komplette Zeitung auch für mich machen, die ich zum größten Teil nicht lese?« Fritz S., Stuttgart

In Zeiten wie diesen, in denen Zeitungen ums Überleben kämpfen, Sparmaßnahmen die Branche erschüttern und ganze Redaktionen geschlossen werden, möchte man am liebsten raten: Halten Sie es so wie bisher! Und falls Sie jemand danach fragt, besonders wenn er dabei ein Klemmbrett in der Hand hält und Notizen macht, sagen Sie ihm, dass Sie stets die ganze Zeitung und auch das Magazin vollständig und aufmerksam durchstudieren – einschließlich der Anzeigen. Dann können wir alle zufrieden sein und Sie werden sich auch in Zukunft weiterhin an dem, was Sie gern lesen, erfreuen können.

Doch es gibt einen weiteren Aspekt: Als Zeitung arbeiten wir für Sie; wir sind, was unser Produkt angeht, Dienstleister, man könnte fast sagen, schreibender Knecht für Sie als lesenden Herrn. Es geht also um das Verhältnis von Herr und Knecht, womit man schnell bei Hegels berühmter Passage in seiner Phänomenologie des Geistes wäre – eine der Grundlagen für das Verständnis der Arbeit bei Karl Marx und damit für ein Kernstück des Marxismus: Hegel gelangte – hierher passend – zur Erkenntnis, dass der Herr, also der Leser, zwar selbstständig ist, aber seine Beziehung zum Ding, zur Welt der Gegenstände, eine indirekte ist, weil der Knecht, hier die Zeitung, sie für ihn bearbeitet.

Dabei kämpfen die beiden – bis auf den Tod – um gegenseitige Anerkennung und benötigen sich jeweils dazu: »Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend.« Es kommt zu einer wechselseitigen Abhängigkeit des Knechtes vom Herrn und des Herrn vom Knecht. Deshalb werden wir hier allen Widrigkeiten zum Trotz weiter für Sie arbeiten und hoffen, dass Sie uns anerkennen.

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Geschieht das durch Lesen oder Kaufen? Primär wohl durch Lesen. Doch leben wir in einer realen Welt und der Autor nicht vom Gelesenwerden allein. Kaum jemand kann und will eine Zeitung wirklich komplett durcharbeiten. Die Alternative wäre dann, sie gar nicht zu kaufen und zu lesen. Und das scheint mir für beide Seiten deutlich schlechter.
Ach ja, was ich fast vergessen hätte: Falls so jemand mit dem Klemmbrett in der Hand Sie nach Ihren Lieblingsrubriken fragt: Seien Sie ruhig ehrlich, es stört uns nicht, genannt zu werden.

Literatur:

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Band 3 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1979, S. 145-155

Karen Gloy, Bemerkungen zum Kapitel "Herrschaft und Knechtschaft" in Hegels Phänomenologie des Geistes, Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 39, 1985, S. 187-213

Eine gute Einführung und Erläuterung bietet:
Ralf Ludwig, Hegel für Anfänger. Phänomenologie des Geistes, dtv München 1997, S. 82-101

llustration: Marc Herold