Geschlossene Gesellschaft

Nur fünf Prozent der deutschen Elite kommen aus dem Osten. Kein Bundesminister, kein wichtiger Chefredakteur, kein DAX-Vorstand. Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung hat Deutschland ein Diskriminierungsproblem.

Gabriela S. im Büro ihres Anwalts. Sie trägt diese schwarze Perücke, weil sie nicht erkannt werden möchte. Sie will nicht ihr Leben lang die "Minus-Ossi"-Frau sein.

Gabriela S. steht nicht gern im Mittelpunkt, sie würde viel dafür geben, wenn irgendjemand anderes an ihrer Stelle aufgestanden wäre, um zu sagen: So nicht! Sie wollte sich nicht für ihre ostdeutschen Brüder und Schwestern in die Schlacht werfen, sie will keine Schulterklopfer und keine Fanpost, sie will nicht einmal erkannt werden: deswegen Fotos nur mit Perücke und den Nachnamen bitte nicht ausschreiben. Aber diese unfassbare Unverschämtheit lag nun einmal auf ihrem Küchentisch und nirgendwo sonst, und sie konnte sich das nicht gefallen lassen, und sie kann es noch immer nicht.

Vor etwa einem Jahr, am 7. August 2009, kam Gabriela S. von einer Beerdigung nach Hause, der Vater ihrer besten Freundin war gestorben, und ein wenig war Gabriela S. noch in Gedanken, als sie den DIN-A4-Umschlag der Fensterbaufirma aus der Post nahm. Sie wusste, dass es eine Absage war, DIN-A4-Briefe waren immer Absagen. Aber gut, Gabriela S. hatte ja einen Job, sie hatte sich nur bei der Fensterbaufirma beworben, als Buchhalterin, weil in ihrem Unternehmen Entlassungen drohten. In der Küche öffnete sie den Umschlag, sie legte das Absageschreiben beiseite, dann sah sie ihren Lebenslauf. Und sie konnte es nicht glauben: Jemand hatte mit grünem Filzstift »OSSI« darauf geschrieben – und davor ein dickes Minuszeichen gemalt, ein Minuszeichen mit einem Kringel drum herum. An zwei weiteren Stellen stand in der gleichen Handschrift »DDR«. Zwei Mal, Grün auf Weiß. OSSI. DDR, DDR.

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Gabriela S. hatte diese DDR 1988 verlassen, noch vor der Wende, damals war sie 27, und in den zwei Jahren zwischen Ausreiseantrag und Ausreise hatte sie Bekanntschaft mit der Stasi gemacht, immer wieder, wie es eben war, wenn jemand ausreisen wollte. Und mehr als zwanzig Jahre später soll sie sich gefallen lassen, dass jemand auf ihren Lebenslauf »OSSI« schmiert?

Im Juli 2010 sitzt Gabriela S. in der Kanzlei ihres Anwalts Wolfgang Nau in Kirchheim unter Teck, nicht weit von Stuttgart, und erzählt. Sie hat die Firma verklagt, von der sie das Absageschreiben bekommen hatte. Und sie hat verloren. Entscheidend war, dass das Gericht der Meinung war, Ostdeutsche seien keine eigene Ethnie, kein eigener Volksstamm. Deshalb könne das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) auf Ostdeutsche, die wegen ihrer ostdeutschen Herkunft diskriminiert werden, nicht angewendet werden. Verboten ist es laut AGG, jemanden »aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität« zu diskriminieren. Hätte hinter dem Minuszeichen »Kurdin« oder »Eskimo« gestanden, »blind«, »lesbisch« oder »nicht katholisch« – sie hätte vor Gericht gute Chancen gehabt. Aber nicht mit »OSSI«.

Tatsächlich geht der Fall Gabriela S. weit über die Frage hinaus, ob sie als Ostdeutsche diskriminiert wurde. Wenn man das Urteil von allem Blend- und Beiwerk befreit, bleibt eine Erkenntnis, die verstört: Ostdeutsche dürfen diskriminiert werden.

Und wer durch die Leserkommentare der Online-Foren von Zeitungen geht, wer mit Menschen in Leipzig, Berlin oder Jena redet, wer SUPERillu liest oder die Berliner Zeitung, der weiß: Dieser Satz trifft die Ostdeutschen ungeheuer. Gleichzeitig wirft er die Frage auf, ob wirklich zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer eine Barriere aus Vorurteilen, Missachtung und Spott Deutsche von Deutschen trennt. Und obenauf die Westdeutschen, die überlegen auf die Ostdeutschen herunterschauen.

Einer, der die ostdeutschen Befindlichkeiten seit Jahren studiert, ist der Bielefelder Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, 64. Er weiß, dass die Ostdeutschen sich zumindest diskriminiert wähnen: In der aktuellen Ausgabe seiner Langzeitstudie Deutsche Zustände sagen noch immer 64 Prozent der Ostdeutschen, sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse, 77 Prozent haben den Eindruck, dass sie im Vergleich zu den Westdeutschen »weniger als ihren gerechten Anteil« bekommen, und ganze drei Viertel fühlen sich gegenüber Westdeutschen benachteiligt.

Nun könnte man diese Aussagen als Gejammere abtun und vorurteilsgemäß als irgendwie »typisch Ossi« einordnen – tatsächlich muss die Selbstwahrnehmung einer Gruppe nicht zwingend den Tatsachen entsprechen. Allein: Heitmeyer hat auch Westdeutsche befragt. Von ihnen sahen sich gerade einmal 13 Prozent als Bürger zweiter Klasse. Aber fast doppelt so viele, 24 Prozent, verfrachteten
die Ostdeutschen in diese Kategorie. Jeder vierte Westdeutsche sieht den Osten als Land mit Bürgern zweiter Klasse. Das ist kaum wegzuargumentieren.

Ähnlich verhält es sich mit den Fakten, auch die sind noch immer verheerend: Im Osten sind im Verhältnis doppelt so viele Menschen arbeitslos wie im Westen, und wenn sie Arbeit haben, verdienen sie im Schnitt 17 Prozent weniger. Selbst wenn man herausrechnet, dass das Leben im Osten billiger ist, bleibt man bei etwa 9,5 Prozent »realem« Lohn-Unterschied. Andererseits gibt es absurderweise in bestimmten Branchen noch immer »Buschzulagen«, also mehr Geld für Westdeutsche, die in den Osten müssen – obwohl das Leben dort billiger ist.

Im Osten ist der Niedriglohnsektor doppelt so groß wie im Westen und die Billiglöhne sind deutlich geringer: 4,86 Euro pro Stunde im Schnitt im Osten, fast sieben Euro im Westen. Im Osten ist der Anteil der Hartz-IV-Aufstocker, also Arbeitender, deren Lohn nicht zum Leben reicht, mehr als doppelt so hoch und die Jugendarbeitslosigkeit fast doppelt so hoch wie im Westen. Dort besitzen die Menschen dafür mehr als dreimal so viel Vermögen wie im Osten. Diese Liste könnte noch weiter und weiter fortgeschrieben werden.

Kein ostdeutscher Dax-Vorstand, kein ostdeutscher Chefredakteur - die angeblichen Gründe kennt Soziologe Raj Kollmorgen.


Die Ostdeutschen haben offensichtlich gute Gründe, sich im deutsch-deutschen Vergleich benachteiligt zu fühlen. Nun könnten sie dennoch Vertrauen in die haben, die sich um die Zukunft kümmern, die versuchen, das Land gerechter zu gestalten. Oder nicht? »Nicht, wenn sie sich anschauen, wer in Deutschland die Entscheidungen trifft«, sagt der Soziologe Raj Kollmorgen, 46. Kollmorgen, gebürtiger Sachse, forscht seit der Wende zum Ungleichgewicht zwischen Ost und West. In einem Café in Leipzig legt er einige Ergebnisse seiner Arbeit auf den Tisch: Die Ostdeutschen machen rund zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung aus, stellen aber weniger als fünf Prozent der Elite, definiert man diese als ranghohe Entscheider in Politik, Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft, Verwaltung und Medien.

Noch drastischer wird es im Osten selbst: Nur etwa dreißig Prozent der Elite dort stammen auch aus dem Osten, und das bei einem ostdeutschen Bevölkerungsanteil von annähernd 95 Prozent. »Das ist soziale Exklusion. Sie
können es auch Diskriminierung nennen«, sagt Kollmorgen. Seine Erkenntnisse lassen sich in einen Satz fassen: Deutschland ist noch immer Westdeutschland. Ostdeutsche sind außen vor, während Westdeutsche gestalten. Selbst in Ostdeutschland.

Hat Kollmorgen recht? Angela Merkel ist Ostdeutsche. Eine Symbolfigur der Ostdeutschen ist sie aber nicht, auch weil im Osten wohl nicht ganz zu Unrecht der Eindruck herrscht, die Kanzlerin setze sich mehr für ihren Machterhalt ein als für die Belange der Ostdeutschen. Und an ihrem Kabinettstisch? Sitzen ausschließlich Westdeutsche. Auf westdeutscher Länderebene war es bis vor Kurzem genauso: Die CDU-Frau Johanna Wanka wurde im April dieses Jahres als erste Ostdeutsche in das Kabinett eines westdeutschen Bundeslandes geholt. In den ostdeutschen Bundesländern sitzen dagegen 18 westdeutsche Minister in den Kabinetten, Berlin nicht eingerechnet.

Und nicht nur die politische Elite ist westdeutsch: Keines der 30 DAX-Unternehmen wird von Ostdeutschen geleitet. Keiner der 16 Bundesverfassungsrichter ist im Osten aufgewachsen. 95 Prozent der Professuren in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind – selbst an ostdeutschen Universitäten – von Westdeutschen besetzt. Keine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt hat eine ostdeutsche Intendantin oder einen ostdeutschen Intendanten, noch nicht einmal der MDR, und keine überregionale Tageszeitung, kein großes Magazin wird von einer ostdeutschen Chefredakteurin oder einem ostdeutschen Chefredakteur geleitet. Selbst Berliner Zeitung, Berliner Kurier oder SUPERillu, die alle drei fast ausschließlich im Osten gelesen werden, sind in westdeutscher Hand. Auch das SZ-Magazin macht da keine Ausnahme, weder in der Textredaktion noch in Grafik oder Bildredaktion sind Ostdeutsche zu finden.

Wer will es den Ostdeutschen verdenken, dass diese Machtlosigkeit sie wütend macht, dass noch immer eine Mehrheit von ihnen angibt – ohnmächtig, enttäuscht, zurückgewiesen –, sich mehr als Ostdeutsche denn als Deutsche zu fühlen?

Natürlich lassen sich manche Zahlen erklären: Nach der Wende sollten SED-Kader und Stasi-Leute nicht wieder Macht und Einfluss bekommen, und vielen Ostdeutschen fehlten anfangs Qualifikationen, Zeugnisse, Auslandsaufenthalte oder Sprachkenntnisse, um beispielsweise in der Wissenschaft oder Wirtschaft Karriere zu machen. Aber heute, zwanzig Jahre später? Raj Kollmorgen ist sich sicher, dass mehr als genug Ostdeutsche geeignet wären, gehobene Positionen zu besetzen. Er hat eine andere Erklärung dafür, dass sie weiterhin ausgeschlossen bleiben: »Eliten neigen dazu, sich selbst zu reproduzieren.« Was er damit meint: Der Geschäftsführer oder Universitätsprofessor, der einen neuen Mitarbeiter sucht, stellt bevorzugt den ein, der ihm am ähnlichsten ist; der zum Beispiel die gleiche Hochschule besucht hat, den gleichen Sport treibt; der aber auch die Dress- und Benimmcodes kennt, einen ähnlichen Geschmack hat.

»Die feinen Unterschiede« nannte der französische Soziologe Pierre Bourdieu dieses Herrschaftswissen, das man nicht im Wirtschaftsseminar lernen kann, sondern in das man hineingeboren wird wie in eine Adelsfamilie. Und wenn Herkunft und Habitus mehr als Leistung zählen, haben es Ostdeutsche genauso schwer wie Frauen oder Migranten, in Führungsetagen aufzusteigen. Deutschland gilt nicht erst seit der PISA-Studie als eine der undurchlässigsten Gesellschaften im europäischen Vergleich.

In welchen Berufen es in Deutschland doch mehr Ostdeutsche als Westdeutsche gibt, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Die Ostdeutschen haben also nichts zu sagen. Schlimmer noch: Man macht sich auch noch lustig über sie. Mögen Ossi-Witze über Begrüßungsgeld, Bananen oder Trabbis auch nicht böse gemeint sein, zeigen sie dennoch, dass von Anfang an eines galt: Alles Ostdeutsche war das andere, das Ungewohnte, das Komische. Das Westdeutsche war die Norm, und so ist es bis heute. Zonen-Gaby darf rein, aber sie muss Zonen-Gaby bleiben. »In dieser Hinsicht hat man mit der Beitrittslösung der Wiedervereinigung eine große Chance verpasst«, sagt Raj Kollmorgen.

Weil 1990 eben nicht zwei Staaten zusammengeführt wurden, sondern der eine in dem anderen aufging. »Dieses Fehlen einer symbolischen Anerkennung setzt sich bis heute fort. Der Osten wird entweder veralbert oder runtergemacht, als ›industrielle Brache‹ oder ›No-go-Area‹, wo man ausschließlich auf Verlierer – faule Arbeitslose und Neonazis – trifft.« Wer bezweifelt, dass diese Ansichten weit verbreitet sind, der denke nur an Edmund Stoibers Aussage im Wahlkampf 2005: »Ich akzeptiere nicht, dass der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird. Die Frustrierten dürfen nicht über die Zukunft Deutschlands bestimmen.«

Jena ist eine Stadt, die gern als ein Stück Westdeutschland im Osten beschrieben wird, wer hier wohnt, gehört eher nicht zu den »Frustrierten«: eine mit 7,9 Prozent vergleichsweise geringe Arbeitslosigkeit, stabile Einwohnerzahlen, Sitz von gleich drei Max-Planck-Instituten, einer renommierten Universität, einem Fraunhofer-Institut und des Technologiekonzerns Jenoptik, einem der größten Arbeitgeber der Region. Jena ist also anders und bestätigt dennoch eindrucksvoll Kollmorgens Thesen: Sämtliche Institute werden von Westdeutschen geleitet.

Genauso wie Jenoptik und selbst das Stadttheater. »Überschichtung« nennen die beiden Wirtschaftssoziologen Klaus Dörre, 52, und Michael Behr, 50, auch sie beide Westdeutsche, dieses Phänomen. »Überschichtung« im Gegensatz zur »Unterschichtung«, die es in Westdeutschland mit dem Zuzug von Gastarbeitern seit den Sechzigerjahren gegeben hat: Die Gastarbeiter haben in der BRD die Drecksarbeit übernommen, die Westdeutschen im Osten die Führungspositionen. So ist im Osten etwa jede dritte Industriefirma mit mehr als 50 Mitarbeitern in westdeutscher Hand. »Und die gefühlte Überschichtung ist noch weit größer als die tatsächliche«, sagt Dörre. Umgekehrt geht im Westen die Zahl der ostdeutschen Geschäftsführer gegen null. Man kann sich das vorstellen wie ein Drehkreuz, das man nur in eine Richtung passieren kann. Geschlossene Gesellschaft.

Ob sich das in Zukunft ändern wird, darüber könne man nur spekulieren, sagen Dörre und Behr. Was sie aber wissen, ist: Insgesamt wird sich die Situation auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt noch verschlechtern, denn der Osten verliert gerade seinen größten Wettbewerbsvorteil: gut ausgebildete, günstige Arbeitskräfte. »Weil nach der Wende etwa vierzig Prozent der DDR-Betriebe schließen mussten, war der Osten für westdeutsche Unternehmer ein Fachkräfteparadies«, erklärt Behr. »Viele Firmen verlagerten damals ihre Produktion in den Osten, weil sie hier Ingenieure zu Facharbeiterlöhnen und Facharbeiter zu Arbeiterlöhnen einstellen konnten.« Nun schrumpft aber das Potenzial an Erwerbspersonen in Ostdeutschland aufgrund des demografischen Wandels drastisch: bis 2025 um etwa dreißig Prozent. Viele Unternehmen werden dann weiterziehen – und mit ihnen die Jobs.

Für einen Arbeitgeber, der sicherlich nicht ins Ausland abwandert, könnten noch mehr arbeitslose Ostdeutsche von Vorteil sein: für die Bundeswehr. Im Sommer 2009 geriet eine Patrouille der Bundeswehr in Afghanistan in einen Hinterhalt, drei deutsche Soldaten starben – alle drei waren Ostdeutsche. Der Grüne Bundestagsabgeordnete Peter Hettlich formulierte daraufhin eine Anfrage an die Regierung: Wie viele Soldaten im Auslandseinsatz stammen aus Ostdeutschland? Die Antwort: 3143 von 6391 – das sind fast fünfzig Prozent, bei den unteren Dienstgraden sind es sogar sechzig Prozent.

Michael Wolffsohn, Geschichtsprofessor an der Bundeswehr-Universität in Neubiberg bei München, kennt diese Zahlen und spricht deshalb, ohne es abwertend zu meinen, von einer »Ossifizierung« der Bundeswehr. Allerdings setzt diese nicht oben an: 2009 war unter den vier Generälen im Auslandseinsatz kein Ostdeutscher. Von den damals 200 Generälen der Bundeswehr war genau einer aus Ostdeutschland. Das sind 0,5 Prozent. Aber mehr als die Hälfte aller »Freiwillig Wehrdienst Leistenden« (FWDLer) kommt aus dem Osten: Sie verlängern ihren Grundwehrdienst um bis zu 14 Monate und riskieren damit einen Auslandseinsatz, bekommen aber mehr Geld, einen höheren Dienstgrad und zum Beispiel die Aussicht auf einen bezahlten Führerschein. Das erscheint doppelt attraktiv, wenn die Alternative Hartz IV lautet. »Je höher die Arbeitslosigkeit, desto größer ist das Interesse an einer beruflichen Tätigkeit bei der Bundeswehr«, so konnte man es 2007 sogar in einer Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr lesen.

Sind die Ostdeutschen unser Kanonenfutter? Michael Wolffsohn schränkt ein: »Es ist so: Wer arm ist, muss eher in Afghanistan sterben.« Ostdeutsche sind öfter arm, sie sind öfter arbeitslos. Deswegen gehen sie eher zur Bundeswehr. Die Lage scheint mittlerweile durchaus vergleichbar zu den USA, wo Afroamerikaner weit überproportional in der Armee vertreten sind und weit überproportional sterben. Der Unterschied ist: Die Zahlen in den USA sind rückläufig.

Interessenpolitik - schimpft Klaus Schroeder über die Ostdeutschen. Seine Argumente gegen die Diskriminierungsthese.

Es ist letztlich fast beliebig, welche Zahlen über Ost und West man heranzieht, nahezu auf allen Gebieten stellt man fest, dass Ostdeutsche dort fehlen, wo es um Macht geht, wo oben ist, und da überdurchschnittlich vertreten sind, wo es eher um die nackte Existenz geht, eben dort, wo unten ist. Das lässt sich nicht leugnen, und es lässt sich auch nicht unter Verschluss halten. Die Ostdeutschen wissen ziemlich genau um ihre Lage, sie haben den Vergleich ja ständig vor Augen, im gleichen Land.

Genau hier setzt die Kritik von Klaus Schroeder, 60, an, Leiter des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin: »Die Ostdeutschen sollten sich nicht immer nur mit dem Westen vergleichen, sondern auch mit der DDR von 1989, oder mit der Slowakei, Polen oder anderen Ostblockstaaten.« Von den Löhnen bis zur Lebenserwartung habe es einen einmaligen Angleichungsprozess zwischen Ost und West gegeben, das dürfe man nicht immer runterreden.

Was Schroeder damit sagen will: Die Ostdeutschen sollen es nicht immer runterreden. Schroeder gibt in seinem Büro, einer kleinen Villa in Dahlem, ein wenig den Thilo Sarrazin des Ost-West-Dialogs: Er spricht aus, was andere seiner Meinung nach nur zu denken wagen. Zum Beispiel in Sachen Gabriela S., der »Minus-Ossi«-Frau: »Ich kann da keine Diskriminierung erkennen, in der Firma arbeiten doch Ostdeutsche, die derselbe Chef eingestellt hat. Und es muss ja wohl möglich sein, aus fachlichen Gründen Ostdeutschen genauso abzusagen wie Westdeutschen, Spaniern oder Türken – ohne dass gleich der Diskriminierungsbeauftragte alarmiert wird.«

Außerdem sei es kein Wunder, dass nach der Wende kaum Ostdeutsche auf entscheidende Positionen gekommen wären, weil es in der DDR eben keine nennenswerte Gegenelite gegeben habe – nur SED-Kader. Im Übrigen hätten ehemalige SED-Leute den Osten vielerorts noch immer im Griff, aber das sei ein anderes Thema. Und dass die Ostdeutschen sich diskriminiert fühlen? »Das ist doch Interessenpolitik, viele jammern, weil sie sich davon etwas versprechen!« Überhaupt, manche Ostdeutsche hätten noch diese Ostmentalität von früher: dass keiner mehr haben dürfe als der andere.

Klaus Schroeder hat auf viele Fragen verblüffend einfache und schnelle Antworten. Nur bei einem Thema dauert es länger, bis er seine Position formuliert hat, über Helmut Kohls leere Versprechungen von den blühenden Landschaften hat er vielleicht noch nicht so oft gesprochen. »Das war wohl falsch«, sagt er, »damals hätte man sagen müssen: Die Einheit wird lange dauern und viel Geld kosten, aber das ist moralisch vertretbar, weil der Osten viel mehr gelitten hat in den vergangenen vierzig Jahren, und schuld an der Teilung sind wir selbst, wegen des von uns entfesselten Scheißkrieges.«

Stattdessen versprach Kohl 1990 ebenjene blühenden Landschaften und versicherte, die Kosten der Einheit könnten »aus der Portokasse« bezahlt werden. Die Wirkung dieser Sätze war und ist nicht mehr zurückzunehmen, und vielleicht haben sie noch mehr Schaden in den Köpfen angerichtet, als man glauben möchte. Weil einerseits die Westdeutschen bis heute nur unter Protest bezahlen, netto rund 1,6 Billionen Euro bisher, eine Zahl, die sich nebenbei bestens eignet, dem Osten Undank zu unterstellen. Und weil andererseits die Ostdeutschen sich bis heute verraten und verkauft fühlen: Sie verdienen noch immer weniger Geld für die gleiche Arbeit, haben weniger Erspartes, sind öfter arbeitslos und sie können für diese und all die anderen Nachteile niemanden konkret verantwortlich machen. Weil hinter ihrer andauernden Missachtung und Diskriminierung keine Strategie steckt, kein Feind, kein Gesicht. Sie können nur wütend sein auf die, die nichts oder zu wenig gegen ihre strukturelle Benachteiligung tun.

Wird sich das Problem einfach auswachsen? Wird es Geschichte werden, wie der »Minus-Ossi«-Lebenslauf von Gabriela S., der bereits als Exponat an ein Leipziger Museum geschickt wurde?

»Alle beruhigenden Noten zum Stand der deutschen Einheit verstellen den Blick auf eine Ost-West-Spaltung, die – vor allem wirtschaftlich – nicht kleiner, sondern wieder größer wird«, sagen Klaus Dörre und Michael Behr in Jena.
»Wir waren über vierzig Jahre getrennt und es wird etwa so viele Jahre dauern, bis wir die Nachwirkungen der Teilung überwunden haben und wieder wirklich beieinander sind«, sagt Klaus Schroeder in Berlin.

»Wenn wir nicht gezielt Ostdeutsche fördern, sodass sie auch in die Elitepositionen kommen, wird der Graben sich eher vertiefen«, sagt Raj Kollmorgen in Leipzig.
Ein wenig Linderung für die ostdeutsche Seele könnte der Ausgang des Berufungsprozesses bringen, den Gabriela S. und ihr Anwalt Wolfgang Nau gerade anstreben, die Begründung der Berufung ist schon geschrieben. Nau argumentiert, dass Ostdeutsche eben doch eine eigene Ethnie sind, er wird unterstützt von namhaften Ethnologen: Die vertreten die Position, dass die zeitgemäße Definition einer Ethnie sich maßgeblich an der Existenz eines »Wir-Gefühls« festmacht und auch daran, ob es eine Art anderer Seite, ein Gegenüber gibt, das die eigene Seite bedroht und von dem man sich abgrenzt.

Ossis hier – Wessis da. Wenn das Gericht ihrer Logik folgt, hieße das, dass Ostdeutsche nicht straffrei diskriminiert werden dürften. Und dass es eine weitere Ethnie gibt in Deutschland, die integriert werden muss.

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Alle Collagen dieser Ausgabe stammen von dem Ostberliner Grafikbüro Cyan, das mit seinen Arbeiten unter anderem in der ständigen Design-Sammlung des Museum of Modern Art in New York vertreten ist, große Einzelausstellungen in Tokio, Paris oder Moskau hatte und viele internationale Preise gewann. 1992 wurde cyan von Daniela Haufe und Detlef Fiedler gegründet, die schon zu DDR-Zeiten miteinander gearbeitet hatten und 1989 auch in der Bürgerbewegung »Neues Forum« aktiv waren. Beide hatten über zehn Jahre eine Professur an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig inne. An diesem Heft waren neben Haufe und Fiedler auch ihre Mitarbeiter Tobias Steinert und Daniel Wiesmann beteiligt.

Foto und Illustration: cyan