Die Gewissensfrage

Durch Zufall erfährt man, dass die Kollegin für die gleiche Arbeit viel weniger verdient als man selbst. Soll man ihr davon erzählen?

"Durch Zufall habe ich erfahren, dass meine Arbeitskollegin für dieselbe Arbeit deutlich weniger verdient als ich. Obwohl wir gleich alt ud gleich lang angestellt sind, eine fast identische Ausbildung haben und beide keine Familie. Ich arbeite nicht auffallend besser, sodass mir keine andere Erklärung einfällt als unser unterschiedliches Geschlecht. Soll ich nun meine Kollegin über die ungleiche Bezahlung informieren?" Tom E., Hamburg

»It was the nightingale, and not the lark, / That pierced the fearful hollow of thine ear;« – »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, / Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang.« Wie sehr Julia es auch beteuern mag, am Ende wird es sich zeigen, dass es doch die Lerche war. Ihr Gesang war es, der eindrang in die Höhle von Romeos Ohr – und dort den nahen Tag verriet.

Was das hier soll? Offensichtlich schildert Shakespeare hier einen frühen Fall von Kleinstraum-Whistleblowing. Und genau darum geht es bei Ihnen. Mit »Whistleblower« bezeichnet man in der Wirtschaftsethik jemanden, der wie ein Schiedsrichter mit einem Pfiff auf ein regelwidriges Verhalten in seinem Bereich hinweist und dabei notgedrungen meist vertrauliche Informationen veröffentlicht. Und auch Sie fragen sich, ob Sie Ihre Stillschweigensvereinbarung brechen dürfen – zumindest bis in das dann wohl weniger bange als vielmehr verärgerte Ohr Ihrer Kollegin. Gerechtfertigt wäre das, wenn Sie damit einen Missstand abstellen können, besonders dann, wenn das Stillschweigen in erster Linie dazu dient, den Missstand zu ermöglichen.

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Trifft das hier zu? Ein Personalverantwortlicher eines großen Unternehmens sagte mir, das ungeschriebene Gesetz, die Höhe seines Gehalts für sich zu behalten, wenn sie sich nicht ohnehin aus Tarifverträgen ergibt, diene in erster Linie dem Betriebsfrieden. Die Veröffentlichung der außertariflichen Gehaltslisten könnte vermutlich ganze Firmen zur Explosion bringen. Jedoch würden tatsächlich nach wie vor Frauen bei der Bezahlung benachteiligt, was leichter fällt, wenn es nicht publik wird. Daneben gebe es aber auch eine Reihe von sachlichen Gründen für vermeintlich unerklärliche Gehaltsunterschiede: vom simplen Verhandlungsgeschick bis hin zur unterschiedlichen Einschätzung des Entwicklungspotenzials des oder der Angestellten.

Woran es in diesem Fall liegt, kann man von außen letztlich nicht beurteilen. Aber Ihr Anliegen, Diskriminierung zu verhindern, hat hohes moralisches Gewicht. Deshalb halte ich es für vertretbar, das Lied der Lerche in der Morgendämmerung der Gleichberechtigung zu singen.

Nachweis:

Nach neuerer Rechtsprechung ist ein Arbeitnehmer trotz sogenannter Schweigeklausel berechtigt, über sein Gehalt zu sprechen (Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 21. Oktober 2009, Az. 2 Sa 237/09). Die Richter beziehen sich in dem Urteil ausdrücklich darauf, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz, den ein Arbeitgeber zu beachten hat, nur dann wirksam durchgesetzt werden kann, wenn Arbeitnehmer auch über ihr Gehalt sprechen dürfen. So sei eine Schweigeklausel "unwirksam, da sie den Arbeitnehmer daran hindert, Verstöße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz im Rahmen der Lohngestaltung gegenüber dem Arbeitgeber erfolgreich geltend zu machen".

Illustration: Marc Herold