Generation Stütze

Viele Deutsche zwischen 30 und 50 erlebten als Kinder der Wirtschaftswundergeneration eine Jugend in Wohlstand. Aber heute, als Erwachsene, sind sie immer noch auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. Warum ist das so? Und: Wie lang kann das gut gehen?

Sie weiß genau, wie gut es ihr geht: 3000 Euro netto verdient sie als Personalleiterin, weit mehr als das Durchschnittseinkommen eines deutschen Angestellten, und, ja: Andere Leute ernähren von dieser Summe sogar noch eine Familie. Bei ihr hingegen wird es auch ohne Kinder oft eng. Nach Abzug von Miete und Nebenkosten, Handyrechnung, Versicherungen, Autoreparaturen und Benzin bleiben ihr zum Leben etwa 1000 Euro im Monat. Nicht gerade wenig. Und doch nicht genug für sie.

»Irgendwas muss ich falsch machen, ich weiß nur nicht, was«, sagt Iris Sattler*, 40, und lacht, ein wenig verlegen. Alles kostet: ein Sakko fürs Büro hier, ein Paar Wildlederstiefel da, ab und zu ein Restaurantbesuch, die Wochenendtrips zu Freundinnen nach Berlin oder Köln. Ihr Gehalt reicht fast nie. Muss es aber auch nicht, denn das Konto wird ausgeglichen, darauf ist Verlass. Ihr Vater, der alte Herr Sattler, gibt gern; von dem Geld, das er als Inhaber eines Einrichtungshauses verdient hat, haben seine Frau und er schon zu Lebzeiten einen hübschen Batzen als Schenkung an Iris und ihren Bruder abgegeben. Das üppige Erbe nütze niemandem, wenn es erst nach dem Tod der Eltern an den Nachwuchs übergeht, findet der Vater. Finden auch die Kinder. Der große Bruder verwaltet das Geld, und wenn Iris anruft, sagt er gern vorwurfsvoll: »Mensch, Mädchen, du kannst doch nicht schon wieder Geld brauchen!« Aber sie kann. Und er überweist. Etwa 1500 Euro alle drei, vier Monate.

Ist das nun verantwortungslos? Verwöhnt? Unverschämt? Oder das gar nicht so ungewöhnliche Leben einer jungen Frau in Deutschland, die von daheim ein gutes Leben kennt und das Glück hat, dass ihre Eltern hart gearbeitet und viel gespart haben, erfolgreich waren und ihre Kinder gern beschenken? Iris Sattler hat einen festen Job, ein regelmäßiges Gehalt und eine kleine private Altersversorgung, man könnte sagen: Sie hat es geschafft. Man könnte aber auch sagen: Sie lebt über ihre Verhältnisse und lässt sich von Mama und Papa ihren relativ hohen Lebensstandard finanzieren, den sie sich aus eigener Kraft nicht leisten könnte. Sie gehört zu einer neuen »Generation Stütze«: Sie wird alimentiert – nicht vom Staat, sondern von ihrer Familie, und zwar dauerhaft.

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Eltern tun das seit eh und je: Sie unterstützen, wenn die Kinder in Not sind, wenn sie in die Ausbildung, ins Leben starten. Aber etwas scheint sich ganz gewaltig verändert zu haben in den vergangenen Jahrzehnten: Immer mehr Menschen weit jenseits der Berufsanfängerjahre leben vor allem deshalb gut, weil Mama und Papa oder Oma und Opa jeden Monat Geld zuschießen. Ist ja schließlich genug da: Nie zuvor hat es eine Generation wie die jetzt im Renten-alter angekommenen Wirtschaftswundereltern gegeben, die über so viele Jahre so großen Wohlstand aufbauen konnte. In den Neunzigern, das hat die Deutsche Bundesbank ausgerechnet, bunkerten die Deutschen ein Privatvermögen von neun Billionen Mark; die Hälfte Grundvermögen, ein Drittel Geld. Das war doppelt so viel wie 1980, dreimal so viel wie 1970. Davon wurden allein im vergangenen Jahrzehnt 1,7 Billionen Euro vererbt.

Doch oft setzt der Geldregen längst vor dem Erbfall ein: Der Sozio-loge Martin Kohli hat ausgerechnet, dass rund 30 Prozent der Eltern ihre erwachsenen Kinder regelmäßig unterstützen und sogar etwa ein Zehntel ihrer eigenen Rente dafür hergeben. »Familie ist wie eine gute Versicherung«, sagt er – die aber eine Einbahnstraße zu sein scheint: Nur zwei Prozent der Alten bekommen Geld von ihren Kindern. Zudem leisten die 60- bis 85-Jährigen jährlich 3,5 Milliarden Arbeitsstunden für Hilfe in der Familie, Pflege, Betreuung von Enkeln. Kohli findet das toll, das sei »gelebte Sozialpolitik«. Der Krieg der Generationen? Aber nicht doch, das sei ein Mythos.

Berthold Vogel findet das im Prinzip ebenfalls toll. Aber er hat doch ein paar kritische Anmerkungen. Die klingen schon in der Habilitationsschrift des Soziologen aus Kassel an: Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen. Vogel findet den beträchtlichen »intergenerationalen Finanztransfer« sinnvoll – aber gleichzeitig gefährlich. »Wir haben nie etwas anderes erlebt als Wachstum, und jetzt leben wir über unsere Verhältnisse.« Denn nach Jahrzehnten der stetig steigenden Gehälter und Renten sinken jetzt die Nettolöhne und explodieren die Sozialabgaben. Feste Stellen auf Lebenszeit haben Seltenheitswert, prekäre Arbeitsverhältnisse sind die Regel. Wer meinte, einen lebenslangen Anspruch auf eine schöne Wohnung, zwei Autos und zwei Urlaubsreisen im Jahr zu haben, der stellt plötzlich fest: verrechnet. Und doch haben viele 35- bis 55-Jährige den Schuss noch nicht gehört. Denn wenn auch der öffentliche Generationenvertrag wackeln mag, der private – die Eltern als Airbag, die Großeltern als Gönner – funktioniert besser denn je. Oma und Opa zahlen die Ballettstunden für die Enkelin und die Privatschule für den Enkel. Sie finanzieren den Familienurlaub auf Sardinien, kaufen der alleinerziehenden Tochter ein neues Auto und dem Sohn, der sein Erspartes im Börsencrash verloren hat, eine Wohnung. Und gar nicht so selten bezahlen sie – alles. Und beginnen sich langsam zu fragen: Sind wir eigentlich verrückt geworden?

* Alle Namen von der Redaktion geändert

Gutes Leben im Hier und Jetzt

Da sind zum Beispiel der Chirurg Friedrich Wimmer und seine Frau Elsa, die jetzt, da sie alt sind, schweren Herzens ihre schöne Düsseldorfer Villa in Hanglage vermieten und in eine kleinere Wohnung ziehen. Sicher ist sicher, denken sie. Denn Claudia, Michaela und Pamela, ihre drei Töchter, alle um die 50, haben »brotlose Künste« studiert, wie der Vater sagt. Anfangs fand er das als angestellter Klinikarzt ja spannend und war sogar ein wenig neidisch auf die Freiheit der Jugend, wenn eine seiner Töchter von Sinologie zu Japanologie wechselte, die zweite sich mal hier und mal da in der Musik und am Theater umtat und die dritte sich für Soziologie interessierte, aber nie einen regelmäßigen Job fand. Dann kamen Kinder, gescheiterte Partnerschaften.

Keine der drei Töchter hat eine nennenswerte Altersvorsorge, nur eine bezieht ein regelmäßiges Einkommen. Sie bekamen von daheim, von der umtriebigen Mutter und dem erfolgreichen Vater, eine gute Schulbildung mit auf den Weg, ein paar Internatsaufenthalte waren dabei, regelmäßige Reisen in alle Welt, ein großes Elternhaus, zwei Ferienhäuser. »Wir hatten ein schönes Leben«, sagt Wimmer heute, und es klingt wie ein Selbstvorwurf: Haben seine Frau und er den Kindern zwar viel, aber am Ende nicht das Richtige mitgegeben? »Tag und Nacht denke ich mit Schrecken: Wie soll deren Alter aussehen?« Weil er keine Antwort auf die Frage hat, stellt er nun seinen eigenen Lebensabend zur Disposition.

Dass das so sein muss, ist für ihn offenbar keine Frage, denn »die Kinder haben sich nun mal an unseren Lebensstandard gewöhnt«. Friedrich und Elsa Wimmer finden nicht, dass ihre Töchter von diesem Standard heruntermüssten; sie lieben sie und ihre Enkel und wollen nur das Beste für sie. Friedrich Wimmer geißelt sich sogar noch selbst: »Vielleicht war es falsch, dass ich nicht mehr gefordert habe, dass ich meinen Kindern nicht beigebracht habe, diszipliniert bei der Sache zu bleiben.« Weil es dafür zu spät ist, zahle und helfe er, sagt er ein wenig müde. Und hofft, dass die Zuwendungen, die an seine drei Kinder und seine drei Enkel fließen, reichen, bis die Kinder selbst alt sind und deren Kinder arbeiten. Und dann vielleicht ihren Eltern aushelfen.

Die heutigen Rentner – wie die Eltern Sattler und Wimmer – haben in der Regel so gelebt, wie sie es sich leisten konnten. Als Angehörige der Nachkriegsgeneration haben sie gelernt zu sparen. Taxi fahren? Regelmäßig essen gehen? Fernreisen? Stets die neuesten technischen Spielereien? Kam nicht infrage, die Kinder sollten es einmal besser haben. Es wurde in die Zukunft investiert, die Gegenwart – eine neue Hose, ein neues Auto – musste zurückstehen. Heute dagegen ist das gute Leben im Hier und Jetzt zur Selbstverständlichkeit geworden, und ob man sich das leisten kann, ist eher zweitrangig. Die Bergs zum Beispiel, die Krankengymnastin Annika und ihr Mann Jörg, Geschäftsführer in einem Sicherheitsunternehmen, beide Anfang 40, wohnen mit ihren drei Kindern in der Nähe von Wasserburg. Ihre Gehälter sind eher bescheiden, beide haben keinerlei Altersversorgung. Trotzdem bewohnen sie ein großes Haus mit Garten zur Miete, haben zwei Autos, fahren im Februar regelmäßig in die Skiferien und im Sommer nach Italien. »Wenn wir ganz realistisch sind, müssten wir in einer Vier-Zimmer-Wohnung wohnen, ein Auto abschaffen und sparen«, sagt Annika Berg, »das wäre sicher klüger.« Wäre, müsste, sollte – wer ändert schon sein Leben, wenn ihn das Leben nicht dazu zwingt? »Wir wissen nicht, wovon wir später mal existieren sollen. Aber wir wollen die Kinder jetzt nicht beschneiden.«

Und sich selbst anscheinend auch nicht: Jörg wettet gern auf Pferde, dabei geht viel Geld drauf. Wenn ihre Schwiegereltern nicht gewesen wären, sagt Annika, die in ganz schlimmen Phasen regelmäßig etwas zugeschossen haben, dann hätte sie manchmal nicht weitergewusst. Zweimal im Jahr neue Kleidung für alle drei Kinder haben die Schwiegereltern schon immer gezahlt, in den Urlaub wurden Kinder und Enkel auch mitgenommen. Zudem erhält Jörg, obwohl er sich mittlerweile mit den Eltern überworfen hat, ein monatliches Gehalt für »Beratertätigkeiten« vom Vater, damit die Familie anständig leben kann. Ist das nun demütigend? Oder einfach nur wahnsinnig erleichternd? Und ist die Situation nicht am Ende auch Schuld der Eltern? Denn was wäre gewesen, fragt sich Annika, wenn ihr Mann nicht schon als Sohn immer alles gekriegt hätte, wenn nicht mit Geld Liebe erkauft worden wäre? »Vielleicht hat er nie eine echte Lebenskompetenz entwickeln können«, sagt sie, »weil er alles abgenommen bekam. Er kannte kein Risiko, vielleicht ist er deshalb bis heute von seinen Eltern abhängig.«

Ein Ende der großen Umverteilung von Alt zu Mittelalt ist nicht in Sicht: Im nächsten Jahrzehnt werden etwa zwei Billionen Euro weitervererbt; bereits in den vergangenen 20 Jahren hat sich der durchschnittliche Wert einer Erbschaft von etwa 100 000 Euro auf 240 000 Euro mehr als verdoppelt. Soziologen wie der Kölner Professor Jens Beckert fragen, ob solch »unverdientes Vermögen« nicht dem Leistungsethos liberaler Gesellschaften widerspreche. Und er warnt: »Sollten die Leistungen der Rentenversicherung abgebaut werden, so lässt sich erwarten, dass die jetzige Erbengeneration auch die letzte sein wird. Denn die Erbschaften würden dann für die eigene Alterssicherung konsumiert.« Der renommierte Ökonom Gert Wagner, der am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung für die Erhebung sozioökonomischer Daten zuständig ist, sieht das dagegen positiver. Er betrachtet den Finanztransfer als »Kitt für Familienbeziehungen«.

Tröstlicher Kitt, der die Familien zusammenhält

Es sei doch sinnvoll, dass geholfen werde, wo geholfen werden müsse. »Die mittlere Generation, die tatsächlich hohe Beträge an die Rentenkasse zu zahlen hat, bekommt das Geld oft direkt von den eigenen Eltern zurück.« Die Rentenzahler von morgen, sagt er, »die tragen dann wieder eine geringere Belastung. Denn sie müssen niedrigere Renten für eine sinkende Zahl von alten Menschen finanzieren.« Und noch einen finanziellen Vorteil habe die nächste Generation: Weil immer weniger Kinder pro Familie geboren würden, müsse ein mögliches Erbe auch unter weniger Geschwistern aufgeteilt werden. »Sehen Sie«, sagt er, »das Leben hält immer wieder Ausgleichsmechanismen bereit.«

Tröstlicher Kitt, der Familien zusammenhält – oder schleichendes Gift? Geld, das Chancen bewahrt – oder Geld, das Eigenverantwortung untergräbt? Auf den Kitt, die Solidarität, setzen Klaus und Ingrid Winter, ihre Söhne Ben und Lars und deren Frauen, Mitte 20, sowie die Enkeltöchter Laura, Anna und Clara, zwischen eins und vier. Die alten Winters haben ein Möbelgeschäft in Saarbrücken; dem einen Sohn haben sie die Anschubfinanzierung für eine Kneipe geschenkt, dem anderen nach der Kochlehre Hilfe bei der Eröffnung eines Bistros geleistet. Warum? Weil Sohn eins nach einer abgebrochenen Lehre eine zweite Ausbildung machte, mehrmals den Lehrherrn wechselte, dann, noch sehr jung, ein Kind zeugte und eine Zukunft brauchte. Weil Sohn zwei erst gar keinen Schulabschluss hatte, beim Vater in die Lehre ging, dann, sehr jung, ein Kind zeugte – und eine Zukunft brauchte.

Die Großeltern nehmen die Babys, wenn die eine Schwiegertochter an der Uni ist und die andere jobbt, sie hatten die Idee mit der Kneipe, haben beim Ausbau des Bistros geholfen und nie Fragen gestellt, wenn die Pläne der Kinder sich mal wieder änderten. Wenn Ben zwar »wusste, was er wollte, aber das nicht dort fand, wo er war«, und Lars »nur wusste, was er nicht wollte«. Die Winters stellen ihre Ansprüche hinter die der erwachsenen Kinder zurück, sie organisieren ihr Leben nach den Zeitplänen der Kinder, richten ihre Investitionen nach den Bedürfnissen der Kinder und der Enkel. Da wird viel gegeben, kommt auch viel zurück? »Das soll es gar nicht«, findet Klaus Winter, »wer Dankbarkeit erwartet, vergiftet die Beziehung.«

Fühlen sich die beiden Söhne abhängig? Bevormundet? Nein, sagt Ben, der Bistro-Betreiber, »um mich herum ist eine Familie, die alles dafür tut, dass ich nicht untergehe«. Nein, sagt Lars, es gebe keine Verpflichtungen. Vielleicht gehe er bald mal weg, er habe »Übung im Ausbrechen«. Wahrscheinlich aber nicht. Denn auch hier ist es so: Weder Ben noch Lars haben eine Altersvorsorge, sie zahlen in keine Rentenkasse, legen nichts zurück. Sie haben ja ihre Eltern, die arbeiten werden, bis sie umfallen. Und sie haben ihre Kinder, die eines Tages arbeiten müssen. Das alles ist: ein gelebter Generationenvertrag. Es darf nur nichts passieren, kein Spekulant des Schicksals darf gegen die Familie Winter wetten, keine Krise über sie hereinbrechen. Denn wer würde dann das Rettungspaket finanzieren?

Foto: York Christoph Riccius(2), OBS