Der Fußball-Narr

Nach seinem vermeintlichen Tod lässt sich Diego Maradona die Zähne richten und joggt wieder. Es ist der nächste Akt in Argentiniens bester Seifenoper.

Der Mann, der Diego Maradona das Leben retten will, spricht leise vom Tod: »Er wäre dreimal fast gestorben«, sagt Alfredo Cahe, seit drei Jahrzehnten Leibarzt des besten und berühmtesten Fußballspielers, den die Welt je gesehen hat. Eine Räucherkerze würzt die überheizte Luft im Sprechzimmer seiner plüschigen Praxis im Zentrum von Buenos Aires, draußen weht nasskalter Wind vom Rio de la Plata. Neben dem Eichenschreibtisch lagern Stethoskop, Flakons und Schachteln mit dem Aufdruck Cerebrum Compositum N und Hepar Compositum, homöopathische Arznei für Gehirn und Leber. »Für Diego«, sagt Dr. Cahe, 64 Jahre alt und schmal. Er wird ihm den Inhalt der Ampullen später in die Venen spritzen, wie jeden zweiten oder dritten Abend.

Sein Patient erholt sich seit Monaten bei seiner neuen Freundin am Rande der Stadt, nach dem Kokain hätte ihn beinahe der Alkohol umgebracht. Wegen depressiver Verstimmung trank Maradona täglich sechs Flaschen Champagner und rauchte Havannas, obwohl sein Körper das nach zwei Herzinfarkten und einer Magenoperation nur schlecht verkraftet. »Er dachte, er kann damit umgehen – ich musste ihn betäuben und einliefern«, erzählt Cahe. Der Mediziner brachte den 46-Jährigen Ende März in eine Notaufnahme, Diagnose toxische Hepatitis. Nach zwei Wochen ließ er sich auf eigenen Wunsch entlassen und tags darauf mit furchtbaren Magenschmerzen in die nächste Intensivstation bringen, dann in eine Psychiatrie. »Das Schlimmste außer der Hepatitis waren die Entzugserscheinungen«, sagt der Arzt. Einen Moment lang hieß es, Maradona sei tot. Alfredo Cahe nimmt die Lesebrille ab. Der Doktor hat das alles schon oft erlebt, seit diese sagenhafte Fußballerkarriere zur öffentlichen Krankheit verkam. »Wir hatten Glück«, sagt er, »Gott hat uns eine neue Chance gegeben«, Götter spielen in dieser Geschichte eine wesentliche Rolle: Denn hier geht es nicht nur um eine Sucht, unter der Millionen Menschen leiden. Der Fall Maradona ist ein religiös überhöhtes Drama, in dem ein Jahrhunderttalent abhängig wurde von Erfolg, Anerkennung und Drogen und seine Anhängerschaft süchtig nach Triumphen und Tragödien. Es spielt noch dazu in Argentinien, einem Land, das selbst zwischen Euphorie und Depressionen wankt und traurige Mythen verehrt: Die Präsidentengattin Evita Perón starb mit 33 an Krebs; Che Guevara wurde mit 39 erschossen; der Tangosänger Carlos Gardel kam mit 44 bei einem Flugzeugunglück ums Leben. Wie lang, fragt sich ganz Argentinien, hält Maradona seine Exzesse noch durch?

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Zu seiner Glanzzeit galt er als der bekannteste Mensch überhaupt. Seine schönsten Tore sind Kunstwerke, auf Videos unterlegt mit Tangomusik. Beim argentinischen WM-Sieg 1986 gelangen dem Kapitän Maradona im Viertelfinale gegen England die meist wiederholten Treffer der Fernsehgeschichte. Beim ersten half er mit dem Arm nach und erläuterte nachher, »ich habe es mit Maradonas Kopf und der Hand Gottes gemacht«, es ist der legendärste seiner Sprüche. Beim zweiten Treffer umkurvte Maradona sechs Engländer, beides gilt als Revanche für die argentinische Schmach im Falklandkrieg 1982.

Jünger gründeten die Iglesia Maradoniana, die Maradona-Kirche, sie begeht Ostern am Datum des Triumphes über England am 22. Juni und Weihnachten zu Maradonas Geburtstag am 30. Oktober. Die Gemeinde befindet sich derzeit »im Jahr 46 nach
Diego«, und betet das »Diego Unser«. In Neapel, wo Maradona den mittelmäßigen Verein SSC zu Titeln führte, wurde er verehrt wie der Patron San Gennaro. Wen störten vermeintliche Kontakte zur Camorra, Trainingsverweigerungen, Dopingsperren, Vaterschaftsklage, Steuerschulden? Zur Adventszeit stehen geschnitzte Maradonas neben Madonnas.

»Er glaubt, er sei Gott«, brummt in einer düsteren Parterrewohnung ein Pensionär mit silbrigem Haar und chronischer Gastritis. »Sein Charakter lässt das zu.« Francisco Cornejo, 75, war Maradonas erster Trainer bei der Nachwuchself der Argentinos Juniors, genannt Cebollitas, Zwiebelchen. Dios, das spanische Wort für Gott, schreiben Maradonianer mit Druckbuchstaben und einer 10 in der Mitte, die Zehn war Maradonas Rückennummer, D10S wie DIOS. Cornejo steckt die Hände in die Trainingsjacke mit der Aufschrift Argentina und der Nummer 10. »Diego kann nichts dafür. Man hat ihn verrückt gemacht. Und dann kamen die Drogen.«

Tabletten schluckte er schon mit 14, damals für die überlasteten Knöchel. Kokain entdeckte der Aufsteiger, als er mit Anfang zwanzig zum FC Barcelona kam, Kokain war wie Schnee am Gipfel der Gesellschaft. Der Jetset umgarnte ihn, sein Manager wurde ein halbseidener Landsmann mit Namen Guillermo Coppola. Inzwischen hat sich Maradona von ihm getrennt und nennt ihn einen Gauner. Bei der WM 1994 in den USA wurde der alternde Star wegen einer positiven Urinprobe aus dem Turnier verbannt. Als Fitnesstrainer verpflichtete er anschließend den gedopten Sprinter Ben Johnson aus Kanada, auf die Idee muss einer erst mal kommen.

1996, als die Sportlerlaufbahn zu Ende ging, war Maradona ein Wrack und gab es zu: »Mit den Drogen habe ich aufgehört, Diego zu sein, und mich in einen Mann verwandelt, der sich im Spiegel nicht mehr gefällt.«

Die Dämme brachen, als seine Zeit auf dem Rasen 1997 vorbei war. »Solche Menschen leiden und lassen leiden, sie steigern ständig das Risiko«, sagt der Psychologe Juan Manuel Bulacio; Buenos Aires hat die größte Therapeutendichte jenseits von Manhattan. Maradonas erster Trainer Francisco Cornejo sieht es so: »Nichts macht ihn so traurig wie die Tatsache, dass er nicht mehr Fußball spielt, das verstehen die Leute nicht. Diegos Leben ist ein Fußball.« – »Mit dem Ball zu spielen gab mir einen einzigartigen Frieden«, steht in Maradonas Memoiren. Er trug enge Schuhe, um den Ball besser zu spüren. Als er nicht mehr mit dem Ball spielen konnte, spielte er mit dem Leben.

Der erste Herzinfarkt im Jahr 2000 war die Folge einer Überdosis Kokain im Schickeriatreff Punta del Este in Uruguay. Vor drei Jahren folgte der nächste Zusammenbruch. Auf einer Farm vor Buenos Aires kokste, feierte und spielte ein fettleibiger Maradona nächtelang Golf, mit einem fluoreszierenden Ball, auf dem Kopf eine Bergarbeiterlampe. Eines Morgens um vier sank der Dauergolfer wie vom Blitz getroffen ins nasse Gras, sein Leibarzt Dr. Cahe war zufällig zur Stelle.

Maradona wurde in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Später jammerte er: »Da war einer, der sich für Robinson Crusoe hielt, und deshalb glaubten sie mir nicht, dass ich Maradona bin.« Er sprach unverständlich, weinte im Fernsehen und überredete den Staatschef Nestor Kirchner dazu, ihm die Ausreise zu genehmigen – man hatte ihn unter Zwangsaufsicht gestellt. Gemeinsam mit Dr. Cahe flog er nach Kuba und verbrachte Monate in einer Entzugsklinik nahe Havanna. In Argentinien wollen ihn inzwischen nur noch die wenigsten Krankenhäuser, sie fürchten seinen Tod – und die Journalisten. Außerdem ist Maradona mit Fidel Castro befreundet, beide verbindet unter anderem der Hass auf US-Präsident Bush. Inzwischen sind sie Leidensgenossen, der greise Comandante rang nach seinen Darmoperationen mit dem Tod. »Diego telefoniert oft mit ihm«, sagt sein Arzt Cahe und zeigt ein Foto, auf dem sie alle drei zu sehen sind. Maradona trägt karottengelb gefärbte Haare, auf seiner rechten Schulter spannt sich ein Tattoo des Revolutionärs Che Guevara. 

Vor zwei Jahren wog Maradona 129 Kilo, aufgequollen von Fast Food, Rauschgift,
Psychopharmaka – das figurbewusste Argentinien war schockiert. Von kolumbianischen Spezialisten in Cartagena ließ er sich den Magen verkleinern, sechs Monate später leitete Maradona, abgespeckt auf 76 Kilo und in Glitzerklamotten ein wöchentliches TV-Spektakel namens Die Nacht der 10. Er interviewte Castro, Robbie Williams und sich selbst. Seit seiner wundersamen Verwandlung sind solche chirurgischen Eingriffe unter übergewichtigen Argentiniern Mode.

Das Publikum verfolgt seine Metamorphosen wie eine Reality-Show. Seine Abstürze und Auferstehungen passen zur Heimat: Argentinien war früher eine der reichsten Nationen und schlitterte 2001 in die größte Pleite aller Zeiten, zuletzt ging es wieder aufwärts. »Wir sind das einzige Land, das seinen Selbstmord überlebt«, sagt der Psychologe Bulacio und lacht. Pessimisten denken schon an den nächsten Zusammenbruch und an das Staatsbegräbnis für Diego: »Er in der Kiste, drei Millionen Menschen stehen an, um ihn zu sehen, mit gewaltigen Quoten im Fernsehen«, fantasiert der Journalist Carlos Ares, »welchen anderen Ausweg sollte Maradona haben?«

Am 25. April um 17 Uhr 45 macht das Gerücht die Runde, Maradona sei tot. Er befindet sich zu dieser Stunde in der psychiatrischen Klinik Avril und nimmt an der Gesprächstherapie teil. Der sonst geschwätzige Boulevardsender Crónica TV schweigt minutenlang und zeigt schwarzen Trauerflor, vor dem gläsernen Portal drängeln sich Reporter, das Volk betet. Aufgeregt ruft der Gesundheitsminister den Chefarzt an, und der Innenminister schickt einen Polizeiinspektor. Maradonas 80-jährige Mutter steigt vor Schreck der Blutdruck. Der Polizeiinspektor, der Leibarzt Cahe sowie Maradonas frühere Frau und heutige Managerin Claudia enttarnen die Falschmeldung, die Leitung der Klinik verliest ein beruhigendes Bulletin.
Maradonas Wiedergeburt wird kaum 24 Stunden nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie wie üblich live und zur besten Sendezeit begangen, diesmal in ShowMatch auf Canal 13. »Olé, Olé, Diegoo, Diegoo«, singt die Band und »Maradoooo«, den ewigen Schlachtruf. Es regnet Konfetti, auf Bildschirmen dribbelt der Diego von einst England aus und stemmt den Weltpokal. Der Ehrengast ist selbstverständlich anwesend, trägt weißes Hemd, dunkelblauen Anzug und Krawatte, an beiden Ohrläppchen blinken Brillanten. »Keine Ahnung, wo die Nachricht von meinem Tod herkam«, sagt Maradona. »Ich war in keinem Moment dabei zu sterben.« Er schimpft auf Journalisten und Politiker, erzählt von seiner Leber, seinen beiden Töchtern, seiner Freundin, Fußball, Gott, Kokain, seit zweieinhalb Jahren sei er clean: »Wenn ich nie Kokain genommen hätte, was für ein Spieler wäre ich gewesen.« Seine Augen werden feucht. »Es ging mir schlecht, gebe ich zu, kann ein Alkoholexzess gewesen sein.« Im Hintergrund ist Geigenmusik zu hören. »Aber ich bin kein Säufer. Ich will mich wieder in Form bringen. Ich lebe und will weiterleben.«

Cahe packt den Arztkoffer. Er muss los, zu Diego, Richtung Flughafen Ezeiza. »Er erholt sich unglaublich, aber er braucht Ruhe, die man ihm nicht lässt.« Maradona spielt schon wieder Showball, eine Art Hallenfußball, Saudi-Arabien bietet eine Mil-lion Dollar pro Auftritt. Er zeigt sich als feierndes und singendes Maskottchen mit seinem Clan in seiner Loge im Stadion von Boca Juniors und in anderen Arenen, natürlich im Fußballdress. Wettert gegen Funktionäre. Lässt sich in Kolumbien von einem Kieferchirurgen die Zähne richten. Und verpasst derweil einen Gerichtstermin, nachdem er im vergangenen Jahr im Suff zwei Passanten an einer Telefonzelle angefahren hatte – die Staatsanwaltschaft droht mit Haftbefehl. Jetzt jogge der Rekonvaleszent vorsichtig und werde betreut von seiner neuen Lebensgefährtin Veronica, er lernte sie wie ihre Vorgängerin Claudia in Villa Fiorito kennen, dem Viertel, in dem er aufwuchs. »Bei Drogen ist es so, als ob du gegen ein Gespenst kämpfst«, sagte Maradona einmal. Alfredo Cahe füllt eine Plastiktüte mit Medikamenten. »Es liegt auch in der Hand Gottes, ob Diego es schafft«, sagt er, und man weiß nicht recht, welchen Gott Maradonas der Doktor gerade meint.

Fotos: dpa, ddp, afp, rtr