Hey, Süße!

Seit Jahrzehnten tobt in Europa ein Kampf um die Wunderpflanze Stevia: gesünder als Zucker, leichter als Zucker. Jetzt könnte Friede einkehren.

Bonbons könnten schon bald mit einem kalorienfreien und zahnschonenden Extrakt aus der Steviapflanze gesüßt sein. Allerdings nur ein kleines bisschen.

Glaubt man den Fans von Stevia, stehen wir kurz vor einer Revolution: Weil die Wunderpflanze nun – endlich! – auch in Deutschland einreisen könnte, zumindest ein Extrakt aus ihr. Und das werde nicht nur den Zuckermarkt verändern, sondern auch unsere Figuren.

Stevia rebaudiana Bertoni ist die biologische Bezeichnung eines Gewächses aus dem Grenzgebiet zwischen Paraguay und Brasilien, das Honig- oder Süßkraut, das unschlag-bare Talente hat: Ein Auszug aus dieser Pflanze, Steviolglykosid, süßt 300-mal stärker als Zucker, schützt die Zähne, ist für Diabetiker geeignet und hat kaum Kalorien – ist also die quasi-natürliche Alternative (auch Steviolglykosid wird chemisch aus der Pflanze extrahiert!) zu synthetischen Süßstoffen wie Aspartam oder Cyclamat. Japan, Israel, Korea, Brasilien, USA verwenden Steviolglykoside schon lang, China beherrscht etwa 95 Prozent der Weltproduktion. In der EU aber tobte jahrzehntelang ein heftiger Kampf um das Kraut.

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Denn die Stevia-Pflanze durchlief ein endloses EU-Prüfungsverfahren, das jedes sogenannte Novel Food vor seiner Anerkennung in Europa bestehen muss: Dabei werden die Inhaltsstoffe geprüft und erst nach teuren und langwierigen Studien für unbedenklich erklärt. Der Europäer soll nur Lebensmittel bekommen, die »Vorteile bringen«, so die Bestimmungen, und nicht der Gesundheit schaden. Die Richtlinien sind aber so streng, dass heute auch Rhabarber wegen seines Oxalsäuregehalts sehr genau unter die Lupe genommen würde. So kurios es klingt: Natur stellt ein schwer zu kalkulierendes Risiko dar. Bei Muskatnüssen wissen die Verbraucher, in welchen Dosen sie Vorteile bringen oder Schaden anrichten: Schon vier Gramm können zu Vergiftungen führen. Aber bei Stevia oder ihren Extrakten existiert dieses Wissen noch nicht – obwohl man die Pflanze seit Jahrhunderten in südamerikanischen Ländern zum Süßen von Mate-Tee nutzt.

Lange stockte das Novel-Food-Verfahren für Stevia. Die Stevia-Gemeinde witterte hinter der Verzögerung schon den Versuch der Zuckerindustrie, die Inlandsmärkte abzuschotten. Unsinn, entgegnete die Wissenschaft, die Frage laute vielmehr: Welche Steviapflanze untersucht man, aus welchem Land, wie viel Sonne und Wasser hat sie bekommen? All das beeinflusst die Wirkung ihrer Extrakte. Und kaum einer wollte die teuren Studien bezahlen, um die offenen Fragen zu klären. Wer immer eine Studie bezahlt, finanziert sie allein, aber am Ende profitieren auch Konkurrenten: Denn bei Naturprodukten kann keiner ein Monopol erhalten. Obendrein muss er den Behörden sein Herstellungsverfahren offenlegen. Japanische Wissenschaftler etwa erforschen Stevia schon lange, scheuten sich aber, ihre Daten europäischen Behörden zu überlassen.

Im April dieses Jahres hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit immerhin die Unbedenklichkeit von Steviolglykosiden in geringer Tagesdosis bestätigt. Die Pflanze Stevia wurde zwar nicht als Novel Food deklariert, aber der Extrakt Steviolglykosid könnte als Lebensmittelzusatz erlaubt werden, unter dem unsexy Namen E 960. Letzte Beweise für die Harmlosigkeit haben Konzerne wie Cargill und Coca-Cola erbracht. Nun muss die EU-Kommission entscheiden. In Frankreich steht wegen einer Ausnahmeregelung seit letztem Jahr Steviolglykosid-Joghurt im Regal. Nach etwa 20 Jahren der Tests könnte die Natursüße nun auch im Rest Europas zugelassen werden – in eingeschränkter Form: Denn die Nachweise von Cargill und Coca-Cola beziehen sich nur auf geringe Dosen des Extrakts. Hersteller, die Produkte damit süßen wollen, müssen noch Zucker beimischen.

Sind solche Produkte gut für den Verbraucher? Oder verleihen sie nur den Getränke- und Süßwarenherstellern einen grünen Anstrich? Es bräuchte Langzeitstudien, bevor Getränke ganz mit Steviolglykosid gesüßt werden könnten. Das wäre aber gar nicht im Sinne großer Getränkehersteller: Genügend Steviolglykosid für die Massenproduktion ist kaum zu bekommen – weil noch viel zu wenig Wunderpflanzen angebaut werden.