»Die Power Generation Girls in der Dunkelstadt Shibuya«

Von der Dunkelheit im Ausgehviertel Shibuya lässt sich Yuko nicht verunsichern. Mit ihren Freundinnen trifft sie sich in ihrer Stammkneipe. Sie sprechen über ihre Ängste, aber können auch noch zusammen lachen. Teil zehn ihres Krisen-Tagebuchs.

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25. März

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Wie der Schatten eines Waldes
Shibuya. Es ist das erste mal nach dem Erdbeben, dass ich nach Einbruch der Nacht hierhin komme. Shibuya ist das Ausgehviertel von Tokio, eine Gegend, die eigentlich übersprudelt vor Leben. Nun ist dieser sonst stets etwas zu grelle und zu laute Stadtteil ungleich dunkler. All die blinkenden Leuchtstoff-Reklametafeln wurden ausgeschaltet oder abgedunkelt, um Elektrizität zu sparen. Dennoch treiben sich hier allerhand Leute rum. Sie sehen aus wie der Schatten eines riesigen Waldes in der Nacht. 
 
Power Generation Girls

Meine Freundin Mariko hat die Power Generation Girls zusammengetrommelt. Wir treffen uns im Sunday Issue, unserer Stamm-Bar, nur ein paar Gehminuten von der Shibuya Station entfernt. Die Power Generation Girls, das sind acht Frauen, und sie alle arbeiten im Bereich interaktive Medien, als Kuratorinnen, Programmiererinnen, Web-Designerinnen und Journalistinnen mit dem Spezialgebiet Medienkunst.  

Der Wunsch zu helfen
Mariko schlägt vor, dass wir unsere Kräfte bündeln und mit unserem Know-How gemeinsam etwas auf die Beine stellen, um den Menschen im Norden zu helfen. Es soll mehr sein als bloß eine einmalige Wohltätigkeitsveranstaltung. Vorgemacht hat es unser guter Freund Abe san. Er ist Geschäftsführer einer Firma für interaktive Medien und hat eine Organisation namens Negau ins Leben gerufen, das heißt soviel wie „Wunsch“. Negau leistet einen äußerst praktischen Dienst: Sie sammelt überlebenswichtige Informationen auf Twitter, etwa zur Lebensmittelversorgung und über den Standort oder die Ausstattung von Notunterkünften. Die gesammelten Daten werden dann in ein Format umgewandelt, das mit herkömmlichen Mobiltelefonen abgerufen werden kann. Für all jene, die nicht Twitter nutzen, und das sind wohl die meisten Menschen im Erdbebengebiet.

Nampa heißt Abschleppen
Eines der Mädchen, Haiji, erzählt uns, es hätte am Tag des Bebens ungewöhnlich viele Abschlepp-Versuche gegeben, und in Shibuya soll das schon etwas heißen. Schließlich ist die Amüsiermeile auch Hauptstadt des Nampa. So heißt es bei uns, wenn ein Junge einem Mädchen Drinks ausgibt, in der Hoffnung, dass sie sich mit ihm ein Hotelzimmer nimmt. Wir Power Generation Girls vermuten, all die Playboys hatten nach dem Beben einfach zu viel Schiss, um die Nacht alleine zu verbringen. Eine großartige Vorstellung. Wir können nicht aufhören zu lachen.
 
Mies

Arina hingegen ist frustriert. Sie würde sich gerne Luft verschaffen, ihre kleinen Nöte in die digitale Umlaufbahn von Twitter schießen. Aber sie traut sich nicht mehr so recht. „Auf Twitter darf ich nicht einfach sagen, es ginge mir mies. Denn ich komme ja nicht aus dem Norden. Es darf einem aber nur mies gehen, wenn man aus dem Norden kommt, wenn man einen Menschen verloren hat, oder sein Zuhause“, beklagt sie sich. „Wer in Tokio wohnt und behauptet, es ginge ihm mies, gilt als selbstmitleidig und egoistisch.“ Wir alle finden es sehr wichtig, auch unserer Trauer Ausdruck verleihen zu dürfen, um sie bewältigen zu können und aus unseren Erfahrungen zu lernen. Glauben Sie nicht auch, das ist besser, als alles in sich hinein zu fressen?

Der kleine Unterschied
Ich möchte behaupten, dass Frauen ganz allgemein sehr viel emotionaler auf die Situation reagieren als Männer. Meine männlichen Bekannten nennen mich einen Emo. Auch Yudai hat mich nicht verstanden, als ich letztes Wochenende im Shikansen auf dem Weg in den Süden in Tränen ausgebrochen bin. Aber wenn ich Arina höre, fühle ich mich ein wenig erleichtert. Ich dachte wirklich, ich bin die einzige, die sich das Ganze sehr zu Herzen nimmt, dass ich zu emotional und melodramatisch bin.

Kitano
Zum Abschluss sprechen wir über das Statement des berühmten Filmregisseurs Takeshi Kitano. Er sagte: „Dies ist kein singuläres Ereignis, das 20.000 Menschen den Tod brachte. Sondern ein singulärer Tod, dem 20.000 Menschen anheim fielen.“ Es ist ein guter Abend. Denn wir lachen, teilten unsere Ängste und unsere Trauer, und dann verliert sich eine jede von uns auf dem Weg nach Hause zwischen den sich bewegenden Schattenbäumen in der Dunkelheit.

Yukos Tagebuch (I) - "Fukushima strahlt in unseren Köpfen"
Yukos Tagebuch (II) - "Ich frage mich was eigentlich bebt - ich oder der Boden unter mir"
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