Die Gewissensfrage

Auf YouTube sind lustige Filme von Kleinkindern derzeit der Renner. Aber dürfen Eltern Videos ihrer Kleinen einfach so ins Internet stellen?

»Auf Internetportalen wie YouTube sind Videos von kleinen Kindern und Säuglingen, die lustige Geräusche machen, große Renner. Sie erreichen zum Teil bis zu 200 Millionen Klicks. Die Videos werden meist von den Eltern der Kinder ins Netz gestellt, und Säuglinge können schwerlich gefragt werden, ob sie einverstanden sind. Haben die Eltern das Recht dazu, weil sie Erziehungsberechtigte sind? Was, wenn die Kinder sich später schämen für ihre Internetprominenz?« Clarissa V., Lübeck

Eltern müssen und dürfen in vielen Situationen stellvertretend für ihre Kinder entscheiden; manchmal auch gegen deren erklärten Willen, man denke nur an Arztbesuche, gesunde Ernährung oder Gefahren, die Kindern verlockend erscheinen. Dennoch darf man dabei eines nicht vergessen, was der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik treffend umschreibt, wenn er in diesem Zusammenhang von »advokatorischer Ethik« spricht: Die Eltern treffen diese Entscheidungen nicht in eigenem Interesse, sondern treuhänderisch wie ein Anwalt für ihre Kinder.

Ob man Videos mit ihnen ins Netz stellt, müssen die Eltern demzufolge zwar für ihre Kinder entscheiden. Aber eben nicht danach, was sie selbst für gut oder lustig halten, sondern danach, ob die Kinder mutmaßlich einverstanden wären, könnten sie alle Umstände erfassen. Das kann man nie wissen, wird mancher nun entgegnen. Das stimmt, und an der Stelle wird es interessant: Wie geht man damit um, dass man es nicht wissen kann?

Man könnte sich überlegen, wie man es für sich selbst haben wollte, wäre man an Stelle der Kinder. Das ist praktikabel, vernachlässigt aber, dass es sich bei Kindern um eigenständige Personen handelt, und beinhaltet die Gefahr, ihnen seine eigenen Vorstellungen überzustülpen. Man könnte sich daran orientieren, wie die Kinder wohl am wahrscheinlichsten entscheiden würden. Ein Blick auf diverse Castingshows könnte jedoch zur Auffassung führen, dass Menschen sich gern lächerlich machen, wenn sie damit nur in die Medien kommen. Damit aber ließe sich jede öffentliche Bloßstellung rechtfertigen, und das scheint mir nicht richtig.

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Meiner Meinung nach muss man sich vielmehr an einem Grundsatz orientieren: Immer dann, wenn man Entscheidungen für andere trifft, sollte man im Zweifel so weit als möglich Zurückhaltung üben. Ich würde dabei Parallelen zum Risiko sehen, das man für sich in weit größerem Maße eingehen kann als für andere. Hierher übertragen bedeutet das: Solange man nicht positiv feststellen kann, dass die Abgelichteten es wollen, sollte man nichts veröffentlichen. Zumal lustige Videos von Kindern im Netz vor allem denen dienen, die sie anklicken und sich amüsieren, am wenigsten aber den Kindern selbst. Streng genommen sind diese Videos eigentlich ein Fall fürs Jugendamt.

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Rainer Erlinger empfiehlt zu diesem Thema:

Micha Brumlik, Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Philo Verlag Berlin, 2. Auflage 2004.

Illustration: Marc Herold