Agentin in eigener Sache

Anna Chapman hat zehn Jahre lang ohne Erfolg für den russischen Geheimdienst spioniert, dann wurde sie enttarnt. Ihre Karriere geht trotzdem weiter – in der Politik und der Showbranche.

Vor einigen Monaten flog Anna Chapman als russische Spionin in den Vereinigten Staaten auf. »Es war der Beginn einer großen und schönen Sache«, sagt die Frau mit den feuerroten Haaren heute, die von den Medien so gern als »sinnliche russische Geheimagentin« tituliert wird. Auch dem Mann, der sie damals verriet, ist Anna Chapman kein bisschen böse. Warum auch? Seitdem sie im Juli 2010 bei einem Agentenaustausch in Wien auf freien Fuß kam, erhielt sie lukrative Jobangebote und startete eine vielversprechende Karriere in der Politik. Auf ihrer Webseite schreibt sie: »Am Tag, als ich nach Moskau zurückkehrte, wurde ich ein zweites Mal geboren.«

Wladimir Putin, der übermächtige Ministerpräsident des Landes, versprach Chapman und ihren ehemaligen Genossen bereits kurz nach ihrer Enttarnung »ein interessantes, heiteres Leben« und »geeignete Positionen«. Schließlich habe »jeder Einzelne von ihnen schwere Zeiten hinter sich«, sagte der ehemalige KGB-Offizier Putin und würdigte den Einsatz »im Auftrag des Vaterlandes«. Seither wurden einige von Chapmans früheren Mitstreitern mit komfortablen Posten in staatseigenen Firmen versorgt. Der Aufstieg von Anna Chapman überstrahlt jedoch alles: Einen Monat nach ihrer Abschiebung traf sich Putin mit den gescheiterten Spionen zu einer Art Karaoke-Abend, bei dem sie gemeinsam die inoffizielle russische Geheimdiensthymne aus Sowjettagen Wo das Vaterland beginnt anstimmten.

Danach verlieh Präsident Dmitri Medwedew Chapman einen Staatsorden. Männermagazine lichteten sie in erotischen Posen ab, sie bekam eine eigene Fernsehsendung zur besten Sendezeit. Anna Chapman wurde das Konterfei der Jungen Garde der Regierungspartei »Einiges Russland« und zählt bei den bevorstehenden Wahlen zu den Favoriten auf einen Parlamentssitz. Sie ließ sich ihren Nachnamen als Markenzeichen eintragen, hat eine Poker-App und eine ganze Reihe Chapman-Produkte auf den Markt gebracht: Parfüm, Uhren, Wodka. Dazu beschäftigt die 29-Jährige aus der russischen Provinz einen Castingagenten für »kommerzielle Projekte«, darunter hochdotierte Interviews und Fotoshootings. Nur eine Rolle in einem Pornofilm lehnte sie ab - trotz eines verlockenden Honorarangebots der Produktionsfirma Vivid Entertainment.

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Im Grunde erntet Anna Chapman nun die Früchte ihrer Unfähigkeit. Nicht genug damit, dass sie als Agentin aufflog: Während ihrer aktiven Zeit lieferte sie offensichtlich auch keinerlei nützliche Informationen nach Moskau. Weder Chapman noch die anderen mit ihr enttarnten Spione wurden in Amerika wegen Agententätigkeit angeklagt, es fanden sich nirgends Hinweise, dass sie Zugang zu vertraulichem Material gehabt hatten. So beschränkte sich die amerikanische Staatsanwaltschaft auf den Vorwurf der Geldwäsche und monierte das Versäumnis der festgenommenen Russen, »sich als Auslandsagenten zu erkennen zu geben«. Entsprechend zufrieden zeigte sich US-Vizepräsident Joe Biden mit dem Agententausch: »Wir haben vier richtige Klasseleute zurückbekommen.« Die zehn russischen Spione hätten »zwar lang hier gelebt, aber nicht viel Schaden angerichtet«.

Bisher war Russland eigentlich nicht dafür bekannt, sich mit derartigen Misserfolgen zu brüsten. Ist Chapmans kurioser Ruhm also ein Anzeichen für ein neues Denken? Eher nicht. Vielmehr haben vor allem die staatlichen Presseorgane die Chapman-Saga aufgebauscht. Am Silvesterabend 2010 huldigte der Fernsehsender Perwy kanal (Erster Kanal) Chapmans »Lebenswerk« in einer eigenen Sendung, dabei erklärte der Moderator sie zur »Frau des Jahres«. Zunächst wurde ein wackliges Privatvideo eingespielt, das die spätere Spionin zeigte, wie sie in ihrer Schulzeit Gedichte aufsagte. Dann betrat Chapman in einem eng anliegenden grünen Kleid das Studio, und im Publikum brauste Beifall auf. »Ich muss zugeben, Sie sehen sogar noch besser aus als auf den Fotos«, begrüßte sie der Moderator. Im Verlauf der einstündigen Sendung kamen Chapmans Jugendfreundinnen, ihre Großmutter und ihre erste Liebe zu Wort. Abschließend jubelte Anna Schatilowa, eine Fernsehmoderatorin aus der Sowjetzeit: »Sie verdient unseren Beifall, weil sie unserer Nation in der Fremde gedient hat.« Chapman selbst hielt sich in der Sendung eher bedeckt. Auf ihre Abschiebung aus den USA angesprochen meinte sie: »Ich glaube, dass alles im Leben aus gutem Grund geschieht.« Später riet sie den Zuschauern, auch im neuen Jahr die Fernsehgeräte einzuschalten: »Dann lüfte ich alle Geheimnisse.«

Dieser Satz ist nun ihr Markenzeichen als Moderatorin von Geheimnisse der Welt mit Anna Chapman, einer wöchentlichen »investigativen« TV-Sendung, die seit Januar ausgestrahlt wird. »Die geheimnisvollste Frau Russlands präsentiert die geheimnisvollste aller Sendungen«, heißt es in den Trailern. In der ersten Folge ging Chapman Gerüchten über einen geheimnisvollen Jungen in der russischen Republik Dagestan nach, auf dessen Haut sich angeblich Verse des Korans abzeichneten. Sie verzichtete jedoch auf einen Besuch der umkämpften Region, in der 2010 über die Hälfte der terroristischen Anschläge in Russland verübt wurden. Diesen Job übernahm ein - vermutlich entbehrlicher - Reporter. Chapman wurde während des Beitrags nur mehrmals kurz in einem markanten rot-schwarzen Kostüm eingeblendet. Auch in den folgenden Sendungen stellte Chapman ihre Nachforschungen aus dem Studio an und widmete sich Menschen, die vom Teufel besessen sind, ebenso dem berühmten verschollenen Bernsteinzimmer, das nach den Plünderungen durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen war. Der rothaarigen Exspionin gelang es allerdings nicht, das Zimmer zu finden.

Weil eine erfolgreiche Karriere im Showbusiness sie allein noch nicht ausfüllt, bastelt Chapman auch an einer Zukunft als Politikerin. Ende 2010 schloss sie sich der Führung der Jungen Garde von Einiges Russland an. Diese Bewegung und eine ähnliche Gruppe namens Naschi, auf Deutsch »Die Unseren«, gelten als potenzielle Antwort des Kremls auf das, was Funktionäre als »oranges Szenario« an die Wand malen. Sie beziehen sich auf die von Straßenprotesten initiierte orangefarbene Revolution in der Ukraine im Jahr 2004, die den westlich gesinnten Politiker Viktor Juschtschenko ins Amt spülte. 2005 gab Wassili Jakemenko, der damalige Anführer von Naschi, bekannt, er würde, wenn es je zu einem solchen Szenario in Russland käme, all seine »Kollegen aus der Fanszene von Spartak Moskau« anrufen. Und die würden sofort »5000 ihrer Anhänger zusammentrommeln, um alle fortzujagen, die für westlich orientierte Politiker demonstrieren«.

In Moskau ist man zudem nervös, was einen möglichen Aufstand nach ägyptischem Muster betrifft. Der Kreml-Ideologe Wladislaw Surkow gab der Jungen Garde kürzlich den Auftrag, für die Parlamentswahlen 2011 und die Präsidentschaftswahlen 2012 mobil zu machen. »Bereitet euch auf die Wahlen vor und trainiert euren Verstand und eure Muskeln«, sagte er vor Gruppenmitgliedern bei einer Moskauer Versammlung im Dezember. »Die Wahlsieger müssen Medwedew, Putin und Einiges Russland lauten.« Surkows Brandrede passte zeitlich zu einer Aktion der Jungen Garde, die Bilder einiger »verräterischer« Journalisten auf ihre Webseite gestellt hatte. Über den Bildern war jeweils der Schriftzug »Strafe muss sein« zu lesen. Einer dieser Journalisten, Oleg Kaschin, der ausführlich über die pro-Kreml-orientierten Jugendgruppen von Einiges Russland berichtet hatte, wurde später vor seiner Wohnung von unerkannten Tätern fast zu Tode geprügelt. Die Junge Garde bestreitet jegliche Verstrickung in den Vorfall und nahm Kaschins Bild von der Seite.

»Agentin 90-60-90«

»Agentin 90-60-90«, »Venusfalle von der Wolga« oder »Spionin in Spitzenhöschen«: Anna Chapman wird seit ihrer Rückkehr nach Russland mit den unterschiedlichsten Kosenamen tituliert.
Natürlich fehlte dieser unappetitliche Vorfall in Chapmans Antrittsrede auf einem Kongress der Jungen Garde Ende vergangenen Jahres. Eine Haarsträhne hing ihr übers Auge, als Chapman die 2000 Delegierten lächelnd auforderte, »die Zukunft zu verändern« und dabei »bei uns selbst anzufangen«. »Wenn wir alle von Freude erfüllt wären, könnten wir etwas Neues und Nützliches beginnen«, fuhr sie fort. »Es gäbe sehr viel weniger Negativität in unserer Gesellschaft, wenn wir alle mit einem Lächeln auf den Lippen aufwachen würden.« Chapman verriet nicht, wie die Russen die ärgsten Probleme ihres Landes angehen sollten - sei es die Korruption, den Alkoholismus oder die Brutalität der Polizei. Stattdessen verschwand sie nach ihrer Rede schnell von der Bühne und ging den wartenden Journalisten mit der »Gewandtheit einer früheren Geheimagentin« aus dem Weg, wie ein Blogger es ausdrückte. Die Rede war im russischen Fernsehen wiederholt zu sehen.

Wie ihre politische Botschaft, so ist auch Chapmans Rolle in der Jungen Garde nicht klar umrissen. In einer Woche hilft sie dabei, »die russische Jugend zu erziehen« und »den Patriotismus zu steigern«. In der nächsten Woche tritt sie als Beraterin in »Geschäftsfragen« oder für die »Modernisierung« auf. Der Anführer der Jungen Garde, Timur Prokopenko, nannte seinen jüngsten Neuzugang eine »Heldin ihrer Generation«. Auf Nachfrage erklärt er, was er mit dem Begriff ausdrücken will: »Ihre Biografie und all das, was über sie geschrieben wurde, haben sie sehr beliebt gemacht - zur Heldin unter den Studentinnen und bei den Mädchen allgemein.« Aber teilt er wirklich die Ansichten dieser jungen Frauen und Mädchen? »Als Anführer einer Jugendorganisation«, so die diskrete Antwort, »ist es meine Pflicht, ihre Auffassung zu unterstützen.«

Chapman wird sich möglicherweise nicht sehr lang in der Jugendpolitik betätigen. Die Partei Einiges Russland hat sie als Kandidatin für die Parlamentswahlen im Dezember aufgestellt, und man rechnet mit einem erfolgreichen Abschneiden in ihrer Heimatstadt Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. »Die Partei braucht junge schöne Mädchen«, erklärt Frants Klintsewitsch, ein ranghoher Funktionär von Einiges Russland. »Sie kann uns mehr Anhänger bringen. Sie ist ein kluger, scharfsinniger Mensch.« Der ehemalige Nachrichtensprecher und Politikexperte Samir Shakhbaz sagt: »Sie hat eine Art Vorbildfunktion und viele Fans. Sie hat den Traum etlicher junger Menschen hier gelebt, nämlich eine Art 007 zu sein oder zumindest die russische Version davon.«

In den Reihen von Einiges Russland tummeln sich bereits unzählige Prominente: Fußballspieler wie Andrei Arschawin und Roman Pawljutschenko sowie einheimische Pop- und Rockstars. Einem prominenten Gesicht wird Chapman jedoch nicht auf Parteitagen über den Weg laufen, nämlich der früheren Primaballerina des Bolschoi- Theaters, Anastasia Wolochkowa. Vor einigen Wochen trat sie erbost aus der Partei aus. »Sie waren für keines meiner vorgeschlagenen Projekte zu begeistern«, lautet ihre Erklärung. »Sie haben mich nur zu Werbezwecken für die Partei missbraucht. Und ich habe keine Lust, mich zu prostituieren.« In Chapman - die russische Boulevardzeitungen wegen ihrer Maße »Agentin 90-60-90« nennen - hat Einiges Russland die maßgeschneiderte Nachfolgerin für Wolochkowa gefunden. Und Chapman hat offensichtlich keine Probleme damit, allein wegen ihres Äußeren und ihres Ruhms in die erste Reihe geschoben zu werden.

Doch trotz ihrer Allgegenwärtigkeit ist fraglich, ob Chapman unter ganz normalen Russen wirklich beliebt ist. Wie in diesem Land üblich, finden die wahren Gefühle der Menschen im Internet Ausdruck. Und Russlands Blogger und Message-Board-User scheinen sich in ihrer Verachtung einig zu sein: »Weltbürgerin Anna Chapman ist ohne Frage eine große Heldin unseres mächtigen Landes«, schreibt ein User auf Russlands beliebtester Blog-Plattform Live Journal. »Wer träumt nicht davon, im Ausland das Höschen fallen zu lassen und Staatsgeheimnisse des Feindes zu stehlen?« Ein anderer meint: »Ein wahres Symbol unserer Zeit! Wie sehr wir doch solche Leute brauchen! Die bereit sind, überall mitzumachen, wenn man sie nur dazu auffordert! Und mit jedem zu schlafen, wenn man es ihnen befiehlt!« Andere Kommentare sind eindeutiger, immer wieder tauchen Wortkombinationen von »Putin« und »Hure« auf.

Ehemalige Spione haben in aller Stille von der Bildfläche zu verschwinden, so sehen es viele frühere Angehörige des russischen Geheimdienstes, die Chapman mit ihrem Drang in die Öffentlichkeit gegen sich aufgebracht hat. »Ein Profi führt sich nicht so auf. Es ist eine Schande, wie sie ihre Vergangenheit ausschlachtet«, sagte ein Exspion am Tag ihres Fernsehdebüts. Er wollte anonym bleiben, fügte aber hinzu: »Es ist ja beileibe nicht so, dass sie irgendetwas geleistet hätte, worauf sie stolz sein kann.«

Fotos: rtr, dapd