Müdebinichgehzurruh

Moderne Eltern wollen, dass ihr Baby sich früh an einen geordneten Schlafrhythmus gewöhnt – und lassen sich dabei von Profis helfen. Ist das wirklich eine gute Idee?

Die Frau, die von manchen »die Babyflüsterin« genannt wird oder die »Super-Nanny der Reichen«, möchte wissen, wie denn jetzt die Überschrift über dem Artikel lauten wird, in dem es auch um sie geht. Denn Erika Wüchner, das soll bitte klargestellt werden, ist keine Nanny. Und auch wenn sie das Misstrauen wohlhabender Leute gegenüber den Medien entwickelt hat, ist Erika Wüchner, auch das soll bitte klargestellt werden, nicht nur für reiche Eltern da.

Wüchner, Mitte fünfzig, zierlich und gepflegt, ist das, was man eine maternity nurse nennt, eine Krankenschwester, die Säuglinge und deren Mütter in den ersten Wochen nach der Geburt privat betreut. Maternity nurses sind häufig vor allem für die Nachtpflege zuständig: Sie bringen der Mutter nachts das Kind zum Stillen oder geben ihm das Fläschchen. Zu ihren Aufgaben gehört es aber auch, Ordnung in den Tagesablauf junger Familien zu bringen. Erika Wüchner ist in Deutschland die prominenteste Vertreterin ihrer kleinen Zunft; zu ihren Kundinnen gehören unter anderem die Begum Aga Khan oder die Milliardenerbin Alexandra Flick. Man kann wochenlang bei sämtlichen Nanny-Agenturen Deutschlands nachfragen, von Potsdam bis Frankfurt, von München bis Hamburg, man kann Anonymität versprechen und grundsätzliches Wohlwollen – und man findet trotzdem keine Frau, die über ihre Erfahrungen mit einer privaten Betreuerin reden möchte. Einige bitten um Verständnis, sie würden als Rabenmütter bezeichnet, entweder weil sie schnell nach der Geburt schon wieder arbeiten und deshalb eine maternity nurse beschäftigen, oder aber, weil sie nicht arbeiten gehen und trotzdem die Dienste einer Kinderschwester in Anspruch nehmen. Und dann ist da noch ein anderer Grund.

»Diese Familien sind meist so situiert, dass sie nicht in den Medien erscheinen möchten«, sagt Christiana Seimetz. Sie vermittelt für die Agentur Starfamily im Rhein-Main-Gebiet Familienpersonal an gehobene Haushalte. Erika Wüchner allerdings ist so exklusiv, dass man sie nicht über eine Agentur buchen kann – ihre Auftraggeberinnen erreichen sie per Empfehlung. Das mache es einfacher für alle, sagt sie.

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Die Welt der maternity nurses und ihrer Familien ist eine geschlossene Gesellschaft. Für den Rest hat Erika Wüchner 2010 einen Ratgeber mit dem Titel Die ersten 100 Tage mit dem Baby veröffentlicht, ein Bestseller unter den Müttern der Generation Bugaboo. Das Grußwort darin ist von einer ehemaligen Kundin. Die Talkshowmoderatorin Sandra Maischberger schreibt, sie wünsche »allen jungen Eltern eine Erika Wüchner im Haus«.

Als Anne zum ersten Mal etwas über maternity nurses hörte, war ihr Sohn Milan drei Monate alt und sie am Rande der völligen Erschöpfung. Heute ist Milan ein fröhliches, entspanntes Kind, doch der Weg dahin war voller Nächte, in denen das Baby durchschrie, und voller Tage, an denen er sich keine Minute hinlegen ließ. Anne ist 29, Freiberuflerin und lebt mit ihrem Mann in Berlin-Schöneberg. Eltern von Babys wird seit ein paar Jahren wieder von allen Seiten geraten, so früh wie möglich eine Tagesroutine mit festen Mahlzeiten und Mittagsschlaf zu etablieren, weil Babys ohne feste Abläufe angeblich nicht lernen können, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Für Mütter, die hauptsächlich allein sind und stillen, ist das schwer zu schaffen. Anne hat keine Familie in Berlin, sie kämpfte hart um die Regelmäßigkeit des Tagesablaufs, in der Hoffnung, dass die Nächte besser werden sollten. Und sie hat es ja auch geschafft am Ende, mit dem geregelten Tagesablauf und dem Durchschlafen. »Selbst wenn ich einen Westflügel hätte, in dem ich sie unterbringen könnte, würde ich mir keine Erika Wüchner ins Haus holen.«

Diese Erika Wüchner sitzt an einem verregneten Sommernachmittag in München in einem Café und hat unbestreitbar Schatten unter den Augen. Seit fast drei Monaten kümmert sie sich um ein Zwillingspaar. Sie hat ihren eigenen Bereich im Haus der Familie in München-Bogenhausen, doch sie schläft bei den Babys und versorgt sie nachts. Sie will nicht zu viel über ihren Arbeitsalltag verraten, außer dass sie bei den Mahlzeiten oft auch am Tisch sitzt und den Familien grundsätzlich sehr nah ist, schließlich komme sie auch ins Schlafzimmer der Eltern. Das Wichtigste an ihrer Arbeit ist für sie das, was sie »die Struktur« nennt. Mit ihr bekommen Kind und Mutter – oder die Kinderfrau und Kind – einen möglichst gleichförmigen Ablauf: Tagsüber wird immer um dieselbe Zeit gegessen, geschlafen und spazieren gegangen. Abends gibt es immer dasselbe Einschlafritual. Nachts erhält der Säugling von Wüchner ein Durchschlaftraining, das eigentlich darin besteht, ihm die Mahlzeiten Woche für Woche ein wenig länger vorzuenthalten. Wenn Erika Wüchner eine Familie nach zwölf Wochen verlässt, schläft das Baby problemlos durch – solange sich alle an den Plan und das Ritual halten.

Es ist sehr viel Arbeit, das Leben eines kleinen Babys zu strukturieren und sich dann jeden Tag daran zu halten. Man muss sich schon ein hohes dreistelliges Wochenhonorar leisten können, damit andere diese Arbeit für einen machen. Die einzige ehemalige Kundin Erika Wüchners, die dazu etwas erzählen möchte, ist Etta Martius-Schmidt, bei der diese Zeit mittlerweile 15 Jahre her ist. Zweimal kam Erika Wüchner zu ihr, nach der Geburt des ersten Kindes und zwei Jahre später beim zweiten. Martius-Schmidt erzählt, wie viel Angst sie damals hatte: »Ich dachte, ich mache alles falsch. Erika Wüchner hat mir diese Angst genommen.« Das Buch Die ersten 100 Tage mit dem Baby handelt viele Seiten von den verschiedenen Gefahren, die etwa von Geburtshäusern, Kinderwagentaschen oder unstrukturierten Tagesabläufen ausgehen. Angst ist erstaunlich oft ein Thema, wenn es um Erika Wüchner geht.

Bis in die Achtzigerjahre galt es in der Erziehung als normal, schon Frischgeborenen nur alle vier Stunden die Brust oder die Flasche anzubieten. Mehr sei nicht nötig, glaubte man, und das Kind entwickle dadurch schneller Gewohnheiten. »Das ist eine uralte Erziehungshaltung«, sagt der Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo, der das einflussreiche Standardwerk Babyjahre geschrieben hat. »Da geht es letztlich darum, das Baby möglichst rasch an den Lebensstil der Eltern anzupassen.« Heute wird empfohlen, nach Bedarf zu stillen, denn wenn ein Baby nach Nahrung verlangt, da ist sich die Medizin inzwischen sicher, dann hat es eben Hunger, mal nach zwei, mal nach vier Stunden. Die meisten Kinder finden ihren eigenen Rhythmus nach drei bis vier Monaten.

Diese Anschauung führt allerdings dazu, dass die meisten Mütter in den ersten Wochen nach der Geburt sehr viel mit dem Stillen oder dem Zubereiten von Fläschchen beschäftigt sind und oft nicht genau wissen, wann das Baby wieder Hunger haben wird. Es ist ein unsicherer Alltag, der einem erst mal auch unheimlich vorkommen kann. Doch die Frauen, die Erika Wüchner betreut, können nicht drei Monate warten, bis sie verstanden haben, was Sache ist: Fast alle sind in ihren Berufen sehr erfolgreich, und »berufstätige Frauen brauchen einen vorhersehbaren, planbaren Alltag«. Sie brauchen also auch einen vorhersehbaren, planbaren Säugling. Sie sind es außerdem gewohnt, alles, was sie tun, sehr gut zu machen: »Dieselben hohen Ansprüche, die Frauen in der Arbeitswelt an sich stellen, haben sie auch, wenn sie ihr Baby betreuen«, erklärt Erika Wüchner.

»Disziplin ist für erfolgreiche Erwachsene sehr wichtig«

»Wir stellen fest, dass es eine neue Generation von Müttern gibt«, sagt Christiane Mahler-Scharf. Ihre Agentur Nanny 4 your Kid vermittelt seit 2007 Familienpersonal, Nannys vor allem, aber immer häufiger auch maternity nurses. Viele dieser Mütter wollen oder können keine ausgedehnte Erziehungszeit nehmen, weil sie selbstständig sind oder große Verantwortung in Unternehmen tragen. Das ist ein Grund, warum man jetzt öfter davon hört, dass Kinder mit der Hilfe eines Profis schon in den ersten Monaten die Sache mit dem Ein- und Durchschlafen lernen. Der andere: Die Männer dieser Frauen sind mindestens genauso eingespannt in ihre Berufe, sie können oder wollen die Betreuung ihrer Babys offenbar kaum übernehmen. Während sich also immer mehr Frauen einerseits beruflich und finanziell absolut gleichberechtigt nennen dürfen, klafft im Privatleben eine Lücke. Die Frauen gehen hinaus in die Berufswelt, aber die Männer kommen deswegen nicht nach Hause. Zu Hause ist wie so oft eine Frau – aber diesmal eine, die als Familienarbeiterin bezahlt wird.

Bei dem dauernden Reden über Schlaf geht es aber nicht nur um den chronischen Mangel von jungen Eltern, sondern auch darum, wie gut man sein Kind und dessen Gewohnheiten bereits im Griff hat. »Wenn Eltern heute stolz sagen, dass das Kind durchschläft und alle vier Stunden isst, dann ist das auch eine Metapher für Disziplin«, sagt die Historikerin Miriam Gebhardt, »und Disziplin ist für erfolgreiche Erwachsene wieder sehr wichtig.« Deswegen legen viele Eltern heute wieder Wert darauf, dass ihre Kinder schon früh zu festen Zeiten ins Bett gehen, mit einem festen Ritual – Zähneputzen, Schlafanzug, Gute-Nacht-Lied –, das jeden Abend eingehalten werden muss, damit das Kind ja nicht aus dem Rhythmus gebracht wird. Raum für Spontaneität bleibt für die Erwachsenen da wenig; für viele junge Eltern ist der Gedanke inzwischen unvorstellbar, die Kinder mit auf eine Party zu nehmen und dort schlafen zu legen, oder einfach mal länger spielen zu lassen, während sie ein Glas Wein trinken.

Miriam Gebhardt hat für ihr Buch Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen die Geschichte der frühkindlichen Erziehung untersucht, und sie stellt fest, dass wir heute stärker als je zuvor an der Vorstellung einer optimalen Säuglingserziehung hängen. Für sie ist das Erziehungsideal der Siebzigerjahre, in denen sich Kinder ganz selbstständig und frei entwickeln sollten, nur eine unmerkliche Zäsur in einer langen Tradition der Kleinkind-Kontrolle. Und da kommt die soziale Abgrenzung ins Spiel. »Erziehung war dafür immer schon ein Mittel.« Die bürgerlichen Eltern im frühen 20. Jahrhundert setzten sich von der Fremdbetreuungspraxis des Adels ab, indem sie sich selbst ausgiebig um ihre Kinder kümmerten, und sie distanzierten sich vom unzivilisierten Proletariat, indem sie sich streng an die Wachstums-, Ernährungs- und Schlaftabellen ihrer Zeit hielten. »Das Thema Erziehung kommt heute wieder ständig auf, wenn es eigentlich um soziale Probleme geht«, sagt Gebhardt, »da werden wieder moderne Schauermärchen populär wie die verwahrlosten Kinder der Super-Nanny.« Kinder, die keine Regeln, keine Grenzen, keine festen Mahlzeiten und letztlich auch keine Erfolge kennen. Kinder, zu denen der Staat seit Neustem die sogenannten Familienhebammen schickt, Frauen, die durch regelmäßige Besuche schon ab der Geburt dafür sorgen sollen, dass die Erziehung in den Unterschichten nicht zu stark aus der Bahn gerät.

Die einen holen sich eine Erika Wüchner ins Haus, um für Ordnung beim Baby zu sorgen, bei den anderen erledigt das der Staat. Man grenzt sich wieder gern ab, und bei der Erziehung zu Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit lässt sich das besonders gut zeigen.

Und die Menschen dazwischen? Christiane Mahler-Scharf sagt, bei ihrer Agentur steige die Nachfrage, und auch Starfamily bestätigt die Tendenz, dass die maternity nurse kein reines Oberschichtenphänomen mehr ist. Obwohl die Nachfrage kaum gedeckt ist, eröffnet Mahler-Scharf 2012 ihre Nanny-Akademie am Starnberger See. Erika Wüchner wird dort Fortbildungsseminare geben.

Das berühmte afrikanische Sprichwort sagt, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Christiane Mahler-Scharf sagt: »Das Mütterbild wandelt sich. Es wird normal, dass Frauen sich professionelle Unterstützung für die Pflege ihrer Kinder suchen.« Wo kein Dorf ist, braucht man eben ein Unternehmen, um ein Kind zu erziehen.

Mütter, die sich das nicht leisten können, investieren Zeit und Mühe in ihre Strukturen. So wie Anne. Sie schwärmt davon, wie gut Milan heute durchschläft, sie hat den Kampf hinter sich. Anderen Müttern glaubt sie mittlerweile kein Wort mehr, wenn sie von den tollen Schlafgewohnheiten ihrer Kinder schwärmen: »Bei dem Thema wird viel gelogen.« Doch wie das bei Veteranen harter Kämpfe üblich ist, hat auch Anne einen Triumph, auf den sie stolz ist: »Das Einschlafritual haben wir schon nach sechs Wochen eingeführt.« Zu dieser Zeit schaukeln und tragen andere Eltern ihre Kinder noch in den Tiefschlaf, doch Anne legte Milan wach ins Bett, genau wie man es in jedem Ratgeber nachlesen kann. Sie oder ihr Mann singen dem Kleinen seitdem jeden Abend um dieselbe Uhrzeit dasselbe Lied vor, dann schläft er ein. »Wenn es Abweichungen von der Routine gibt, dann geht das Gezeter sofort los, das haben wir gemerkt.« Die Eltern sind natürlich die Einzigen, die Milan ins Bett bringen können. Ihr Kind abends mit ins Restaurant oder zu Freunden zu nehmen, ist keine Option – denn wer weiß, ob er dann noch einschläft?

Foto: Jens Lumm / photocase.com