Wie trage ich ein Erbstück?

Mit Stolz, mit Liebe, aber vor allem: mit Fantasie.

Die Familie meiner Mutter kommt aus Trondheim, und die Leute dort sind für ihren starken Willen bekannt. »Einen Tronder kannst du nur mit einer Kugel töten«, sagt ein norwegisches Sprichwort. Ein gutes Beispiel für diese Dickköpfigkeit war meine Urgroßmutter. Ich kenne sie nur aus Erzählungen. Aber irgendwie habe ich sie immer bei mir. Und zwar an der Taschenuhr meines Urgroßvaters, die mir meine Mutter zum Einzug in meine erste eigene Wohnung geschenkt hat. Die Uhr hängt an einem Band, das meine Urgroßmutter geflochten hat – aus ihrem eigenen Haar.

Anne Emilie Klemetsmo, so hieß meine Urgroßmutter, kam aus einer gutbürgerlichen Trondheimer Familie. Sie liebte es, schöne Kleider zu tragen und sich mit Straußenfedern zu schmücken. Als sie zwanzig Jahre alt war, hatte sie schon viele Verehrer. Ihre Eltern wollten sie schnell verloben. Einen passenden Mann hatten sie schon ausgesucht – ihre Tochter sollte standesgemäß heiraten.

Meine Urgroßmutter wollte aber einen Mann, den sie liebte, und keinen, der zufällig in eine reiche Familie geboren worden war. Anfang des 20. Jahrhunderts fanden das viele empörend. Und so verließ meine Urgroßmutter Trondheim, ging nach Oslo und schlug sich als Krankenschwester durch. In Oslo lernte sie Niels Nielssen kennen, meinen Urgroßvater, einen hochgewachsenen, schweigsamen Mann, kaum älter als sie.

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Als die beiden sich verlobten, schnitt meine Urgroßmutter Strähnen aus ihrem langen Haar und flocht ein Band für seine Taschenuhr. Das war damals Brauch in Norwegen. So ein Geschenk machte man nur jemandem, den man sehr liebte und mit dem man für immer zusammenbleiben wollte.

Heute gibt es nur noch wenige dieser Uhrenbänder. Echthaar wird mit der Zeit trocken und spröde, die geflochtenen Bänder gehen leicht kaputt. Deshalb trage ich die Taschenuhr meines Urgroßvaters nur ganz selten, ich habe sie meistens in meiner Küche aufgehängt. Wenn mich Freunde besuchen kommen und die Uhr sehen, erzähle ich ihnen die Geschichte von einem Band, das noch heute an eine große Liebe erinnert.

Protokoll: Anita Hirschbeck

Foto: Stephanie Fuessenich