High Heels für die Nase

Eine Brille ist heute mehr als nur eine Sehhilfe, viel mehr. Die Berliner Expertin Uta Geyer über das entscheidende Modeaccessoire der Gegenwart.

Uta Geyer eröffnete 2006 in Berlin das Brillengeschäft »Lunettes Brillenagentur«, das heute als erste Adresse für Vintagebrillen in Deutschland gilt. Neben Raritäten aus alten Lagerbeständen bietet die studierte Kulturwissenschaftlerin dort auch Brillen ihres eigenen Labels »Lunettes« an, die sie von einer kleinen italienischen Manufaktur herstellen lässt.

SZ-Magazin: Frau Geyer, können Sie uns den modischen Siegeszug der Brille erklären? Früher galt sie als Prothese, heute tragen selbst Leute eine Brille, die keine Sehschwäche haben.

Uta Geyer: Die Brille ist ein Gestaltungselement. Und zwar ein sehr mächtiges, da sie, anders als Kleidung, im Gesicht Verwendung findet, vor den Augen, also da, wo man immer hinschaut. Sie kann einem Menschen ein ganz neues Erscheinungsbild verpassen oder die Persönlichkeit unterstreichen.

Sie kann ein Gesicht aber auch beherrschen, verändern – nicht immer zum Guten.

Das stimmt: Eine Brille kann ganz viel mit einem machen, sie kann auch maskieren. Mittlerweile ist sie so tief verwurzelt in unserer Kultur, dass man verschiedene Brillentypen unterscheiden kann. Die verkniffene Rechtsanwaltsbrille beispielsweise, die massive und skulpturale Architektenbrille, die brave Sekretärinnenbrille, seit ein paar Jahren die markante Nerdbrille.

Was wir heute Nerdbrille nennen, war vor etwa dreißig Jahren die klassische Politikerbrille, eine Art gesichtsfüllender Panzer, Beispiel: der frühere FDP-Minister Wolfgang Mischnick. Jetzt tragen Leute wie Pofalla, Wulff und Rüttgers am liebsten randlos. Was sagt uns das über unsere Zeit?
Die randlose Brille ist auch ein Statement: Ich scheue mich, ein Statement zu setzen, und trage daher eine feige Brille. Da steckt ein Stück Unentschlossenheit und Halbherzigkeit drin. Vor allem Kalkül. Dann doch lieber gleich Kontaktlinsen, finde ich. Beckmann und Jauch scheinen das gespürt zu haben und haben vor Kurzem auf markantere Modelle umgesattelt – so eine weichgespülte Version der Nerdbrille.

Nicht durchgesetzt hat sich Helmut Kohls Kassengestell.
Obwohl er damit eine Ära prägte. Helmut Kohl trug früher diese typische Sechzigerjahre-Brille aus Horn und paffte dazu Pfeife. Erst Ende der Siebzigerjahre schwenkte er auf diese kastige Metallbrille um. Es gibt das Gerücht, dass er diese Brille auch noch trug, als er aufgrund seiner Altersweitsichtigkeit, die seine Kurzsichtigkeit ausgeglichen hatte, gar keine Brille mehr benötigte. Einfach weil diese Kassenbrille Volksnähe signalisierte: Seht her, ich bin einer von euch. Er war damit das Gegenteil von Brioni-Schröder.

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Kann jeder Brille tragen?
Es kommt auf die Situation und die Persönlichkeit an. Wenn eine Frau zum Beispiel sehr traditionell heiraten will, mit schulterfreiem Kleid und Schleier, wird es schwierig, eine Brille zu finden, die dazu passt.

Kate Middleton hätte also nicht mit einer Brille vor den Altar treten können, selbst wenn sie Brillenträgerin wäre?
Es hätte jedenfalls seltsam ausgesehen, oder?Wenn überhaupt, passt dazu eine Cateye-Brille aus den Fünfzigerjahren in Weiß. Generell empfinden viele Frauen die Kombination Brille und Abendmode als problematisch.

Männer nicht?

Im Gegenteil. Männer können Smoking und Brille tragen. Das gibt ihnen eine gewisse repräsentative Aura. Ganz so weit sind die Frauen noch nicht.

Warum hinken sie gerade in diesem Punkt hinterher?
Frauen haben die Brille später entdeckt, erst so ab den Dreißigerjahren. Zum Beispiel die Flapper – Frauen, die rauchten, Bopfrisuren trugen, und wenn sie ihren Intellekt unterstreichen wollten, auch Brille. Aber noch bis in die Fünfziger hinein war die Brille bei Frauen verpönt.

Aber war das nicht genau die Zeit, als die Cateye-Brillen großer Trend wurden?
Schon, aber noch in Wie angelt man sich einen Millionär? stolpert Marilyn Monroe halb blind zu ihren Dates, weil sie vorher immer ihre Brille abgesetzt hat. Diese klassische Rollenverteilung, dass die Frau für den Mann schön zu sein hat, hält sich bis heute. Man muss als Frau schon selbstbewusst sein, um Brille zu tragen.

»Ich trage Brille, finde mich aber trotzdem sexy«


Und doch gibt es jetzt diesen Trend »Nerdbrille« auch bei Frauen.

Ein Trend, der übrigens gerade wieder abebbt. Die Nerdbrille war ja der Versuch, sich mit einer zu klobigen Brille vermeintlich hässlicher zu machen, um sich über dieses Schönheitsideal zu stellen: Ich trage Brille, finde mich aber trotzdem sexy.

Ist die Brille vielleicht auch erotisch aufgeladen, so wie der High Heel?

Sie ist nicht unbedingt ein Sexfetisch, aber sie kann sexy wirken. Frauen kokettieren gern mit ihrer Brille. Man kann sie nach unten rutschen, darüber hinweg flirten. Man kann mit ihr die Augen inszenieren. Und wie der High Heel kann auch die Brille einer Frau Selbstbewusstsein verleihen.

Eben sagten Sie noch, man braucht als Frau Mut, überhaupt eine zu tragen.

Zu mir in den Laden kommen Frauen, die gar nicht so schlecht sehen, aber gern eine Brille haben wollen, weil ihnen das Autorität verleiht.

Welche Frauen sind das?
Lehrerinnen, Managerinnen. Übrigens auch junge Männer in hohen Positionen, die Präsentationen halten müssen. Sie sagen, sie fühlen sich dann stärker, autoritärer, seriöser.


Aber erkennt man solche Spaßbrillen mit Fensterglas nicht?

Nein, da man Brillengläser so schleifen und entspiegeln kann, dass sie wie echte Brillengläser aussehen. Solche Brillen werden oft in Filmen benutzt oder bei Fotoproduktionen.

Wann hat das angefangen, dass die Brille vom notwendigen Übel zum Style-Accessoire wurde?
Richtig durchgesetzt hat sie sich erst in den letzten Jahrzehnten. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Brillen ja noch fast ausnahmslos aus Metall und ein reines Männerding.

Heute dagegen ist die »Durchbrillung« der Gesellschaft fast abgeschlossen, wie es in einem Fachartikel kürzlich hieß.
Dazu trug das deutsche Kassensystem bei, das es jedem ermöglichte, eine Brille zu bekommen, wenn er eine brauchte. Das gab es in den USA in der Form nie. Die Siebziger- und Achtzigerjahre waren die Blütezeit der deutschen Optiker, die hatten quasi das Brillenmonopol und haben verdient wie verrückt.

Deutschland war ein Brillenparadies.

Es gab Zeiten, da konnte man sich alle zwei Jahre eine neue aussuchen, ohne was dafür zu bezahlen.

Eine neue Brille ist oft ein Mittel, in eine neue Rolle zu schlüpfen, das Image zu ändern. Zuletzt: Westerwelle, der von randlos zu Nerdbrille wechselte.

Man hat ihm ja immer vorgeworfen, nicht Fisch, nicht Fleisch zu sein, keine Konturen zu haben. Seine neue Brille signalisiert Ernsthaftigkeit, Substanz. Steht ihm eigentlich ganz gut, nur das Manöver an sich ist irgendwie tragisch. Ich hätte ihm aber eine hellere Farbe empfohlen.

Warum?

Für Brillen mit schwarzem Rahmen braucht man markante Wimpern, und die hat er nicht. Und als Politiker die Wimpern tuschen – schwierig. Eine neue Brille kann aber auch eine echte Häutung sein. Ein Signal für einen Einschnitt in der Biografie. Wie eine neue Frisur. Man hat sich getrennt. Man kommt nicht mehr gut an.

So wie Guttenberg, der nach seinem Skandal in die USA ausgewandert ist und alles hinter sich gelassen hat, inklusive seiner Nickelbrille.

Ich denke, er wollte seine alte Marke, nämlich konservativer Jurist aus Bayreuth, ablegen, möglicherweise auch nicht mehr so leicht wiedererkannt werden. Jünger wirken. Dabei gibt es durchaus banalere Gründe für eine neue Brille: Die alte ist einfach durch, man hat sich sattgesehen.

Wie erkennt man diesen Moment?

Man steht vorm Spiegel und erkennt sich nicht mehr. Man fühlt sich verkleidet, fremd oder einfach nur langweilig. Dieser Zeitpunkt setzt bei modisch ambitionierten Menschen natürlich früher ein.

Und jetzt ist dieser Zeitpunkt für die Nerdbrille gekommen.

Ich denke, sie wird immer eine Option bleiben, aber im Moment schlägt es gerade um. Zumindest bei den Leuten, die modisch vorn dabei sein wollen. Was gerade ganz stark kommt, ist die Metallfassung, und zwar in der klassischen Pantoform, die medizinisch von der Augenhöhle abgeleitet ist. Eher groß und rund, aber leicht tropfenförmig. Der späte John Lennon trug so eine Brille. Oder Keith Haring. Es gibt sie in Hunderten Variationen.

Das Problem ist aber, dass nicht jede Brille zu jeder Kopfform passt.

Richtig, aber ich halte noch weniger von diesen Regeln: runde Brille für dreieckige Gesichter und so weiter. Haben Sie schon jemals ein dreieckiges Gesicht gesehen? Oder ein viereckiges?

»Wie eine Schnecke ohne Haus«

Gabriela Sabatini oder David Coulthard.
Gut, es gibt natürlich bestimmte Gesichtstypen. Ich meine aber trotzdem nicht, dass ein eher rundes Gesicht keine eckigen Brillen tragen dürfte oder umgekehrt. Es ist wirklich eine individuelle Sache.

Gilt das auch für Kinder? Als Kind mit Brille wird man ja gern mal gemobbt.

Kinder sollten Brillen tragen, die ihnen selbst Spaß machen, die sie gern haben und mit denen sie nicht zu erwachsen aussehen. Zumindest so lange, bis sie aus der Playmobilphase raus sind. Irgendwann kippt das ja, und man will erwachsen wirken. Ganz wichtig ist bei Kindern die Form.

Warum?

Kinder sind klein und sehen sich die Welt von unten an. Kinderbrillen müssen diesen anatomischen Besonderheiten Rechnung tragen, sprich: Sie dürfen nicht unterhalb der Augenbrauen aufhören, sondern sollten generell höher, am besten rund sein.

So wie Steve Jobs’ Brille?

Im Grunde noch größer, eher so wie bei Harry Potter. Abgesehen davon finde ich, dass Steve Jobs wirklich die bestmögliche Brille für sein Gesicht gefunden hatte. Das ist im weitesten Sinne eine sehr feine Nickelbrille, nur größer mit einem W-Steg, das heißt, sie liegt direkt auf der Nase. Diese runde Form wirkte bei ihm irgendwie humorvoll, offen, und auch die dezente Fassung passte perfekt zu seinen rasierten Haaren. Es gibt ja nichts Schlimmeres als dicke, schwere Brille und Glatze.

Doch, Brillen, die Glupsch- oder Mäuseaugen machen.
Leuten mit großem Sehfehler rate ich tatsächlich eher zu Kontaktlinsen. Und ich halte es für eine bodenlose Ungerechtigkeit, dass die Kassen für solche Fälle, wo man ruhig schon von Behinderung sprechen kann, nicht komplett aufkommen. Eine Frau mit einer Brille der Stärke minus 8 Dioptrien wird nie einen Job in einer Führungsposition bekommen. Wo ist da die Chancengleichheit?

Woher kommt die derzeitige Begeisterung für Vintagebrillen?

Vielleicht weil viele übersättigt sind von den standardisierten Designerbrillen in den Läden, die ja Lizenzprodukte sind und von den zwei großen Herstellern weltweit im Spritzgussverfahren produziert werden. Und für diese Massenware werden Preise verlangt, die überhaupt nicht mehr im Verhältnis zu Qualität oder Exklusivität stehen. Auch was das Design betrifft, herrscht eine gewisse Eintönigkeit, weil bestimmte Modelle immer wieder kommen.

Die Fülle an Brillenformen ist nun mal endlich.

Bleiben immer noch das Material und die Verarbeitung: Früher wurden Brillen meist von Hand gefertigt, von den Modellen gab es immer verschiedene Größen, solche Brillen fassen sich ganz anders an, sind viel stabiler montiert.

Wie viele Brillen sollte man als Brillenträger besitzen?

Das bleibt jedem selbst überlassen. Aber man läuft ja auch nicht immer nur in einem Paar Schuhen herum oder in der gleichen Hose. Warum dann immer die gleiche Brille? Das ist ein typisch deutsches Phänomen, dass die Leute so an ihrer Brille hängen. In Frankreich und Italien tragen die Frauen gern mal zwei verschiedene Brillen am gleichen Tag.

Man hat ja auch nicht nur eine Sonnenbrille.

Eben. Die Sonnenbrille ist ohnehin ein Impulskaufobjekt. Man hat vielleicht schon fünf, aber dann doch auch wieder Bock auf eine Nummer sechs. Sie ist die Brille der Leute, die keine Sehschwäche haben, aber gern Brille tragen.

So wie Karl Lagerfeld?
Ich glaube, Lagerfeld trägt seine Sonnenbrille, weil er denkt, er habe zu kleine Mäuseaugen. Und er nimmt sie nie ab, weil er sich dann so nackt und verloren fühlt.

Stimmt, Brillenträger, die ihre Brille abnehmen, wirken immer so, als müsse man sie am Arm über die Straße führen.

Oder wie eine Schnecke ohne Haus.

Foto: David Fischer