SZ-Magazin: Herr Aman, was war die schönste Beschimpfung, die Sie in letzter Zeit gehört haben?
Es gibt im Jiddischen einen Fluch, den ich sehr gern mag: »Drei Schiffsladungen voll Gold sollst du erben, aber es soll dir nicht reichen, um deine Arztrechnungen zu begleichen!«
Wie ging das alles los, seit wann flucht der Mensch?
Flüche und Beschimpfungen gibt es, seitdem es Menschen gibt. Wir haben natürlich keine schriftlichen Belege, wie die Neandertaler vor 100 000 Jahren schimpften. Das erste mir bekannte Schimpfwort ist »Hund«, das in einem Gedicht in der altindischen Rigveda vorkommt, die vor rund 3000 Jahren entstanden ist. Ungefähr ebenso alt sind ägyptische Flüche, da wurde zum Beispiel gedroht: »Ein Esel soll dich vögeln!« Diese Beschimpfung wird noch heute in arabischsprachigen Ländern benutzt. Und man könnte auch sagen: Der erste und älteste Flucher ist Gott – in der Bibel verflucht er die Schlange und Kain. Die Bibel ist ja sowieso voll mit Schimpfwörtern, von »Giftschlangenbrut« bis »Otterngezücht«.
Warum flucht der Mensch überhaupt?
Weil er sich ärgert und der Ärger irgendwie rausmuss. In der Psychologie spricht man von einer Kausalkette aus drei Elementen: Frustration, Affekt, Aggression. Anders gesagt: Es passiert etwas, Sie regen sich auf, und das muss raus. Falls es einen Schuldigen gibt, richtet sich das natürlich gegen den.
Wie entstehen Flüche? Spontan? Oder durch Nachdenken?
Fast immer spontan, denn sie sind ja ein blitzartiges Abreagieren. Der Rechner stürzt ab, und schon schimpft man automatisch: »Scheißcomputer, verfluchter!« Natürlich gibt es auch Flüche und Beschimpfungen, die man sich sorgfältig ausdenkt und dann einem anderen brieflich oder elektronisch schickt. Viele Schriftsteller und Künstler sind ja dafür bekannt, dass sie ihre ungeliebten Kollegen schriftlich zur Sau machen.
Welches Volk flucht am fantasievollsten?
Von den vielen Völkern und Gruppen, die ich in den letzten 45 Jahren untersucht habe, sind die osteuropäischen Juden Weltmeister im Fluchen. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens wurden sie jahrtausendelang verfolgt und hatten im Gegensatz zu den heutigen Israelis keine Waffen, um sich zu verteidigen, deshalb haben sie Wörter als Waffe benutzt. Zweitens kann Jiddisch seine verbale Munition aus drei Sprachgruppen schöpfen: aus dem Deutschen, den slawischen Sprachen und dem Hebräisch-Aramäischen. Dazu kommt viel Intelligenz und Scharfsinn.
Ein Beispiel, bitte.
Die meisten Flüche der Juden handeln von drei Themen: Gesundheit, Geld und Religion. Aber sie sind immer unterhaltsam: »Berühmt sollst du werden – man soll eine Krankheit nach dir nennen!« oder »Mögen alle deine Gläubiger stets deine Adresse haben!«
Wer flucht noch unterhaltsam?
In Zentralafrika gibt es die schöne Beschimpfung: »Dein Gesicht ist so runzlig wie ein Elefantenarsch!«
Klingt doch eher lustig.
Sagen Sie das mal zu einer Frau, die etwas älter ist. Sie werden ja sehen, ob die das lustig findet.
Noch ein Beispiel, bitte.
Die Perser sagen »Ich furze in den Bart deines Vaters!« Der Vater hat ja in vielen Kulturen das höchste Ansehen, und ihm in den Bart zu furzen, ist eines der ehrenrührigsten Dinge, die man machen kann.
»Du Sohn einer Schildkröte!«
Reinhold Aman, 75, gebürtiger Bayer, lebt seit 52 Jahren in den USA, wo er als Hochschuldozent und Sprachlehrer arbeitete. Zum Thema Schimpfwörter forscht er seit den Sechzigerjahren, er hat eine ganze Reihe von Büchern darüber veröffentlicht, u. a. das »Bayerisch-Österreichische Schimpfwörterbuch«. Außerdem hat er viele Jahre lang die Schriftenreihe »Maledicta« herausgegeben, die sich ausschließlich mit dem Fluchen und Schimpfen befasst.
Für uns klingt das eher surreal.
Klar, weil wir keine Tradition der Familienbeschimpfung haben. Wir versuchen eher, uns bildlich vorzustellen, wie das konkret gehen soll – etwa mit einer Leiter?
In China gibt es die Beschimpfung »Du Sohn einer Schildkröte!«. Was ist an der Schildkröte so schlimm?
Dazu muss man über Tiere Bescheid wissen. Die weibliche Schildkröte kopuliert mit jedem Männchen. Die Beschimpfung soll also bedeuten, dass die Mutter des Beschimpften mit jedem Sex hat. Die Familienehre ist in China sehr wichtig.
Und wo sind die Flüche besonders lahm?
Meiner Erfahrung nach in den Sprachen der nordamerikanischen Indianer und der Südseekulturen.
Manche Themen gehen immer: Bösartigkeiten gegen die Mutter, Ausfälle gegen die Religion. Was noch?
Weltweit gibt es drei Gruppen: Erstens die Familienbeschimpfer, besonders in Asien und Afrika. Zweitens die Gotteslästerer: Katholiken von Bayern bis Brasilien. Und drittens die Prüden: vor allem in den angelsächsischen Ländern. Bei den Familienbeschimpfern wird hauptsächlich die Mutter des Gegners beleidigt, dann seine Schwester, dann der Vater und verstorbene Familienmitglieder. Im Deutschen sind Mutter-Beleidigungen unbekannt, es gibt sie höchstens vielleicht indirekt, »Hurensohn«. Dagegen sind sie im Russischen, Italienischen und Spanischen gang und gäbe.
Warum gehen so viele Flüche Richtung Unterleib?
Weil sie ein Tabu verletzen. Deshalb sind Beschimpfungen, in denen es um den Unterleib oder Ausscheidungen geht, in den prüden Kulturen am häufigsten.
In welchen Ländern wird völlig anders geflucht als bei uns?
In manchen Indianersprachen reicht es schon, den Namen eines verstorbenen Familienmitglieds auszusprechen, um das höchste Tabu der Gruppe zu verletzen. Und in der Südsee gibt es eine Sprache, in der darf man nicht einmal den Namen der Ehefrau eines anderen sagen, ohne ihn schwer zu beleidigen. Aber wie gesagt, besonders kräftige Flüche sind das nach unserem Verständnis nicht.
Gibt es in anderen Ländern Beschimpfungen, die wir gar nicht als solche erkennen würden?
Viele! Wer einen Hindi sprechenden Inder »sala« nennt – das heißt Schwager –, sagt damit: »Ich hatte Sex mit deiner Schwester«, soll heißen, sie ist eine Schlampe. Oder noch ein Beispiel aus dem jüdischen Humor: In Tel Aviv sagt man zu jemandem: »Geh rein in der Mazehstraße, und komm raus in der Balfourstraße!« Das bedeutet: Krank sollst du werden und verrecken! Warum? Weil es in der Mazehstraße ein Krankenhaus gibt – und hinten, Ausgang Balfourstraße, ist das Leichenhaus.
Wie verändern sich Beschimpfungen im Lauf der Zeit?
Es ist ein ständiger Wandel. Tiermetaphern wie »Affe«, »Esel« und »Hund« existieren unverändert seit vielen Jahrhunderten, andere dagegen sind verschwunden, zum Beispiel »Kebse«, was Konkubine bedeutet, wieder andere sind zumindest sehr selten geworden, etwa »Hundsfott«. Dafür tauchen neue Schimpfwörter auf, die man früher nicht kannte, etwa »Warmduscher«, oder »Frauenversteher«.
»Bei den 24 Eiern der zwölf Apostel Christi!«
Religiöse Verfluchungen waren früher sehr wirksam. Mit einem ordentlichen »Fahr zur Hölle!« konnte man Leute wirklich ärgern. Heute zucken da die meisten mit den Schultern.
Auf dem Gebiet sind wir Deutschen sowieso Waisenknaben! Die Italiener und Spanier kennen so wunderbar kraftvolle Flüche: »Bei den 24 Eiern der zwölf Apostel Christi!« Oder: »Ich scheiß auf Gott, auf das Kreuz und auf den Zimmermann, der es gemacht hat – und auf den Hurensohn, der den Baum gepflanzt hat!«
Wer wird damit beschimpft?
Niemand, das brüllen die, wenn was schiefgeht oder runterfällt.
Manche Schimpfwörter werden im Lauf der Zeit einfach ins Positive gewendet. »Schwul« war mal ein böses Wort, heute nennen sich die Homosexuellen selbst so. Gibt es noch andere Beispiele, wo es so gelaufen ist?
Ja, das englische »dyke« ist eigentlich ein abwertendes Wort für Lesbe – mittlerweile nennen sich aber die Motorrad fahrenden Lesben stolz selbst so: »Dykes on Bikes«. Oder ein Beispiel aus dem Hip-Hop: Die schwarzen Rapper nennen sich selbstbewusst »nigga« – aber wehe dem Weißen, der sie so nennt!
Wann bringen uns Flüche zum Lachen?
Wenn sie eine besondere Fallhöhe schaffen. Auch darin sind die Juden Meister. Deren Beschimpfungen bestehen oft aus zwei Teilen: Zuerst ein Lob, man wiegt also den Gegner in Sicherheit – dann der richtige Fluch, der den ungeschützten Gegner umso härter trifft. Zum Beispiel: »Ein Schloss sollst du erben mit hundert Zimmern, und in jedem Zimmer sollen hundert Betten stehen – und die Cholera soll dich von Bett zu Bett schmeißen!«
Das erinnert an Joschka Fischers Ausfall gegen den Bundestagspräsidenten Richard Stücklen: »Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.« Auch erst höflich, dann umso derber.
Die meisten Menschen verwenden »mit Verlaub«, um die nachfolgende Beleidigung etwas abzuschwächen. Fischer hat die Floskel natürlich ironisch verwendet.
Wer schimpft am lustigsten?
Die Ungarn sind gut! Da gibt es starke, wortreiche Bilder, zum Beispiel: »O Gott, steck Deinen herrlichen Arsch aus den Wolken, und scheiß auf diese Arschlöcher!« Die Ungarn fluchen und schimpfen mit einem unglaublichen Gemisch aus Blasphemie und Obszönität. Da gibt’s noch viel schlimmere Sätze, die können Sie im SZ-Magazin aber alle nicht drucken.
Dafür verlieren manche Wörter im Lauf der Zeit ihre Wucht. Wie kommt das?
Ganz einfach: Sie werden zu häufig gebraucht. Wir gewöhnen uns daran. »Arschloch« war früher sehr vulgär, ist aber heutzutage gang und gäbe, es wird ja sogar freundlich-scherzhaft verwendet: »Ach, Hans, du Arschloch, jetzt hast du schon wieder deine Schlüssel vergessen.«
Kann uns überhaupt noch irgendwas schockieren?
Na ja, wenn ich Sie jetzt hier »gefickte Riesendrecksau« nenne …
»Ach du Schnarrenberger!«
Äh, also …
Sehen Sie. Es geht aber nicht nur darum, wie vulgär die Beschimpfung ist. Ältere Leute, besonders Frauen, sind durchaus noch geschockt, wenn sie mit relativ harmlosen Schimpfwörtern beworfen werden. Ehrenrührige, rassistische und sexistische Beschimpfungen schockieren auch immer noch. Und natürlich können auch Klassiker teuer werden, je nach Gegner. Stefan Effenberg hat für das »Arschloch«, das er einem Polizisten an den Kopf warf, ordentlich zahlen müssen. Und als George W. Bush zu seinem Vize Dick Cheney sagte, dass ein gewisser Journalist der New York Times ein »major league asshole« sei, also ein erstklassiges Arschloch, ging es hoch her.
Manche Menschen sind gut darin, spontan Schimpfwörter zu erfinden. Legendär der SPD-Politiker Herbert Wehner, der den CDU-Mann Jürgen Wohlrabe »Übelkrähe« nannte. Wie kommt man selbst auf gute Schimpfwörter?
Man kann den Namen von Prominenten zum Schimpfwort degradieren, etwa statt »Ach du Scheiße!« einfach »Ach du Schnarrenberger!« sagen, beides beginnt mit dem gleichen Zischlaut, die Analogie versteht jeder. Oder Sie sagen »So ein Bohlen!« für ein narzisstisches Großmaul.
Und jenseits der Prominenten?
Setzen Sie auf Wörter mit harten Konsonanten! Da können Sie Ihre Wut beim Aussprechen schon fast körperlich abreagieren. Im Englischen zum Beispiel sehr schön: »You cotton-picking chicken-plucker!« Du baumwollpflückender Hühnerrupfer! Sagen Sie das mal laut! Das jemandem an den Kopf zu werfen macht richtig gute Laune.
Wie kamen Sie überhaupt dazu, Schimpfwörter zu erforschen?
In einem Seminar über Dialektologie an der Uni in Texas habe ich 1966 einen Text in meine Straubinger Mundart übersetzt. Da kam der Satz vor: »Ich schlage dir gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, du Affe!« Und ich dachte: Warum nennt man eigentlich jemanden einen Affen? Und welche Tiere werden noch als Schimpfwörter benutzt? Ich hatte dann schnell eine Sammlung von 25 Tiermetaphern zusammen. Damit fing alles an.
Schimpfwortforschung ist trotzdem bis heute kein uneingeschränkt anerkanntes Fach.
Für die Arbeit an dem Thema bin ich oft angegriffen worden, es galt immer als unfein. Aber ich habe mir eine dicke Haut wachsen lassen und unbeirrt mehr als 200 Sprachen und Mundarten nach negativ bewerteten Wörtern und Ausdrücken untersucht. Mancher studiert halt Schmetterlinge – ich habe mich immer für verbale Mistkäfer interessiert. Heute forschen auch viele andere im Fachbereich Malediktologie.
Was war denn das Bemerkenswerteste, was Sie in all den Jahren Ihrer Schimpfwortforschung herausgefunden haben?
Wie gemein die Menschen überall auf der Welt sind. Und wie schamlos sie alle attackieren und verspotten, die körperlich, geistig oder sonstwie von der Norm abweichen.
Ihr persönlicher Lieblingsfluch?
Zwei Klassiker: »Goddamn fucking shit!« und »Kruzifix Sakrament Hallelujah!«
Fotos: Getty, privat, Photocas: mi.la