Nach der Schlacht

Die Reporterin Janine di Giovanni war in den letzten zwanzig Jahren in fast jedem Krisengebiet: Bosnien, Ruanda, Afghanistan. Jetzt hat sie ein Buch über ihr Leben geschrieben - es wurde ein Buch über die Liebe.

Amour fou: Ihren Mann Bruno (hier mit dem gemeinsamen Sohn Luca) lernte Janine di Giovanni 1993 im Bosnienkrieg kennen. Paris, 2008.

Wo sie ist, da sind Trümmer, da sind Kampfhubschrauber, Minen, Gräber, blutjunge Rebellenkämpfer, die mit ihren Kalaschnikows in der Gegend herumballern. Das ist ihr Job: zur schlimmsten Zeit an den gottverlassensten Gegenden dieser Erde zu sein.

Janine di Giovanni, 49, in New Jersey geboren, schreibt seit mehr als zwanzig Jahren für die Times in London, für Vanity Fair und die Herald Tribune aus Krisengebieten und war in all dieser Zeit dem Bösen nah. Sie sah Kinder, die nur im Schnee spielen wollten, stattdessen von Minen in tausend Stücke zerfetzt wurden. Sie war Zeugin ethnischer Säuberungen in Bosnien, Ruanda, Somalia. Sie war da, als Grosny fiel, im eisig kalten Januar 2000, als russische Soldaten sie nur passieren ließen, weil sie sich mit einem Kopftuch als Tschetschenin verkleidet hatte und ihr jemand zum Schutz ein schreiendes Kind in den Arm drückte. Janine di Giovanni kann sich an all die Toten nicht mehr erinnern. Es waren zu viele.

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Mit einer selbstverständlichen Gastfreundschaft, wie sie Amerikanern eigen ist, bittet sie hinein in ihre warme Pariser Wohnung, mitten im schicken 6. Arrondissement, das an diesen Abenden voller schöner Menschen in gut geschnittenen Herbstmänteln ist, die in den Straßencafés unter Heizstrahlern über die Geburt von Carla Brunis Baby Giulia tuscheln – und über den Tod Muammar al-Gaddafis. Janine di Giovanni kocht Kaffee, bald komme Luca nach Hause, ihr Sohn, mit dem sie so viel Zeit verbringen wolle wie möglich, am Wochenende fliegt sie in den Südsudan.

Janine di Giovanni trägt eine schwarze Bluse mit feinen Spitzen, enge Leggins und Stiefel. Lange Zeit habe ihre Garderobe aus einer Kollektion schusssicherer Westen bestanden, aus Kleidungsstücken für »Winterkriege« – Tschetschenien, Balkan, Afghanistan, Nordirak – und aus leichteren Blusen für die »Sommerkriege«: Liberia, Elfenbeinküste, Sierra Leone, Ruanda. Sie hat über ihr Leben im Krieg ein Buch geschrieben, wie so viele Kriegsreporter vor ihr. Aber ihres, Ghosts by Daylight – A Memoir of War & Love, ist anders.

Weil sie nicht nur über all die Gräuel schreibt, die sie hautnah miterlebte, sondern auch über das Gefühl, sich die Haare zu waschen, nachdem sie ein Massengrab entdeckte. Doch eigentlich ist es ein Buch über die Liebe. Über die Intensität des Lebens, über diese Sucht, unendliches Leid und unendliches Glück im selben Moment zu verspüren.

»Liebe war nie einfacher als in Sarajevo«, schreibt sie über die Zeit während der Belagerung der bosnischen Hauptstadt Anfang der Neunzigerjahre, über einen Krieg, der sie mehr formte als alle anderen danach. Im legendären »Holiday Inn«, wo alle Journalisten wohnten, lernt sie Bruno Girodon kennen, einen französischen Kameramann, den Vater von Luca. Es ist der Beginn einer Amour fou. Sie verlieren sich eine Woche später aus den Augen, treffen sich an anderen Kriegsschauplätzen wieder, leben ein unwirkliches Dasein, viel Drama, viel Adrenalin, viele Martinis in halb zerbombten Hotellobbys. Dazwischen spüren sie Massengräber auf, berichten über Waisenhäuser und verbringen, jeder für sich, Wochen mit Leim schnüffelnden Kindersoldaten.

Steuererklärungen, Rechnungen, Langeweile am Esstisch, all die zermürbenden Kleinigkeiten des bürgerlichen Alltags sind an den Orten, an denen sich Janine und Bruno aufhalten, weit weg. Es gibt keine Routine im Krieg, keine lauwarmen Gefühle, keine Diskussionen darüber, wer den Abfall rausträgt. Sie leben ein Jetset-Leben, nur spielt es sich nicht in Nizza, St. Moritz oder den Hamptons ab, sondern an deren Antipoden, den beschissensten Orten der Welt. Bis ihr Bruno über Satellitentelefon einen Heiratsantrag macht. Janine steht in Somalia auf einem Dach, Bruno in Simbabwe – natürlich wird im Hintergrund geschossen.

Sie entscheiden sich für die bourgeoise Existenz. Für Paris. Für die Routine. Für Luca, das Licht.

In der ersten Januarwoche trafen Bruno und ich in Paris ein. Wir stapften durch den Regen wie kleine Soldaten nach der Schlacht. Unsere Umzugskisten kamen von Orten, wo tatsächlich Krieg war – aus der Elfenbeinküste, dem Irak, Sarajevo und Afghanistan –, angefüllt mit Resten des Lebens, das wir hinter uns lassen wollten.

Meine Kartons waren von einer teuren Speditionsfirma in London. Eines Nachmittags standen die Packer in meiner Wohnung in Notting Hill, wickelten mein ganzes Londoner Leben in Plastikfolie und Papier, verstauten fast zwanzig Jahre in Pappkartons. Alles wurde eingepackt, selbst die Aschenbecher mit den lippenstiftverschmierten Zigarettenstummeln von der Abschiedsparty am Vorabend. Brunos Kisten waren stabiler. Sie waren aus Holz und imposant und kamen per Schiffsfracht aus Abidjan.

Das war 2004. Für Paris hatten wir uns auch deswegen entschieden, weil ich schwanger und in meinem vierten Lebensjahrzehnt war, von denen ich die beiden letzten damit zugebracht hatte, rastlos durch die ganze Welt zu streifen. Und ich brauchte Stabilität, ich wollte morgens wissen, wo ich an diesem Tag sein würde, am Abend, am nächsten Morgen. Ich wollte neben Bruno aufwachen und wissen, dass er mir nicht von Afrika, vom Kosovo, von asiatischen Tsunamis oder amerikanischen Wirbelstürmen weggenommen würde.

Bruno sah noch immer so aus wie damals vor vielen Jahren in Sarajevo, als wir uns in der Lobby des »Holiday Inn« über den Weg gelaufen waren. Er war Kameramann für France 2, und ich arbeitete für eine große britische Zeitung. Wir waren leicht zu beeindrucken, unerfahren und glaubten leidenschaftlich an das, was wir taten. Ich glaubte damals (und tue es gelegentlich noch heute), dass das, was man schreibt oder fotografiert oder filmt, manchmal einen Menschen erreicht und etwas bewirkt. Aber ich war mit viel mehr Feuer bei der Sache als heute.

Es klingelt. Luca kommt von der Schule nach Hause. Er ist mittlerweile sieben Jahre alt, er macht es sich auf einem der Sofas bequem, spielt Computer, isst heimlich Schokolade vor dem Essen, wie alle Kinder. Er kennt den Beruf seiner Mutter. »Warum gehst du immer in gefährliche Länder?«, habe er sie gefragt, als sie vor ein paar Monaten nach Libyen reiste. Es brach ihr das Herz, »er hat so etwas vorher noch nie gesagt«.Wenige Stunden später saß sie im Flugzeug nach Bengasi.

Janine di Giovannis Buch, ihre »Memoiren vom Krieg und von der Liebe«, ist nicht zuletzt auch ein Buch über den Beruf des Reporters. Sie hat ihre Karriere in den »goldenen Jahren des Journalismus« begonnen, als man ihr 20 000 Pfund in die Hand drückte und sagte: »Geh in den Irak, und ruf an, wenn du was für uns hast.« Mittlerweile ist sie eine der Besten, wird verglichen mit Martha Gellhorn, Hemingways dritter Ehefrau, was sie sehr freut, weil sie sie verehrt. Janine di Giovanni arbeitet langsam, immer allein, meidet Pressekonferenzen und abgekartete Interviews. Wo Kamerateams stehen, um Demonstranten Mikrofone unter die Nase zu halten, da steht sie nie. Stattdessen versucht sie, ihren Protagonisten »unter die Haut zu kriechen«, all den Schlächtern, Vergewaltigern und Terroristen.

Aber warum hatten Sie nie Angst, Frau di Giovanni? Warum ist Ihnen Ihr Leben egal?

In Paris. Im Frieden. Da holten sie die Geister ein.

Sieger und Besiegte: US-Marines bei der Festnahme von Irakern, Falludscha.

Natürlich habe sie Angst gehabt, mehr als einmal spürte sie den kalten Lauf einer Waffe im Nacken. Aber so richtig habe sie sich nie damit befasst. Damals waren andere Dinge im Vordergrund. Das mit der Angst, das kam alles viel später. In Paris. Im Frieden. Da holten sie die Geister ein.

In all den Jahren, in denen ich von Krieg zu Krieg zog, hatten mich nie Albträume geplagt – vielleicht verhinderte ein innerer Überlebensmodus, dass ich allzu sehr nachdachte –, doch nun fing es an: lebhafte Träume von brennenden Häusern, von verstümmelten Menschen, von Kindern, die in Schutzräumen eingeschlossen sind. Immer wieder dachte ich an die Tage in Tschetschenien, an den Lärm der Kampfhubschrauber, bei dem ich mir die Ohren zuhalten musste und überzeugt war, in dem Bombardement den Verstand zu verlieren. Oder an Osttimor, als ich hinten auf einem Motorrad mitfuhr, den Brandgeruch in der Nase hatte und den Schrecken auf den Gesichtern der Menschen sah.

Vor Ort habe ich nie etwas empfunden. Ich habe nie darüber gesprochen, was passiert war, immer nur berichtet. Ich fand nicht, dass Reporter traumatisiert seien, schließlich waren wir es, die heil davonkamen. Leid und Tod erlebten die Menschen, die wir zurückließen. Ich konnte keine Symptome an mir bemerken. Ich war nie zusammengebrochen, hatte keine psychotischen Anwandlungen. Ich war keine Trinkerin oder Drogensüchtige geworden, die ihre Erinnerungen betäuben musste. Ich hielt mich für gesund und völlig normal.

Lucas Geburt weckte Ängste, die ich begraben hatte. Es fing damit an, dass ich in unserer Küche Wasser hortete, große Gebinde mit mehr als fünfzig Flaschen, die nach meiner Berechnung für mindestens zwanzig Tage reichen würden. Jedes Mal, wenn ich bei Monoprix einkaufte, wurde es mehr. Ich ließ es liefern. Ich hortete Konserven, Reis, Nudeln – Lebensmittel, die in Sarajevo während der Belagerung besonders nützlich gewesen waren, aber auch andere Dinge, die nicht so leicht zu beschaffen waren – Medikamente, riesige Vorräte an Ciprofloxacin und Codein, für die ich meinen irritierten Hausarzt um Rezepte bat. Ich hortete Verbandsmaterial, Mullbinden und sogar das Zeug zur Versorgung von Schusswunden, das ich in Tschetschenien nicht gebraucht hatte. Bruno sah mir besorgt, aber wohlwollend zu.

»Wir sind in Paris«, sagte er dann, »wir sind in Sicherheit.«

»Woher willst du das wissen? Das haben die Leute in Jugoslawien auch gesagt.«

Aber eigentlich ging es nur um das Baby. Allein würde ich bei einem Terroranschlag, bei Hochwasser oder in einer anderen Katastrophe schon zurechtkommen. Aber ich hatte schreckliche Angst, mit meinem Sohn in eine kritische Situation zu geraten, in der ich ihn beschützen musste.

Dieses reale Leben mit all seinen scharfen Kanten war furchtbar schwer. Jetzt erst hatte ich Angst.

In Janine di Giovannis Wohnung wimmelt es von Büchern, an den Wänden hängen eingerahmte Fotos aus Ländern, die sie bereiste. Sie lebt allein hier, seit sie sich von Bruno getrennt hat. »Wir hatten Mühe, im echten Leben Fuß zu fassen.« Die Intensität der vergangenen Jahre war plötzlich weg, es warteten die Anforderungen des Alltags, das Kind, die Nächte ohne Schlaf. Paris erwies sich als schwieriger Ort für einen Neustart, nicht nur wegen einer überbordenden Bürokratie, die sie beide nicht gewohnt waren, all die Verträge, all die Kriechgänge zu den Behörden, sondern wegen der Härte der Gesellschaft. »Ich kannte das nicht«, sagt ausgerechnet die Frau, die so viel Gewalt gesehen hat wie sonst kaum jemand.

Aus den Krisengebieten war sie solche Kämpfe nicht gewohnt

»Vor allem die Frauen sind so kompetitiv.« Vom Stillen bis zu den Kilos um die Hüften nach der Schwangerschaft, von Schwimmkursen bis zu den Marken der Kinderkleider, aus den Krisengebieten war sie solche Kämpfe nicht gewohnt.

Noch heute verzweifle sie jedes Mal, wenn sie von Malaria lese, von Polio, von hungernden Kindern, »all das macht mich unendlich traurig, weil sich nichts verändert all die Jahre«. Und dennoch sei sie keine Pessimistin, keine Zynikerin, nicht abgestumpft, so wie viele ihrer Kollegen. Sie kenne einige, die sich das Leben nahmen.

Trotz allem sei sie froh, diese Schrecken gesehen zu haben. »Es hat mir gezeigt, wie die Welt wirklich ist. Es hat mir gezeigt, dass wir hier in Paris, in Zürich oder in New York zu den zwei Prozent der Glücklichen gehören. Zu denjenigen, die Kühlschränke besitzen und flie-ßendes Wasser. Wir haben Zugang zu HIV-Medikamenten, und wir haben demokratisch gewählte Politiker. Der Rest der Menschheit hat wenig zu essen, keine Elektrizität, keine Bildung, wenig Aufstiegsmöglichkeiten. Das ist die Welt.«

Passiert es Ihnen, dass Sie die Nöte mancher Ihrer Freunde nicht verstehen?

»Ja. Früher wurde ich ungeduldig, wenn es um Frisuren ging und dauernd nur ums Abnehmen. Doch meine Ungeduld war nicht fair. Jeder darf eigene Unsicherheiten haben. Ich versuche sehr, nicht zu urteilen, doch es gelingt mir nicht immer.«

Als ich zum ersten Mal in einem Feldhospital ein Kind sah, das mit zerfetztem Unterleib in seinem verdreckten Bettchen herumkrabbelte, ohne Schmerzmittel, musste ich rausgehen und mich übergeben. Aber das war das einzige Mal. Ich lernte zu beobachten, Aufzeichnungen zu machen, und später, zu Hause, in der Sicherheit meines Zimmers, weinte ich oder hielt den Kopf in den Händen, legte mich aufs Bett und starrte an die Decke.

Die arrogante Wahrheit war, dass ich nie an meinen eigenen Tod dachte.

Eines Nachmittags, Luca war inzwischen zwei Jahre alt, saß ich am Schreibtisch, als das Telefon klingelte. Eine Ärztin war am Apparat.

»Madame Girodon«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. Es war jemand, den ich nicht kannte.

Sie sagte, dass sie im Val-de-Grâce arbeite, dem Militärkrankenhaus, in dem Arafat und Jacques Chirac behandelt worden waren.

»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann hier in der Klinik ist und dass ich ihn ein paar Wochen hierbehalten werde.« Sie hatte den Eindruck, dass er überarbeitet und suizidgefährdet sei.

Nach ein paar Wochen wurde er entlassen, aber er war nicht mehr der alte Bruno, und auch in unserer Wohnung war nichts mehr wie früher. Nicht, dass etwas zerbrochen war, aber die fröhliche Blase, dieser geschützte kleine Raum, in dem wir gelebt hatten, war zerplatzt. Die Gespenster der Vergangenheit verfolgten uns, und Bruno hatten sie erwischt.

»Ich fühle mich wie Asche«, sagte er.

Nachts schlief er nicht. Entweder saß er an seinem Computer und spielte »Age of Empires« – »Wie kommt es, dass mir nur Filme gefallen, die entweder absolut brutal oder für Kinder sind?«, fragte er mich eines Nachts –, oder er hockte auf dem Sofa und rauchte und schaute Fernsehen.

Was machte er in den Stunden zwischen Abend und Morgen? Es ist mir peinlich, dass ich es nicht weiß, aber vielleicht wollte ich es auch nicht wissen, weil ich am nächsten Tag die leeren Flaschen neben dem Mülleimer gefunden hätte. »Haben wir gestern Abend zwei Flaschen Wein geleert?«

»Ich hab ein, zwei Gläser getrunken.«

Er war nie verkatert, aber wenn ich morgens aufwachte, um nach dem Baby zu sehen oder an die Arbeit zu gehen, schlief er weiter, manchmal bis Mittag. Manchmal schlief er abends auf dem Sofa ein und wachte auf, wenn ich ins Bett ging. Nie schien er etwas zu essen. Wenn ich ihm etwas machte, guckte er nur widerwillig und aß einen Happen. Er ging nicht mehr aus. Er wollte niemanden mehr sehen.

»Glaubst du«, fragte ich Bruno eines Abends, »dass diese Geschichte uns kaputt gemacht hat?«

»Was für eine Geschichte?«

»Alles. Die Gräber, die Flammen, die Bomben. Alles.«

Er schwieg eine Weile, schenkte Wein nach.

»Hat es uns beschädigt?«

Nach einer Weile antwortete er: »Wie denn nicht?«

Wenn man Bücher liest oder Filme sieht, selbst schlechte, in denen Alkoholiker geschildert werden, gibt es immer eine Szene, in der das Ende fast bilderbuchmäßig hereinbricht. Bei uns war es im Spätsommer, in einer Zeit, in der Paris Plages – die Strandparty an der Seine – besonders gut besucht ist. Wir hatten in einem mexikanischen Restaurant im 5. Arrondissement zu Abend gegessen, Bruno hatte vorher schon etwas getrunken, zum Essen dann mehrere Margaritas und Wein. Dann stieg er auf sein Motorrad.

»Vielleicht solltest du lieber nicht fahren«, sagte ich.

Er gab mir meinen Helm. »Alles bestens, keine Sorge.«

Wir fuhren die Uferstraße entlang, er fuhr schnell, wechselte andauernd die Spur.

»Bitte nicht so schnell«, sagte ich.

»Hab alles im Griff«, sagte Bruno und gab Gas. Er schnitt einen jungen Nordafrikaner aus der Banlieue, der auf einem kleinen Motorroller fuhr. Der Junge zeigte ihm den Finger. Was dann passierte, ging ganz schnell.

Bruno ließ sich zurückfallen, fuhr ganz dicht neben den Jungen heran und versetzte ihm einen Stoß, sodass er fast umgekippt wäre.

»Scheiße! Du hättest ihn fast getötet. Und uns auch.« Wir fuhren so dicht neben dem Teenager, dass ich die Angst im Gesicht seiner Freundin sehen konnte, die hinter ihm saß. Es war wie Autoscooter, nur realistisch. »Mein Gott, Bruno, hör auf!«

Aber er war im Krieg, so wie in den Nächten, in denen er unentwegt »Age of Empires« am Computer spielte und, wenn ich ihn davon abzubringen versuchte, mir zurief: »Das hier ist Krieg, Baby!«

Janine di Giovanni sitzt vor ihrem Computer in der Wohnung. Wir schauen alte Fotos an, Schnappschüsse der kleinen Familie, dazwischen Aufnahmen aus ihren Einsätzen: sie, mit dem Notizbuch in der Hand zwischen Blauhelmen; sie, mit kugelsicherer Weste auf einem Lastwagen; auf einem Sofa mit Daniel Ortega, dem Führer der Sandinisten in Nicaragua.

»Ein Leopard ändert nie seine Flecken«

Kriegskorrespondenten sind nicht gerade das, was man ideale Eltern nennt. Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen mindestens 60 Journalisten wegen ihrer Arbeit getötet, 673 festgenommen, 929 erlitten Gewalt und wurden bedroht, 29 entführt. Dazu kommen die Wochen der Absenz, die hohe Belastung beim Schreiben, der Druck kurz vor Abgabe, die niedrigen Löhne.

Sind Sie eine gute Mutter, Frau di Giovanni?

»Ich glaube schon. Ich mache viele Fehler, so wie alle anderen auch. Ich bin zwar manchmal weg, aber wenn ich da bin, dann bin ich nur für Luca da.« Sie sei sich sicher, dass er ihr Engagement verstehe, wenn er älter werde und ihre Texte lese. »Schreiben ist ein wichtiger Teil meiner Identität. Es macht mich zu dem, was ich bin.«

Schreiben Frauen anders über Kriege als Männer?

»Im Unterschied zu Frauen suchen sich Männer andere Schwerpunkte, schreiben viel über militärische Strategie und Waffen, immer wieder Waffen. Wer sie kauft, wer sie verkauft, woher das Geld stammt. Mich interessiert mehr, wie sich eine Mutter fühlt, die an der Front lebt und ihr Kind unter Kugelhagel zur Schule bringt.

«Eines Tages, ich war mit Luca draußen auf der Straße, wurde mir auf einmal klar, dass ich keine Angst mehr hatte. Es war, als wäre die Sonne durch eine dichte Wolkendecke gestoßen. Vielleicht, weil Luca inzwischen älter war und ich wusste, dass er nicht mehr in die Steckdose fassen würde, und ich ihm sagen konnte, dass er vor Autos aufpassen müsse und nicht mit Fremden gehen dürfe, aber die metallische Furcht, die mich seit seiner Geburt begleitet hatte, war plötzlich wie verflogen. Stattdessen Leichtigkeit, Freude und ein bewohnbarer Ort, wo ich mich um ihn kümmern konnte, ohne ständig an die Vergangenheit denken zu müssen, an den Balkan oder Afrika, wo Nachbarn mit Macheten oder Gewehren übereinander herfallen. Mein Leben war nicht anders als das der anderen. Auf einer Party lernte ich einen Psychiater kennen, der mir erzählte, wie Traumatisierungen entstehen können – irgendein Ereignis, das früher passiert ist, lebt latent fort und wird durch einen Vorfall wieder ins Bewusstsein geholt. Brunos Traumatisierung wurde von den Kriegen ausgelöst, er musste also früher etwas erlebt haben, eine Wunde, die nicht verheilt war.

Ich bildete mir ein, ich sei ohne Traumatisierung davongekommen, weil ich die Kriege ohne seelische Beschädigungen überstanden hatte. Aber die Geburt meines Sohnes öffnete verborgene Erinnerungen an diese Kriege. Ich war nicht so unbeteiligt, wie ich gedacht hatte.

Bruno hatte mir im Laufe der Jahre viele schöne Geschenke gemacht. Silberne Halsketten mit kostbarem Lapislazuli aus dem Irak, prachtvolle Seidenkleider aus Burma, nachtblaue Glasperlen aus Bamako. Doch am allerschönsten war mein goldener Ehering, ganz schlicht, nichts Aufwendiges, keine Diamanten, kein eingravierter Name. Einfach ein Ring, der mir so gefiel und so viel symbolisierte – Stabilität nach all dem Irrsinn, Ruhe nach Rastlosigkeit, Schönheit nach so viel Grauen. Er bedeutete, dass wir zusammen waren, wir drei.

Ein afghanischer Freund hat mir einmal das bei ihnen übliche Trauerritual beschrieben. Wenn jemand stirbt, trauern die Angehörigen vierzig Tage lang. Sie weinen, sie erinnern sich an den Verstorbenen, untröstlich und verzweifelt. Nach dem Freitagsgebet treffen sich alle zum Essen und erzählen von Leben und Tod des Verstorbenen.

Doch am einundvierzigsten Tag geht das Leben weiter. Ich fand, dass ich genug geweint und getrauert hatte, dass die Trauer vorbei war.

Es war mein einundvierzigster Tag.

Eines Nachmittags, im Frühsommer, legte ich den Ring in ein Zedernholzkästchen, das mir ein Freund (er war an einer Überdosis Speedball gestorben) zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. In dieses Kästchen legte ich meinen Verlobungsdiamantring und den Plastikmann und die Plastikfrau von unserer Hochzeitstorte. Ich legte auch einen kleinen Zettel hinein, auf den ich den letzten Tropfen meines Tocca-Parfüms gegeben hatte, das Bruno so liebte. Der Geruch von Glück.

Liebesaffäre mit Bruno, 1993–2009.

Und zuletzt legte ich meinen Ehering in ein kleines grünes Lederschächtelchen mit goldenem Verschluss. Ich klappte den Deckel zu, schloss ab und stellte es in ein Regal. Eine dramatische Geste, das war mir in dem Moment klar, doch ich musste dieses verrückte Ritual praktizieren.

Ich war traurig, aber nicht bitter.

Wir hatten einander etwas Unwahrscheinliches gegeben, etwas, was aus dem Krieg hervorgegangen war, diesem brutalen Lehrer, der uns beschädigt und in gewisser Weise zerstört hatte.

Unser Kind. Was wir gegeben hatten, konnte uns niemand nehmen.

Es ist spät geworden. Janine di Giovanni muss sich noch um letzte Vorbereitungen für ihre Reise in den Sudan kümmern, das Visum, der Übersetzer. Sie will Luca ins Bett bringen, er muss morgen früh raus. In einem Tagebuch für die britische Zeitschrift The Spectator schrieb Janine vor einem Jahr: »Als ich meinen Sohn an diesem Morgen zur Schule brachte, haben mich die Mütter so seltsam angeschaut. Es stellte sich heraus, dass Luca am Vortag erzählte, jemand habe in Afghanistan mit einer Pistole auf mich geschossen – was, technisch gesehen, nicht stimmt. Niemand hat direkt auf mich geschossen, und es war auch keine Pistole, sondern eine AK-47. Doch Stephanie, Lucas Lehrerin, rannte auf mich zu, als sei ich bereits halbtot, und fragte mich, ob alles okay sei, ob ich nicht unter Schock stehe. Aber nein. Es geht mir gut. Richtig gut sogar. So gut, dass ich soeben einen Brief an den Offizier in Afghanistan schrieb. Ich fragte ihn, ob ich noch einmal ein paar Tage auf der Forward Operating Base Jackson verbringen dürfe, nicht jetzt, sondern erst wenn das Wetter wieder wärmer wird.«

»Über Kriege zu schreiben ist eine Sucht«, antwortete einst Ed Vulliamy, der bekannte Kriegsreporter des Guardian, auf die Frage, warum es Kriegsberichterstatter immer wieder zurück in den Krieg ziehe. »Ein Leopard ändert nie seine Flecken«, so sagte es Martha Gellhorn, Hemingways Ehefrau. Janine di Giovanni sagt: »Es ist mein Leben.«

Fotos: ap, privat