Wer nur ein paar Kapitel ihres letzten Buches »Und dennoch...« liest, kann nachvollziehen, was Hildegard Hamm-Brücher erlebt, durchlitten, geleistet hat. Geboren am 11. Mai 1921 in Essen, verlor sie früh ihre Eltern, wurde als Halbjüdin diskriminiert, studierte Chemie in München – wo sie sich im Umfeld der Weißen Rose bewegte – und ging 1948 in die Politik: eine 27-jährige, idealistische, unbeugsame Frau unter lauter mächtig arroganten Männern. Später saß sie im Bayerischen Landtag und im Bundestag, war Staatsministerin im Auswärtigen Amt unter Genscher, 1994 sogar FDP-Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten. Hamm-Brücher bekam so viele Auszeichnungen und Ehrungen, man kann sie hier nicht aufzählen. Man muss mit dieser Frau sprechen, um zu kapieren, wie sich unser Land seit dem Zweiten Weltkrieg verändert und verbessert hat. Mittlerweile ist sie verwitwet und längst nicht mehr in der FDP, aber sie kämpft weiter – für demokratisches Denken, Frauenrechte und Frieden.
SZ-Magazin: Von Journalisten werden Sie ständig als Grande Dame der deutschen Politik bezeichnet. Was ist der Unterschied zwischen einer Dame und einer Frau?
Hildegard Hamm-Brücher: Ach, Dame oder Frau, das ist mir gar nicht so wichtig. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass eine Frau eigenständig ist und für eine Sache einsteht, sagen sie halt Dame. Ich habe das nie kultiviert, im Gegenteil, ich bin immer gegen den Strom geschwommen, wollte aber trotzdem hübsch dabei aussehen.
Das ist ja gerade das Damenhafte: streitbar, aber elegant.
Finden Sie? Trotzdem, für mich ist das keine Auszeichnung, es macht mich weder hochmütig noch eitel. Die Feministin Gloria Steinem hat mal gesagt: Eine emanzipierte Frau hat vor der Ehe Sex und danach einen Beruf. Dann bin ich emanzipiert, obwohl ich zwischen dem Sex und dem Beruf keinen Zusammenhang sehe. Ich war in den Fünfzigerjahren bestimmt nicht die Einzige, die Sex vor der Ehe hatte. Der Krieg hatte doch alles durcheinandergebracht, die Bindungen, die Gefühle. Viele Frauen hatten einen Lebensgefährten, weil ihre Männer nicht aus dem Krieg zurückkamen.
Als Ihr Sohn 1955 zur Welt kam, waren Sie noch nicht mit Ihrem Mann verheiratet. Ein Skandal?
Es war noch schlimmer. Er war noch nicht mal von seiner ersten Frau geschieden. Stellen Sie sich das mal vor, ein nicht geschiedener, katholischer CSU-Politiker und diese lästige, aufmüpfige Ketzerin aus der FDP, das wäre ein Knüller gewesen. Damals galt ja noch ein rigides Scheidungsrecht: War der Mann der Ehebrecher, hatte er keine Chance auf Scheidung, wenn die Frau es nicht wollte. Trotzdem war ich wild entschlossen, dieses Kind zu bekommen.
Wie konnten Sie die Schwangerschaft verheimlichen?
Während der letzten Schwangerschaftswochen habe ich bei meinem Bruder in Holland gelebt, die ersten Monate wuchs mein Sohn bei meiner Schwester auf, bis wir 1956 endlich heiraten konnten.
Wie haben Sie sich eigentlich in Ihren Mann verliebt?
Wir haben uns im Münchner Stadtrat kennengelernt. Er war bei der CSU, aber sehr progressiv, und hat sich dafür eingesetzt, dass München sozialer und frauenfreundlicher wurde. Gemeinsam haben wir das erste Apartmenthaus für alleinerziehende, berufstätige Mütter aufgebaut, mit Kindergarten im Erdgeschoss.
Sie haben sich nie einem Fraktionszwang unterworfen, haben für Bildung und Gleichberechtigung gekämpft und immer – auch gegen Widerstände – Ihre Meinung vertreten. Welche Politikerin aus dem Jahr 2012 erinnert Sie an die Hildegard Hamm-Brücher von früher?
Claudia Roth. Die ist mutig und lässt sich nicht kleinkriegen.
Die große Dame der Liberalen erkennt sich in der FDP-Hasserin Claudia Roth wieder?
Vergessen Sie nicht, dass ich 2002 wegen der antisemitischen Einlassungen Möllemanns aus der FDP ausgetreten bin, nach 54 Jahren. Vor zwei Jahren saß ich für die hessischen Grünen in der Bundesversammlung und habe für Gauck, nicht für Wulff, als Bundespräsidenten gestimmt.
Und es stört Sie nicht, dass die Grünen permanent über die FDP schimpfen?
Aber nein, in meinem Alter kann ich ganz unbefangen mit den komischen Parteiritualen umgehen. Außerdem, sagen Sie mir doch eine Frau aus einer anderen Partei, die positiv aus dem Rahmen fällt.
Sahra Wagenknecht?
Die kenne ich nicht gut genug. Sie sieht gut aus, ist gebildet, aber sie hätte einen Sozialismus entwickeln müssen, der sich stärker von dem der DDR abgrenzt. Ursula von der Leyen fällt mir noch ein, die traut sich was, vor der habe ich Respekt, aber sonst?
Also doch die Frauenquote?
Auf keinen Fall, mit einer Quote würden wir uns doch wieder in ein Ghetto begeben. Es geht darum, dass Männer und Frauen wirklich ebenbürtig sind, und wenn es so weitergeht, werden sie das auch, und zwar ganz natürlich. Die qualifizierten Männer werden weniger, die qualifizierten Frauen werden mehr, die Entwicklung lässt sich nicht aufhalten. Also mir wäre es zuwider gewesen, in ein Amt zu kommen, weil die Quote es will.
Was macht Sie so sicher, dass die echte Gleichberechtigung kommen wird?
Wer heute jammert, hat vergessen, wo wir angefangen haben. Ich habe jahrelang dafür gekämpft, dass Frauen im Symphonieorchester mitspielen oder die gehobene Beamtenlaufbahn einschlagen durften, das muss man sich mal vorstellen. Auf einer Wahlveranstaltung in Amberg wurde ich mal von einer Frau beschimpft: »Pfui Teufel«, hat sie geschrien, »wie kann man was anderes sein als sein Mann?« Für mich ist der Aufstieg der Frauen die größte gesellschaftspolitische Leistung der Bundesrepublik.
Sie haben mal gesagt, dass Sie mehr für die Frauen getan haben als Alice Schwarzer.
Alice Schwarzer hat tapfer gekämpft und viel erreicht, aber sie respektiert nicht, dass man das, worüber man redet und schreibt, auch selbst tun muss. Mein Einwand ist also, dass sie es nicht gewagt hat, selbst in die Politik zu gehen, und teilweise eine Überheblichkeit gegenüber den Frauen ausstrahlt, die es probiert haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir brauchen Frauen wie Alice Schwarzer, aber wir brauchen auch Frauen, die die Bretter bohren.
Ihnen blieb gar nichts anderes übrig. Sie haben als junges Mädchen beide Eltern verloren. Wie war das?
Als mein Vater an einem eitrigen Blinddarm starb, war ich zehn. Ein Jahr später starb meine Mutter an einem Tumor, es war ein schmerzhafter und qualvoller Tod. Es hat lange gedauert, bis ich diesen Einschnitt in mein Kinderleben wirklich begriffen habe.
Sind Sie zusammengebrochen?
Überhaupt nicht. Als Älteste von fünf Geschwistern musste ich sofort funktionieren. Ich weiß noch, dass ich die naive Vorstellung hatte, dass meine Eltern mir vom Himmel aus zuschauen, ob ich meine Sache gut mache.
Sie kamen dann von Berlin zu Ihrer Großmutter nach Dresden.
Ja, das waren reiche Leute. Ihr Mann hatte eine große Malzfabrik aufgebaut, war aber schon verstorben. Als wir Waisenkinder auf einmal vor der Tür standen, hat sie ihr ganzes Haus umgekrempelt, sogar unsere Kindermöbel ließ sie holen, damit wir uns wie zu Hause fühlten.
Und dann kam die zweite Katastrophe.
Ja, nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 war sie Jüdin, obwohl sie längst konvertiert war und uns streng evangelisch erzogen hat.
Wurden Sie diskriminiert?
Ja, auf einmal wurde ich nicht mehr zu den Schwimmwettkämpfen zugelassen, obwohl ich immer eine sehr gute Schwimmerin gewesen war. Auch ins Schullandheim durfte ich nicht mehr mit. 1942 nahm sich meine Oma dann das Leben. Sie sollte nach Theresienstadt deportiert werden, dabei konnte sie nur noch mit zwei Stöcken gehen und sich nicht mal mehr selbstständig an- und ausziehen. Der Selbstmord meiner Oma und die Hinrichtung der Studenten der Weißen Rose haben mich zu dem Vorsatz geführt, dass ich, sollte ich diesen Irrsinn überleben, mein Leben lang dafür kämpfen würde, dass so was nicht mehr passieren kann.
Der Krieg, die Armut – fehlen jungen Menschen heute solche Erlebnisse?
Schwierige Frage, weil man sie ihnen ja kaum wünschen kann. Aber es stimmt schon, das Leben ist heute zu wenig herausfordernd. Jeder Mensch braucht Bewährungsproben. Ob man sie besteht oder nicht, ist gar nicht entscheidend, aber wenn es überhaupt keine gibt, entsteht eine gefährliche Lücke.
Wie lange waren Sie mit Ihrem Mann verheiratet?
52 Jahre. Nur Helmut Schmidt und Loki haben es noch länger geschafft. Die halten den Rekord.
Was ist das Geheimnis einer so langen Ehe?
Dass sie nie in einen Trott verfallen ist, weil ich ständig engagiert war und überlegen musste, wie wir den Alltag mit den beiden Kindern hinkriegen. Papa kommt von der Arbeit nach Hause und kriegt erst die Hauspantoffeln, dann das Essen vorgesetzt – das ist tödlich für eine Ehe.
Vielleicht haben Ihre Kinder gelitten, und Sie haben es nicht gemerkt?
Ich kann mit meinen Kindern heute gut über diese Zeit sprechen. Und ja, sie haben mich oft vermisst, aber sie haben gelernt, dass ihre Mutter das tut, was ihr auch wichtig ist, und sie nicht davon ausgehen können, dass jeden Tag automatisch die Betten gemacht sind. Meine Tochter wurde mal auf einem Kindergeburtstag gefragt, von wem sie eigentlich erzogen werde, wenn die Mutter als Staatsministerin ständig unterwegs ist. Wissen Sie, was sie geantwortet hat? »Bei uns zu Hause wird nicht erzogen.«
Ihr Mann ist 2008 im Alter von 98 Jahren gestorben. Später haben Sie in einem Interview gesagt: »Die Lücke will und will sich nicht schließen.« Schließt sie sich allmählich?
Sie schließt sich nie, aber das ist kein Verhängnis, das kann man schon ertragen.
In welchen Momenten merken Sie das besonders?
Wenn ich allein bin. Meine Kinder sind so lieb und kümmern sich um mich – aber allein zu leben, das kann hart sein. Wenn man weiß, dass niemand da ist, mit dem man spontan und vertraut reden kann.
Erwin Hamm, der Name Ihres Mannes, steht noch auf dem Klingelschild.
Ich betreibe keinen Kult, ich spreche auch nicht mit ihm oder so. Aber wir haben auf seinem Grab ein Obstbäumchen gepflanzt, genau so eines, wie er es vor dem Fenster seines Arbeitszimmers stehen hatte. Laut Friedhofsverwaltung dürfen auf dem Friedhof zwar keine Obstbäume gepflanzt werden, aber für irgendwas muss es ja gut sein, dass ich Ehrenbürgerin der Stadt München bin.
Sie sind immer noch sehr engagiert und erheben Ihre Stimme, erst neulich wieder saßen Sie bei Günther Jauch. Kommen Sie nicht los von der Politik?
Letztes Jahr habe ich mir bei einem Sturz den linken Oberschenkelhalsknochen gebrochen. Seitdem habe ich jeden Vorsitz und alle Kuratorien abgesagt. Behalten habe ich nur zwei, drei Ämter, die mir sehr wichtig sind, zum Beispiel den Co-Vorsitz im Förderverein »Demokratisch Handeln«, den ich mitgegründet habe.
Also können Sie jetzt endlich ausschlafen?
Haben Sie eine Ahnung! Ich wache jede Nacht gegen drei Uhr auf. Ich mache mir dann ein Brot und einen Kaffee, hole die Zeitung von draußen, lege mich zurück ins Bett und lese. Gegen fünf Uhr werde ich wieder müde, dann schlafe ich weiter, bis ich aufwache.
Sie waren Süddeutsche Meisterin im Schwimmen. Machen Sie noch Sport?
Ich wippe jeden Morgen auf dem Trampolin. Früher bin ich gern ins Bad nach Grünwald, um mich im Warmwasser zu bewegen, aber das geht nicht mehr, weil sich sofort die Blase meldet. Auch Radfahren ist mir mittlerweile zu riskant, dafür fahre ich noch Auto.
Nicht Ihr Ernst.
Doch, doch. Keine weiten Strecken, zum Supermarkt oder zur U-Bahn. Vor Kurzem war ich beim Arzt und habe mein Sehvermögen und meine Reaktionsschnelligkeit testen lassen. Alles in Ordnung.
Schauen Sie fern?
Nur Nachrichten und Parteitage auf Phoenix.
Politische Talkshows?
Die kommen so spät, da bin ich schon im Bett. Außerdem sind die ziemlich ausgelatscht.
Schreiben Sie E-Mails, zum Beispiel an Ihr großes Vorbild Helmut Schmidt?
Ich habe mein ganzes letztes Buch selbst auf dem Computer geschrieben, das geht also noch, aber E-Mails sind mir zu anstrengend. Mir hat mal jemand eine Adresse eingerichtet, aber da muss man ja mehrmals am Tag nachschauen, nein, da mache ich nicht mehr mit.
Also telefonieren Sie mit dem Altkanzler?
Wir sind beide über 90, das hört auf. Aber er ist ein Freund, den ich bis heute unendlich bewundere, ja fast anhimmle.
Sie wirken so neugierig und heiter. Sind Sie nie melancholisch oder niedergeschlagen?
Es gibt Momente, in denen ich traurig bin. Wenn ich merke, dass ich nicht mehr richtig lesen kann zum Beispiel. Dann sage ich mir: Lieber Gott, vielen Dank für das schöne Leben, aber mach, dass es bald zu Ende geht.
Keine Angst vor dem Ende?
Nein. Ich bin eine fröhliche Christin. Und Sie kennen doch das Gedicht von Rilke: Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. So ist es auch bei mir. Ich bin nicht verzagt, sondern gelassen, und habe keine Angst.