Die 50-jährige Alissa Walser

Tochter von. Kein leichter Job. Und dann auch noch: Schriftstellerin. Ein Gespräch über das Trotzdem.

SZ-Magazin: Wann versteht man als Tochter den Beruf des Vaters, der keine Aktentasche, kein Büro in der Stadt, keine Insignien des Arbeitslebens hat?
Alissa Walser: Wie bei allem – man versteht erst, wenn man etwas selber tut. Vorher entwickelt man Vorstellungen, aber das sind nur Anschauungen.

Sie machen es seit annähernd 20 Jahren selber. Kennen Sie diese – wie der Schriftsteller David Sedaris es mal beschrieb – Sehnsucht nach Angestelltendasein, Regelmäßigkeit?
Phasenweise, ja. Ich habe mal mit einer Ärztin zusammengewohnt, die sehr früh aufstehen musste, weil in der Praxis jemand wartete, und manchmal habe ich sie darum beneidet; um diese Struktur, die der Beruf ihr vorgab. Ich habe damals erkannt, wie wichtig es ist, für sich selber ein solches Gerüst zu schaffen. Das ist mitunter hart durchzuziehen.

Und wie macht man das?
Ich glaube nicht, dass es ein Rezept ist, aber ich höre abends an dem Punkt auf zu schreiben, an dem ich weiß, wie ich am nächsten Morgen weitermachen möchte. Damit ich mich schon drauf freue und mühelos wieder einsteigen kann, statt das Gefühl zu haben: Oh je, jetzt musst du ohne alles ins Arbeitszimmer.

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Weil es dann auch so ist, als würde etwas warten?
Genau, weil mich dann etwas lockt, dorthin zieht. Wenn sich das mit der Zeit wiederholt, dann habe ich das Gefühl, es entsteht eine Struktur. Davon abgesehen schreibe ich eigentlich in einem banalen Rhythmus, ich fange morgens an, mache Mittagspause, arbeite bis abends und gehe zwischendurch mit dem Hund. Dann wird das Wochenende belanglos und jeder Urlaub nur eine Belastung – das Grauen, sich auf Knopfdruck wohlfühlen zu sollen!

Was brauchen Sie noch zum Arbeiten?
Ich brauche sehr viele Orte zum Schreiben. Mein Schreibtisch ist überladen, aber meinen schönen kleinen Computer kann ich wegtragen, aufs Sofa oder in die Küche. Bewegung, Laufen, wenn ich mich körperlich betätige, betätigt sich auch mein Kopf. Ich wäre als Kind bestimmt fernsehsüchtig geworden, wenn mein Körper sich dabei nicht so mies gefühlt hätte. Der Körper spielt für mich beim Schreiben eine große Rolle.

Auch in Ihren Geschichten ist er sehr wichtig. Sie haben die Fähigkeit, über Sex, oder besser gesagt, sich anbahnenden Sex so zu schreiben, dass es einem beim Lesen nicht peinlich ist.
Danke. Aber das hängt einfach nur damit zusammen, dass ich mir, wenn ich später oder auch viel später mal einen eigenen Text lese, nicht als Voyeurin begegnen will.

Ihre Protagonisten sind häufig in Beziehungen, driften aber auseinander, bevor es zu so etwas wie tiefer Liebe kommt. Warum?
Weil es mich interessiert, wie Leute an genau dieser Stelle miteinander umgehen. Ich finde das Duell im Duett spannender als umgekehrt. Und zusätzlich gibt es ja die Meta-Erzählungen unserer Kultur, die immer mit in unseren Köpfen sind: Vorstellungen und das von den Eltern Tradierte, wie man sich in solchen Situationen zu benehmen habe. So viele Erwartungshaltungen, die ich noch kennengelernt habe, existieren nicht mehr, jedenfalls nicht offiziell. Heute stoßen zwei sich völlig fremde Begriffe von Freiheit aufeinander. Das hat jetzt nichts mehr mit Frau und Mann, aber sehr viel mit Jung und Alt zu tun.

Ihr erster Auftritt in der literarischen Welt war spektakulär: Sie haben 1992 in Klagenfurt die Geschichte Geschenkt vorgelesen. Und gleich den Ingeborg-Bachmann-Preis geholt.
Es war nicht mein Einstieg, ich hatte zwei Jahre zuvor bei Suhrkamp das Buch Traumhochzeit veröffentlicht, mit Texten und Bildern von mir – allerdings unter dem Namen Fanny Gold.

Wieso nicht unter Ihrem eigenen Namen?
Für mich war damals nicht ganz klar, wie das alles weitergeht: Einerseits war ich Malerin, andererseits schrieb ich.

Der Filzstift hat mich vom Malen zum Schreiben gebracht

Von klein auf liebte Alissa Walser Hunde. Auf dem Bild spielt sie im Winter 1966 mit ihrem Hund Florian

Was für eine Art Malerin waren Sie?
Nicht figürlich und sehr materialorientiert. Zum Beispiel habe ich alle Farben selber hergestellt, nach alten Rezepten, mit Leim aus Hasenhaut und Gips.

Warum?
Ich hatte das Gefühl, dass ich bestimmte Qualitäten nur mit bestimmten Materialien herstellen könnte.

Sah man das im Resultat?
Laien wahrscheinlich nicht. Aber es war Teil des künstlerischen Prozesses. Jedenfalls – es gab eine Zeit, in der ich nicht mehr mit meinen Materialien gearbeitet habe, ich wollte nicht mehr ins Atelier gehen, schon der Geruch von Ölfarbe widerte mich an. Ich wollte leichter werden und reduzierte mich so lange, bis ich bei Filzstift auf Papier landete. Plötzlich wurde meine Malerei figürlich, erzählte Geschichten, und das, obwohl ich mit Text gar nichts zu tun haben wollte. So, glaube ich, bin ich zum Schreiben gekommen. Doch ich wollte das zunächst getrennt halten von meiner malerischen Arbeit. Daher das Pseudonym.

Sie sind dann in Klagenfurt als Schriftstellerin an die Öffentlichkeit getreten. Und haben das thematisiert, was im Raum stand: eine Vater-Tochter-Beziehung. Nur dass die in Ihrem Text angedeutet inzestuös war.
Jeder liest seinen eigenen Text. Für mich gab es bis zu dem Punkt meines Schreibens keinen Zweifel daran, dass ein Text nicht biografisch gelesen wird. Das war eine kurze Zeit der Naivität. Ich hatte mir mein Selbstverständnis aus der bildenden Kunst in die Literatur mitgebracht. Ich meinte, da gibt es nichts zu übersetzen, schon gar nicht in mich. Und schon gar nicht von Journalisten. Bis ich begriff, dass Journalisten, vor allem, wenn sie über Literatur schreiben, zerrissene Leser sind. Damals dachte ich, es geht um menschliche Verhältnisse, nicht um gesellschaftliche Skandälchen.

Das haben Sie wirklich gedacht?
Ich bin immer davon ausgegangen, dass die Leute das abstrahieren würden. Stimmte ja auch: Kein Juror hat es biografisch gelesen. Nur hinterher mancher Journalist.

Studiert haben Sie in den Achtzigerjahren in New York. Sie müssen die Ausläufer der Warhol-Ära mitbekommen haben. War das aufregend für Sie, als Malerin?
Es war lebendig, bewusstseinserweiternd, man konnte wochenlang durch Galerien streifen und hatte trotzdem erst einen Bruchteil gesehen. Ich habe bei Lehrerinnen studiert, die gehörten zur Generation, die noch auf die Straße ging, um gegen den Bau der Twin Towers zu demonstrieren, und sie dann als Realität geliebt hat. Ich habe in Brooklyn, Park Slope, in der Nähe des Prospect Park gelebt, heute ist die Gegend unerschwinglich. Vieles, was damals düster war – U-Bahnen, Plätze –, ist heute wunderbar ausgeleuchtet. Trotzdem ist etwas verschwunden.

Warum sind Sie damals weg aus New York?
Ich habe gemerkt, dass mein Deutsch sich verflüchtigt. Das hat mich wahnsinnig erschreckt.

Was wäre so schlimm daran gewesen, für Sie als Malerin?
Für mich wächst die Sprache mit der Wahrnehmung. Und da habe ich gedacht, dass das alles jetzt bei null beginnen müsste. Aber das ging nicht. Die Art meiner Wahrnehmung war zu sehr mit meiner Sprache verzahnt. Und in diesem Sprachgemisch, das dann unwillkürlich aus meinem Mund kam, hinkte das eine dem jeweils anderen mehr und mehr hinterher. Ich habe gedacht, dass ich nicht mehr frei denken kann. Schreckliches Gefühl. Ich wollte dann nur für ein Jahr zurückgehen. Bin aber irgendwie hängen geblieben.

Ich vermisse es nicht, mir selbst als Teenager zu begegnen

1992 gewann sie als 31-Jährige in Klagenfurt den Bachmann-Preis mit einer Geeschichte über eine 31-Jährige, deren Verhältnis zum Vater von inzestuösen Leidenschaften geprägt ist.

Wann war das?
1987.

In, ausgerechnet, Frankfurt.
Ja.

Hätte Berlin nicht nähergelegen?
Vielleicht. Aber ich hatte ja bereits in einer Stadt mit wahnsinniger Energie gelebt. Ich war nicht auf der Suche nach einem neuen Lebensanfang, auch nicht nach einer Stadt, die all das Erlebte noch überbieten könnte. Also kam ich nach Frankfurt: nicht aufregend und nicht hübsch, aber gut gelegen und nicht so kalt. Und letztlich sitze ich hier wie dort in meinem kleinen Zimmer, an meinem kleinen Schreibtisch, und mache meine Arbeit.

In Ihren Geschichten beleuchten Sie Beziehungen in verschiedenen Konstellationen: Freundin und Freundin, Eltern und Kinder, Mann und Frau. Igeln Sie sich ein, wenn Sie sie aufschreiben, oder suchen Sie Gesellschaft?
Ich gehe gern mit Menschen um, bin niemand, der sich abschottet. Eine Weile lang bin ich sogar regelmäßig zu Massenveranstaltungen oder überfüllten Orten gegangen, auf die Frankfurter Zeil etwa oder in die Kaufhäuser, weil ich dachte, ich muss mich dieser vereinnahmenden Realität stellen, weil ich dahinter immer noch irgendetwas vermutete. Das tue ich jetzt nicht mehr.

Ist es Ihnen wichtig, mit vielen Generationen in Kontakt zu sein?

Eigentlich schon. Mit der mir direkt folgenden Generation bin ich es, weil ich keine Kinder habe, eher auf eine permanent hinterfragende Art. Ein bisschen schade. Andererseits kann ich mich gut erinnern, wie ich auf die Eltern losgegangen bin. Ich vermisse es nicht, mir selbst als Teenager zu begegnen, eher der heutigen, rücksichtsvolleren Variante. Es gibt Situationen, in denen man sich Kinder wünscht, und andere, in denen man erleichtert ist, dass es ist, wie es ist. Ich denke, es wäre schwer, in meinem Leben alles unter einen Hut zu bringen. Ein Kind ist für mich etwas sehr Ausschließliches.

Sie sind als zweitjüngste von vier Schwestern aufgewachsen – Johanna und Theresia, die auch schreiben, sowie die Schauspielerin Franziska. Wie hat Sie das geprägt?

Von Anfang an war klar: Ich bin nicht allein auf der Welt – im Guten wie im Schlechten. Man liebt und hasst, und auf jeden Fall lernt man viel voneinander.

Wären Sie heute gern Kind?
Ich weiß nicht. Es prasselt sehr viel auf die Kinder ein. Die wunderbarsten Momente meiner Kindheit waren die, als ich mit unserem Cockerspaniel im staubigen Kies im Hof lag, da war nichts sonst, und das war schön. Ich durfte mir noch die Füße verbrennen auf dem heißen Teer. Ich habe das Gefühl, dass die Eltern ihren Kindern heute weniger gestatten, sich von allein zu entwickeln, sie sollen ständig optimiert und strukturiert werden.

Beschäftigen Sie sich mit dem Älterwerden?
Es beschäftigt sich eher mit mir. Ich habe es nicht als mein zentrales Thema auserkoren. Mich interessiert die Zeit, die Vergänglichkeit, aber mehr noch der Augenblick. Der Augenblick, den man beim Schreiben so unendlich ausweiten kann.

Weil genau das verhindert, dass man zu viel über Dinge wie Alter nachgrübelt?

Wenn die Spanne, die man vor sich hat, schrumpft, und die, die man hinter sich hat, wächst, versucht man, das nachzuempfinden, und denkt: Jetzt bin ich hier. Die Wahrnehmung im Jetzt, dieses Flüchtige, nicht Greifbare: sich das zu vergegenwärtigen, das hat schon in meinen früheren Texten eine Rolle gespielt. Und diese Vorstellung, dass das Jetzt existieren könnte, turnt mich an, auch wenn ich weiß, dass es nur eine Illusion ist. Aber ich habe Illusionen gern.

Ich dachte früher immer, ich brauche das Meer

Vater und Tochter Walser stellen 2007 in einer Münchner Galerie Zeichnungen vor, die Alissa Walser für den ersten Gedichtband ihres Vaters, Das geschundene Tier, angefertigt hat. Die Gedichte erschienen zu Martin Walsers 80. Geburtstag

Sie arbeiten auch als Übersetzerin, haben zum Beispiel die lebensverzweifelte Sylvia Plath ins Deutsche übersetzt. In Ihren eigenen Texten schneiden Sie Trauriges an – aber es wird nie schlimm. Stimmt das Gefühl: Es schreibt ein glücklicher Mensch?
Die Abscheulichkeiten des Lebens interessieren und treffen mich nicht weniger intensiv als das Glück. Für mich ist es aber lebensnotwendig, entschieden zu haben, dass der erste Impuls zu einem Text ein klares Ja ist. Man begegnet, wie Sylvia Plath sagen würde, während des Schreibens immer auch seinen eigenen Dämonen, und es gibt keinen, der einem sagt, wie man damit umgehen soll. Das muss man rausfinden.

Und, wie machen Sie das?
Ich finde immer Punkte, wo ich Kraft herbekomme. Ich gucke auf das Fell meines Hundes, seine hübsche gefleckte Schnauze und freue mich. Kleine Sachen, die ich wichtig nehme, die sehr viel bewirken und verschieben können in meiner Wahrnehmung. Ich dachte früher immer, ich brauche das Meer. Inzwischen finde ich das Schöne auch in Hotellobbys, im Zug, im Regenwald – das Leben hat immer solche Hebelwirkungen für mich bereit.

Da Sie auch einen anderen kennen – was ist das Beste an diesem Beruf?
Das Schöne ist, dass man etwas herstellen kann, ohne diesen riesigen Aufwand an Material, bei dem bei mir, noch bevor das Werk fertig ist, das schlechte Verbrauchergewissen angesprungen ist. Wenn mir früher als Kind langweilig war und es war ein toller Winter, bin ich raus und habe ein Schneepferd gebaut. So hoch, dass ich draufsitzen konnte. Am Hals war es schwierig, der brach manchmal ab, aber es gab Schneeverhältnisse, in denen es gelang. Und dann stand es da, und ich konnte draufklettern und von oben runterschauen. Ein erhebendes Gefühl. Beim Schreiben geht es mir ähnlich. Das ist vielleicht ein nicht ungefährliches Bild; aber ich habe das Gefühl, meine Welt würde dadurch weiter und schöner.

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Bio:

Alissa Walser

* 24. Januar 1961

Alissa Walser schultert ihr etwas kompliziertes Erbe – schriftstellernde Tochter eines Superschriftstellers zu sein – erfolgreich, ziemlich anmutig und sehr diskret. Sie kam am Bodensee zur Welt, als Tochter von Martin und Käthe Walser, studierte Malerei in Wien und New York. Sie hat drei Schwestern und, wie seit 2009 offiziell, einen Halbbruder, den Journalisten Jakob Augstein. Ihre Geschichten haben einen intimen, leise humorvollen Ton und wurden von der Kritik hoch gelobt. 2010 erschien ihr erster Roman Am Anfang war die Nacht Musik, 2011 ihr Kurzgeschichtenband Immer Ich (bei Piper). Alissa Walser ist mit dem Lyriker Sascha Anderson verheiratet.

Foto: Diana Djeddi, dpa, privat, Gert Eggenberger