Die 100-jährige Clare Hollingworth

Die Angst hat sie immer vom Sterben abgehalten, sagt die ehemalige Kriegsreporterin. Am liebsten würde sie gleich wieder losziehen.


Hundertjährige Kriege, die gibt es. Von hundertjährigen Kriegsberichterstattern hört man dagegen selten. Viele Reporter, die sich, nur mit Notizblock und Kamera bewaffnet, auf die Schlachtfelder des 20. Jahrhunderts begaben, kamen auf ihnen früh ums Leben.

Im Foreign Correspondents’ Club in Hongkong hängen die Porträts von einigen der berühmtesten: Robert Capa (starb mit 40 Jahren im 1. Indochina-Krieg), Larry Burrows (kam 44-jährig bei einem Hubschrauberabsturz in Laos ums Leben), Kyoichi Sawada (mit 34 in Vietnam gestorben).

An diesem Nachmittag im Januar 2012 sitzt Clare Hollingworth im Clubsessel unter den Bildern ihrer Kollegen und spitzt die Ohren. Die alte Dame mit dem grauen Dutt und den pinkfarben lackierten Fingernägeln kommt nicht nur zum Teetrinken her. Sie ist seit Jahren blind, aber sie hört noch recht gut, und im berühmtesten Presseclub Asiens kann man immer eine gute Geschichte aufschnappen und so mitkriegen, was in der Welt passiert.

Meistgelesen diese Woche:

SZ-Magazin: Frau Hollingworth, Sie haben sich als Kriegsreporterin ständig in Gefahr begeben. Haben Sie nie Angst gehabt?
Clare Hollingworth: Angst? Ich habe mehr Angst, in einem Aufzug stecken zu bleiben, als vor irgendwas sonst. Das ist mir einmal passiert, und ich habe eine Stunde gebraucht, um da wieder rauszukommen.

1946 sind Sie dem Terroranschlag auf das »King David«-Hotel in Jerusalem ganz knapp entkommen. Stimmt es, dass Ihre Mutter Sie daraufhin enterben wollte?

Sie hat gesagt: »Clare, du machst uns unglücklich, wenn du dich immer in Gefahr begibst.« Ich habe geantwortet: »Ja, aber mich mache ich glücklich damit.«

Und nun sind gerade Sie 100 Jahre alt geworden. Wie haben Sie das geschafft?

Ich habe in meinem Leben zu viele gefährliche Situationen erlebt. Aber die Gefahr reizt mich immer noch, und das wird sich bis zu meinem Tod auch nicht ändern. Ich sage Ihnen eins: Wenn heute hier ein Krieg ausbricht, dann werde ich mich auf die Beine machen, um dabei zu sein. Kriege sind so interessant. Sehr interessant.

Clare Hollingworth Anfang der Sechzigerjahre vor einem Jagdbomber der Royal Air Force in Aden.

Was ist an Kriegen interessant?
Die Frage, wer gewinnt.

Aber warum wollen Sie mit 100 Jahren noch einmal an die Front?

Natürlich will ich nicht, dass Menschen sterben. Aber ich möchte noch einmal Kämpfe sehen. Die Angst spüren.

Wieso?
Weil die Angst mich vom Sterben abhält. Sagt jedenfalls mein Arzt. Na ja, er sagt nicht, dass sie mich ganz davor bewahrt, aber dass sie den Tod hinauszögert.

Clare Hollingworth war die erste Reporterin, die am 1. September 1939 den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aus Polen meldete. Knapp eine Woche zuvor war die 27-Jährige vom Londoner »Daily Telegraph« als Journalistin angeheuert und nach Kattowitz geschickt worden. Kaum in Polen angekommen, wagte sie sich mit der Dienstlimousine des britischen Generalkonsuls ins deutsche Grenzgebiet vor, wo sie, zwischen Hindenburg und Gleiwitz, ein Großaufgebot getarnter Wehrmachtspanzer entdeckte.

Am 31. August unternahmen auf Hitlers Befehl SS-Männer in Zivil einen fingierten Angriff auf den deutschen Sender Gleiwitz – eine von mehreren Aktionen, die als Vorwand für den Truppeneinmarsch in Polen dienten. Am 1. September war es so weit. Hollingworth rief die britische Botschaft in Warschau an und meldete die deutsche Invasion. Ihre Landsleute wollten ihr nicht glauben – bis sie den Telefonhörer aus dem Fenster hielt. Das Donnern deutscher Panzerketten überzeugte die Briten. Hollingworth setzte noch schnell einen Bericht für ihre Zeitung ab und brachte sich mit einer abenteuerlichen Flucht vor den Deutschen in Sicherheit.

Sie haben unvorstellbare Grausamkeiten erlebt und darüber geschrieben, zum Beispiel das Massaker der Eisernen Garde an den Juden von Bukarest 1941.

Das war grauenhaft. Die Eiserne Garde war eine faschistische, antisemitische Partei, die mit dem Kriegseintritt Rumäniens die Juden umbrachte.

Wenn die Männer mich nicht ins Bett kriegen wollten, haben sie mich wie einen der ihren behandelt

Als junge Frau, im Jahr 1931, bevor sie überhaupt journalistisch tätig wurde.

Wie lebt man mit solchen Erinnerungen?
Ich mache kein Aufhebens darum, dass ich Kriegsreporterin war. Wenn jetzt jemand hier reinkäme und mich erschießen würde, könnte ich nichts daran ändern. Aber wenn er einen anderen in diesem Raum erschießen würde, könnte ich eine große Geschichte darüber schreiben.

Muss man sich immer gleich in die Schusslinie werfen, um als Reporter an große Geschichten zu kommen?
Ich gebe Ihnen einen Rat, junger Mann: Wann immer Sie irgendwo eine Gefahr sehen und es ist noch niemand da, stürzen Sie sich drauf, und gehen Sie hin. Und wenn schon wer da ist, sagen Sie ihm: Warten Sie, ich werde sehen, ob ich Ihnen helfen kann. Wo leben Sie?

In Deutschland.
Ah, sehr gut. Dann gehen Sie in die nächste Kneipe oder ein Café, einen Ort, wo die Leute frei sprechen, und fragen Sie: »Wer hier war im letzten Krieg?« Geben Sie eine Runde aus, und die Leute werden reden.

Sie halten es mit Hemingway, Alkohol hilft immer?

Immer. Haben Sie es schon mal ausprobiert?

Sie meinen: an mir?
Nein. Haben Sie schon mal Leute eingeladen und ihnen dann zu viel eingeschenkt?

Gelegentlich, aber verraten Sie es niemandem. Kriegsreporter gelten ja als legendäre Etappensäufer. Wie war das als einzige Frau unter all den Männern?

Manchmal habe ich viel getrunken, vor allem französischen Wein, manchmal nicht. Wenn ich schlechte Laune hatte, weil meine Geschichte nicht rechtzeitig in der Redaktion ankam, habe ich viel getrunken. Wenn sie mich nicht ins Bett kriegen wollten, haben die Männer mich wie einen der ihren behandelt.

Sie waren ja verheiratet. Sie haben sogar früh geheiratet, aber darauf bestanden, Ihren Geburtsnamen im Pass zu führen.

Ja, ich war eine der ersten Frauen in England, die nach der Heirat ihren Mädchennamen im Pass weiterführen durften.

Warum war das wichtig für Sie?
Weil ich es scheußlich gefunden hätte, erst einen Namen zu haben und dann einen anderen.

Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?
Nein, ich bin nur ich. Ich tue, was ich für richtig halte – oder was besser für mich ist.

Aus Ihrer persönlichen Erfahrung eines Jahrhunderts: Wiederholt sich die Geschichte, oder können wir aus ihr lernen?
Wir müssen aus ihr lernen, auch wenn das manchmal schmerzhaft ist. Ich habe viele Lügen gehört in meinem Leben, und ich war so blöd, die Lügen, die man mir erzählt hat, in einem Buch aufzuschreiben.

Sie meinen, man muss erst mal begreifen, was wahr und was unwahr ist, und lernt daraus?
Das Buch mit den Lügen habe ich hier im Keller aufbewahrt, aber jemand hat es weggeworfen.

Welche Lügen meinen Sie?

Hier verlässt Clare Hollingworth das Thema und erzählt stattdessen von den »zwei t: typewriter and toothbrush«, Schreibmaschine und Zahnbürste, die alles seien, was sie für ihre Arbeit brauchte. Nach dem Krieg machte sie den Pilotenschein und entlarvte den britischen Geheimagenten Kim Philby als russischen Spion. Sie begleitete Frankreichs Präsidenten de Gaulle auf Besuch in Algerien und aß mit dem chinesischen Premier Zhou Enlai in Peking. Sechs Jahrzehnte berichtete sie aus Krisen- und Kriegsregionen, vom Balkan, aus Palästina, Algerien, Vietnam, China.

1968 als Korrespondentin des "Daily Telegraph" in Saigon.

Schlafen Sie immer noch mit dem Pass unterm Kopfkissen?
Aber sicher, ich bin immer bereit.

Glauben Sie, Sie hatten einen Schutzengel auf den Schlachtfeldern?
Nein. Ich glaube an Gott, aber ich denke, er hat genug andere Leute, um die er sich kümmern muss. Ich hoffe nur, dass er mich noch ein paar Jahre leben lässt. Ich bete jeden Tag dafür.

Welche Vorteile hat das Alter?
Bis jetzt habe ich keine entdeckt.

Ihren Humor zumindest haben Sie nicht verloren, oder?

Ein Glück, dass es wenigstens etwas gibt, was ich nicht verloren habe.

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Bio:

Clare Hollingworth

* 10. Oktober 1911

Bevor die Britin eine der großen Kriegsreporterinnen des 20. Jahrhunderts wurde, schickten ihre Eltern sie auf die Hauswirtschaftsschule. Aber das Leben als Hausfrau auf dem Lande war nichts für sie. Sie studierte slawische Sprachen in London und Zagreb, fing als Reporterin beim "Daily Telegraph" in London an und meldete im September 1939 aus Polen als Erste den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. 1936 heiratete sie zum ersten Mal, lebte ab 1945 aber mit einem Kollegen zusammen, den sie 1952 heiratete, nachdem ihr erster Ehemann ein Jahr zuvor die Scheidung eingereicht hatte. Der Grund: »desertion« – was auch Fahnenflucht bedeutet.

Foto: Michael Wolf, Pearl Freeman, Clare Hollingworth Private Collection