"Schönes gehört nun mal restauriert"

Sie ist 80 und steht seit 66 Jahren als Model vor der Kamera: Carmen Dell'Orefice über die Grenzen der Natur und die Kunst, sich in einer Männerwelt zu behaupten.

Foto: Getty Images/Andrew H. Walker

Wer Carmen Dell’Orefice erlebt, bekommt unweigerlich Lust, alt zu werden. Nicht weil sie – weiße Haargischt auf dem Haupt von biegsamen Einsfünfundsiebzig – so herausragend aussieht, und das nicht nur für eine Achtzigjährige. Was einen sofort in ihren Bann zieht, ist ihre Wachheit: die Reaktionsschnelligkeit einer Katze, ohne deren misstrauisches Lauern. Und selbst mitten in einem anstrengenden Fotoshooting, nach Stunden in einer eiskalten Ruine Brandenburgs, nur ein schulterfreies Ballkleid tragend und mit Jetlag in den Knochen, bleibt sie hoch konzentriert.

Kein Wunder, dass sie als dienstältestes Supermodel gefeiert wird – seit sie 14 war, steht sie vor der Kamera, darunter vor denen von Fotografenlegenden wie Irving Penn, Cecil Beaton, Richard Avedon, Horst P. Horst, Arthur Elgort, Norman Parkinson und Helmut Newton. Die New Yorkerin mit italienischen und ungarischen Wurzeln ist bis heute in der von Jungen besessenen Modewelt begehrt: Die Mutter einer 56-jährigen Tochter erschien auf etlichen »Vogue«-Titelseiten, warb in den letzten Jahren für Rolex, Gap, Elizabeth Arden; führte die Kollektionen von Alberta Ferretti und Jean Paul Gaultier vor. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass sie unzählige Männer schwach werden ließ. Sie habe tatsächlich nichts anbrennen lassen, sagt sie, so wie sie sich in jeder ihrer drei (geschiedenen) Ehen vollen Herzens verausgabt habe. Sowieso scheint sie eine Frau zu sein, die einzig eins nicht beherrscht: die halbe Sache.

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SZ-Magazin: Frau Dell’Orefice, woher nehmen Sie Ihre unglaubliche Energie?
Carmen Dell'Orefice: Es geht darum, sich zu entscheiden, sich ein Ziel zu setzen – und zu fragen: Wie kommst du da hin? Nichts im Leben ist umsonst. Also brauchst du viel Selbstdisziplin, um es zu erreichen.

Haben Sie keine Ermüdungserscheinungen nach 66 Jahren im Modebusiness? Ich fühle mich heute jünger als damals mit 14, als ich anfing zu modeln. Damals war ich eine kleine alte Lady. Ich hatte eine sehr bodenständige Kindheit: Ich war allein mit meiner Mutter, wir waren arm und hatten oft Hunger. Mir war früh klar, was die Wirklichkeit von mir verlangt – was ich zu tun habe, wenn ich durchkommen will.

War der Sprung in die Modewelt dadurch nicht gewaltig?
Ich wurde Ende August 1945 im Bus entdeckt, auf der 57. Straße in New York, als ich von der Tanzschule kam. Es war eine höchst glückliche Wendung: Ich habe es immer geliebt, durchs Modeln für ein paar Stunden in meine Fantasiewelt zu springen. Eine stumme Schauspielerin sein zu können. Und ich lernte dadurch früh, was ich nicht will und nicht brauche.

Nämlich?
Keine Diamanten. Ich brauche es warm, und ich muss tun können, was ich will. So schön die Kleider von Dior und all den anderen Designern waren – nichts davon wollte ich wirklich.

Wem verdanken Sie Ihre Schönheit?
Den Knochen meines Vaters – sind die nicht wunderbar? Danke, Papa! Ich passe nur auf sie auf.

Empfinden Sie Ihrem Körper gegenüber Verantwortung?
Notgedrungen. Mir ist bewusst, dass ich nicht arbeiten kann, wenn mein Körper verkommt. Meine Gebrechen würden ein ganzes Buch füllen.

Das hat früh angefangen: Sie lagen mit 13 ein Jahr lang mit rheumatischem Fieber im Bett.

Das war mein erster Tod. Ich war ein sehr trauriges Kind, das unbedingt froh sein wollte. Durch einen glücklichen Zufall geriet ich in die Hände von Emigranten, die dem schrecklichen Krieg entkommen waren: Alex Liberman – Artdirector der Vogue –, Cecil Beaton, Horst P. Horst, Erwin Blumenfeld, der noch seine KZ-Tätowierung auf dem Arm hatte. All diese Männer waren echte Künstler – sie lebten ihre Kunst, und sie brachten mir bei, was sie in mir sahen.

Was sahen sie?
Durch sie begriff ich, dass sich das Gehirn ständig wandelt und damit der Blick auf die Dinge und auf einen selbst. Ich schaue jeden Morgen in den Spiegel und sage: Hallo, Fremde! Jeden Morgen entdecke ich eine andere im Spiegel.

Dann wirds Ihnen nie langweilig mit sich?
Ich bin ein Stück »Art in Progress«. Regisseurin, Drehbuchschreiberin, Darstellerin in einem. Mein Leben ist fantastisch.

Haben Sie viele Freunde?
Nur sehr wenige. Eileen Ford, die gerade 90 geworden ist, ist seit 64 Jahren meine Mentorin und beste Freundin. Als sie nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Modelagentur gründete, begann meine Lebensschule. Denn was wusste ich schon, etwa vom Krieg? Dass die Jungs aus meinem Quartier, die Sullivan-Brüder, im Schiff untergegangen waren; dass sich aus der Silberfolie der Zigarettenpackungen Tiere basteln ließen – das war alles, was ich kannte.

Sie machen einen angstfreien Eindruck. Liegt das auch an Ihrer frühen schweren Krankheit?
Ich habe meine Mutter und die katholische Kirche überlebt. Seitdem kann mich nichts mehr umhauen.

Erinnerungen der Carmen Dell'Orefice

1946 - Ein Jahr nachdem Carmen Dell'Orefice in New York entdeckt wurde, entstand dieses Bild für die amerikanische Vogue, fotografiert von Cecil Beaton. (Herzlichen Dank an Visage Management Zineta Blank)

Gehen Sie heute leichtfüßiger durchs Leben als zu Ihren Teenagerzeiten?
Ich glaube ja, weil ich heute mehr übers Leben weiß. Meine Fehler mache ich aber lieber im Stillen, ich muss sie nicht hinausposaunen.

Einen großen Fehler allerdings haben Sie öffentlich gemacht: Sie haben Ihr ganzes Geld Bernie Madoff anvertraut.
Ja, aber das zuzugeben ist leicht, weil jeder materialistisch ist. Nur besteht heute die ganze Welt aus Schwindlern. Die wissen jetzt, dass sie sogar auf der höchsten Ebene mit ihren krummen Dingern durchkommen: Sie betrügen legal, weil sie in Princeton und Harvard waren. Es ist wie bei des Kaisers neuen Kleidern. Als mir das passierte, was andere als Katastrophe bezeichneten, hielt ich inne und fragte mich, was das jetzt für mich heißt. Was mir an Möglichkeiten bleibt.

Keine Reue?
Es ist wie in einer Ehe – man versucht es mit aller Kraft und Leidenschaft und mit den besten Absichten, und wenns schiefgeht, lernt man wieder was dazu.

Es muss doch eine enorme Enttäuschung für Sie gewesen sein, nachdem Sie sich mit Madoff gut befreundet wähnten.
Es war ein ungeheurer Schock! Ich war so eng mit ihm – für meinen damaligen Lebensgefährten Norman F. Levy war Madoff wie ein Sohn, er war Teil von dessen Familie. Ich habe das vor ein paar Jahren alles Vanity Fair erzählt, aus einem Grund: Ich wollte meiner Branche signalisieren: Ich bin wieder da, ich stehe zur Verfügung.

Hatten Sie nie das Bedürfnis, sich zur Ruhe zu setzen?
Ich setze mich jede Nacht, wenn ich schlafen gehe, zur Ruhe, das reicht. Ich bin früh genug tot. Also will ich jeden Tag noch in vollen Zügen leben.

Ist Ihnen der Gedanke, mit 80 nicht mehr viel Zeit zu haben, ständig präsent?
Und ob! Denn ich glaube nicht, dass ich die Erste bin, die ewig lebt. Deshalb versuche ich allen, die es hören wollen, klarzumachen: Beeil dich und lebe – das hier ist keine Generalprobe.

Planen Sie Ihre Beerdigung?
Ich würde die Bestattungsinstitute gern arbeitslos machen und will noch im Tod nützlich sein. Ich bin Organspenderin – es wäre gut, wenn ich der Welt einiges hinterlassen würde, meine Leber, meine Augäpfel, man soll alles nehmen, was noch intakt ist, und den Rest in den Mülleimer schmeißen.

Sie hinterlassen der Welt auch eine Unmenge großartiger Modefotos, sogar ein Bild von Dalí, dem Sie Modell standen. Was ist das schon?
Dalís Bild von mir habe ich übrigens nie gesehen, obwohl ich bis zu seinem Tod mit ihm in Verbindung blieb. Ich war 14, als er mir nach einem Shooting bei einem Mittagessen im Restaurant vorgestellt wurde.

Wie haben Sie ihn in Erinnerung?
Als wirklich sehr exzentrisch. Er sprach Englisch mit mir, obwohl alle behaupteten, er könne es nicht – zwar gebrochen, aber er sprachs. Ich stand ihm oben ohne Modell, aber ich war eh flach wie ein Brett. Er war ins Malen versunken, und nur wenn ich meinen steif werdenden Hals bog, rief er: Halt still, bloß nicht bewegen!

Stimmt es, dass Ihnen erst eine Hormontherapie die weiblichen Rundungen brachte?
Ja, Irving Penn war so besorgt, dass ich – verhungert wie ich aussah – die Aufnahmen mit ihm nicht durchstehen würde. So hat der Hausarzt der Vogue mir Eisenpräparate und Hormone verschrieben. Sonst hätte ich nie meine Periode bekommen. Wie glücklich war ich, als meine Titten endlich wuchsen!

Sie haben damals Ballett getanzt.
Ja, was mir niemand zugetraut hat, weil ich so kraftlos und mager aussah. Ich habe mich fast zu Tode getanzt; mein Körper hat sich selbst aufgefressen. Als ich mit dem Tanzen aufhören musste, hat es mir das Herz gebrochen.

Würden Sie heute noch halb nackt posieren?
Das habe ich hinter mir. Innen drin bin ich zwar immer noch 13 oder 14, aber der Großteil von mir ist 80 – man könnte sagen, es fühlt sich irgendwie an, als wäre ich meine eigene Großmutter. Aber ab einem gewissen Alter ist es sowieso ratsam, den BH anzubehalten.

Der Umgang mit dem Alter

Wieder einer der weltbesten Fotografen, nämlich Richard Avedon für Harper's Bazaar. (Herzlichen Dank an Visage Management Zineta Blank)

Sie sind immer sehr offen mit Ihrem Alter umgegangen, haben sogar öffentlich zugegeben, sich jeden Tag die Barthaare am Kinn auszupfen zu müssen. Sie haben auch nie einen Hehl daraus gemacht, Ihrer schwindenden Jugend früh nachgeholfen zu haben.
Warum sollte ich? Schönes gehört nun mal restauriert. Mir hat mit Ende 30 ein hervorragender Arzt Silikon gespritzt gegen die Falten im Gesicht. Er war seiner Zeit damit weit voraus: In Wahrheit muss Silikon in die Haut, nicht Botox! Silikon wirkt in der Haut wie das Sandkorn, das in einer Auster die Perle bildet – das regt das Collagen an.

Würden Sie sich liften lassen?
Sicher! Ich lebe davon, wie ich aussehe – für mein Wohlbefinden brauche ich es aber nicht.

Das heißt, Ihre Falten stören Sie nicht?
Überhaupt nicht, solange ich genug Geld auf dem Konto habe und die Jobs nicht ausbleiben. Nur wenns zu hässlich wird – das Bild einer hässlichen Alten will ich nicht abgeben. Sondern das einer alten Frau, die nach wie vor begehrenswert ist.

Welche Eigenschaften braucht man, um gut altern zu können?
Man muss aufmerksam sein und nachdenklich. Das Denken ist ein Vergnügen und eine herrliche Form von Freiheit.

Sind Sie gläubig?
Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten. Am Tag vor meiner Kommunion, als ich elf war, begriff ich, was das alles für ein Riesenbeschiss ist. Es war ein Samstag, und wir probten für die Kommunion. Wir standen in einer Reihe, und ich fragte den Pfarrer, den ich gut kannte: Vater, Vater, was heißt das, das Rote Meer teilte sich, und Christus ging über Wasser – das kann doch niemand! Er schaute auf mich herab und sagte: Carmen, zurück in die Reihe, du versündigst dich! Du wirst Gott um Vergebung bitten, sonst wirst du morgen nicht zur Kommunion zugelassen.

Und dann?
Ich lief mit dem Gedanken »Wie kann das eine Sünde sein?« nach Hause, wo meine Mutter alles für die Kommunion vorbereitete. Sie hat mich gefragt, warum ich schon zu Hause sei. Ich habe nur gesagt: Ich mach das nicht. Worauf meine schlaue Mutter sagte: Musst du auch nicht. Und das wars dann.

Haben Sie als kluge Frau unter der Oberflächlichkeit des Modebetriebs gelitten?
Die habe ich immer sehr genau erkannt, aber ich liebe das Metier: Ich habe mich für die Verarbeitung der Kleider interessiert, ich habe sie auf der Maschine mei-ner Mutter nachgenäht – Vogue-Schnittmuster waren damals eine große Sache. Mode ist wunderbar, weil sie uns daran erinnert, dass das Leben Spaß ist. Und wir uns neu erfinden können.

Trotzdem müssen Sie gewusst haben, dass es im Leben um mehr geht als um Spaß.
Mein Lieblingswort im Leben heißt Balance. Die zu halten ist schwer, aber auch das kann Spaß machen. Ich hätte alles auch fürchterlich finden können, wenn ich mir ständig vergegenwärtigt hätte, was ich alles zu bewältigen habe. Aber ich weiß, die Welt ist plemplem – und ich bin sicher, auf meine Art bin ich es auch.

Wenn Sie heute neben lauter 16-Jährigen über den Laufsteg gehen: Fühlen Sie sich da einsam?
Im Gegenteil, ich freue mich, dass sie noch alles vor sich haben. Ich denke nur: Hoffentlich mögen sie, was sie tun. Hoffentlich kriegen sie raus, wo ihr Platz ist in dieser Modewelt, die sich wie eine Waschmaschine unaufhörlich dreht. Sie müssen sich unbezahlbar machen, indem sie etwas Besonderes, Einzigartiges anbieten – und das gelingt bloß, wenn man auf ein tiefes Selbstvertrauen bauen kann.

Wie hat sich das Geschäft verändert?
Es ist hässlich geworden, voller Ego. Um die Mädchen kümmert sich niemand, sie sind traurig, sie hungern. Sie ruinieren ihre Gesundheit ungeheuer früh. Deshalb bewundere ich jemanden wie Anna Wintour – sie begleitet die Mädchen tatsächlich in ihrer Entwicklung.

Waren Sie zu solchen Zugeständnissen, etwa Dauerhungern, für die Karriere bereit?

Ich war mal dicker, mal dünner, habe auch mal keinen Sport gemacht, etwa nach der Geburt meiner Tochter. Da habe ich einfach mehr Katalogarbeit gemacht oder für Flanellpyjamas geworben. Ich war auf den Titelbildern der großen Modemagazine – doch das hat mir nichts bedeutet. Ein guter Auftrag hat es mir ermöglicht, meiner Mutter ein Haus zu kaufen oder meinem Mann ein Rennpferd.

Ist es für Frauen heute schwerer oder leichter geworden?
Leichter. Frauen meiner Generation konnten Krankenschwester werden, vielleicht noch Lehrerin oder Nonne – aber die Decke zu durchstoßen war schwer. Heute haben die Frauen erreicht, was sie wollten, nur kommen die Männer nicht hinterher. Die
bedauern, dass sie nicht länger das Spiegelbild ihrer Mütter vorfinden.

Glauben Sie ehrlich, dass Männer das wollen?
Aber sicher. Eine Mutter, die man vögeln kann.

Und was wollen die Frauen?
Die wollen nicht mehr nur versorgt sein, nicht bloß geheiratet werden. Sie überlegen sich genau, ob sie von dem einen kriegen, was sie sich wünschen, anstatt sich mit dem, was sie bekommen, zufriedenzugeben. Sie haben seltener Angst, allein zu bleiben.

Sie haben viele spannende, reiche Männer kennengelernt.
Ja, auch ein Vanderbilt war dabei. Aber Mogule können mich nicht beeindrucken. Mich interessiert nur, ob wir miteinander Spaß haben können, dieselbe Sprache sprechen. Ich war nie auf der Suche nach einem Mann. Und ehrlich, viele dieser spannenden Männer kamen mir damals nicht besonders spannend vor.

Haben Sie die falschen ausgesucht?
Ich habe mir die herausgepickt, die ich wollte. Es heißt ja nicht umsonst: to fall in love.

Weil man den Boden unter den Füßen verliert?
Du brichst dir beim Fallen vielleicht die Hüfte oder sogar das Genick. Fallen bedeutet Schmerz. Also muss man etwas anderes anstreben: to be in love. Und das erfordert viel Arbeit.

Ist Sex heute noch wichtig?
Für mich? Na, hören Sie, spielt Atmen noch eine Rolle?

Gibt es einen Mann an Ihrer Seite?
Natürlich ist da ein Mann. Es reicht, dass ich auf einiges verzichten muss im Alter – auf die Liebe verzichte ich nicht.