Die Gewissensfrage

Darf man seine Schwester ärgern, obwohl sie dadurch traurig wird? Für eine Achtjährigen eine wichtige Frage. Denn wenn er sie ärgert, hat er selbst Spaß. Seine Schwester aber nicht.

»Es macht mir großen Spaß, meine Schwester zu ärgern. Wenn ich sie ärgere, dann wird sie meistens traurig. Wenn ich sie nicht ärgere, ist sie fröhlich. Nur habe ich dann keinen Spaß. Was soll ich tun?« Jakob D., 8 Jahre, Nürnberg

»Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.« Die goldene Regel kennst du sicher, und da scheint es ganz einfach: Bestimmt willst du selbst nicht geärgert werden, deshalb darfst du deine Schwester auch nicht ärgern. Nun ist dir aber etwas sehr Kluges aufgefallen: Die Regel gilt natürlich auch für deine Schwester, und wenn deine Schwester nicht will, dass man ihr den Spaß verdirbt, müsste sie einverstanden sein, dass du sie ärgerst, damit sie dir nicht den Spaß verdirbt.

Meistgelesen diese Woche:

Die goldene Regel hält einem den Spiegel vor, wenn man etwas macht, und bei der Frage, ob du deine Schwester ärgern darfst, sieht es tatsächlich zunächst so aus, als wenn es genauso ist wie im Spiegel, spiegelbildlich: Wenn du deine Schwester nicht ärgerst, ist sie fröhlich – du aber hast keinen Spaß. Umgekehrt, wenn du sie ärgerst, hast du Spaß, bist also fröhlich – aber sie wird traurig.

Nur wenn du das einmal genauer durchdenkst, wirst du bemerken, dass es gar nicht genau umgekehrt ist in den beiden Fällen. Wo sind die Unterschiede? Ich sehe vor allem zwei: Zum einen ist es so, dass deine Schwester traurig wird, wenn du sie ärgerst – sie hat also nicht nur keinen Spaß, sondern wird richtig traurig. Du hingegen wirst nicht gleich traurig, wenn du sie nicht ärgerst, sondern hast nur keinen Spaß. Was aber nicht so schlimm ist wie richtig traurig zu sein, so wie deine Schwester, wenn du sie ärgerst.

Und noch etwas macht einen großen Unterschied: Wenn du deine Schwester ärgerst, tust du ihr etwas Böses an. Das ist schlecht. Wenn du deine Schwester nicht ärgerst, weil sie das nicht will und sie sogar traurig macht, hast du zwar weniger Spaß, sie tut dir dabei aber nicht von sich aus etwas Böses an. Das ist weniger schlecht.

Wenn du dir das alles überlegst, wirst du erkennen, dass es eindeutig besser ist, deine Schwester nicht zu ärgern. Deine Frage: »Was soll ich tun?«, kann man also sehr leicht beantworten: Du sollst deine Schwester nicht ärgern. Und wenn du es nicht tust, wirst du womöglich bemerken, dass du dich mit deiner Schwester gut verstehen kannst und ihr zusammen mehr Spaß habt. Aber bitte nicht, indem ihr dann zu zweit jemand Dritten ärgert!

Quellen:

Bücher über Philosophie für Kinder und Jugendliche sind in den letzten Jahren etliche erschienen, hier sei auf einige Bücher hingewiesen, die sich speziell mit Moral und Ethik für Kinder und Jugendliche beschäftigen. Eine Einführung in die Ethik für Jugendliche und Erwachsene eingebettet in Gespräche in einer Familie bietet: Rainer Erlinger, "Lügen haben rote Ohren". Gewissensfragen für große und kleine Menschen, Ullstein Taschenbuch Verlag 2005

Stets empfehlenswert ist das sehr persönliche Buch des spanischen Philosophen Fernando Savater, "Tu, was du willst". Ethik für die Erwachsenen von morgen, Beltz & Gelberg Weinheim 2001, das ausdrücklich kein Handbuch über Ethik für junge Menschen sein will, sondern ein Brief in Buchform oder ein Buch in Briefform über Ethik und richtiges Verhalten an Savaters Sohn Amador.

Für ältere Jugendliche eignen sich: Héctor Zagal / José Galindo, "Ethik für junge Menschen", Reclam Verlag Stuttgart 2000

Ernst Tugendhat / Celso López / Ana María Vicuna, "Wie sollen wir handeln. Schülergespräche über Moral", Reclam Verlag Stuttgart 2000

Die angesprochene Problematik der Goldenen Regel wird - allerdings eher für Erwachsene - ausführlicher dargestellt in: Rainer Erlinger, "Nachdenken über Moral. Gewissensfragen auf den Grund gegangen" (Augsburger Vorlesungen), Fischer Verlag Frankfurt am Main 2012, dort das Kapitel "Was du nicht willst ... Die Goldene Regel und ihre Schwächen" S. 123 - 160

Illustration: Pascal Cloëtta