SZ-Magazin: Herr Müller-Wohlfahrt, in den kommenden drei Wochen werden Sie wieder auf das Spielfeld sprinten, wenn ein Nationalspieler am Boden liegt. Wie schnell schaffen Sie es von der Trainerbank zur Eckfahne gegenüber?
Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt: Keine Ahnung. Aber die 100 Meter konnte ich mal in 11,0 laufen.
Dann knien Sie dort ein paar Sekunden, und kurz darauf spielt der Spieler weiter - oder er wird ausgewechselt. Meist ist ein Muskel betroffen. Was machen Sie in der kurzen Zeit?
Ich lege einen oder zwei Finger an und spüre die Muskelspannung. Dann gleite ich auf dem Muskel von oben nach unten und wieder zurück, dann quer. Ganz langsam. Der Spieler zeigt mir, wenn es irgendwo mehr schmerzt. Dann habe ich das Zentrum eingekreist, jetzt kommt die Phase der höchsten Konzentration: Ich tauche quasi in den Muskel ein, finde mich in der Anatomie zurecht und kann ertasten, ob es Unregelmäßigkeiten gibt.
Sie »tauchen« in den Muskel?
Ich kenne die anatomischen Gegebenheiten der Muskulatur. Ich habe Tausende Male ertastet, wie sich ein unverletzter Muskel anfühlt. Diese Eindrücke habe ich gespeichert. Ich habe ungefähr 35 000 Muskelverletzungen diagnostiziert und im Gedächtnis abgelegt. Diese Speicherbilder, sogenannte Engramme, kann ich jederzeit abrufen.
Obwohl der Spieler sich gerade vor Schmerzen krümmt und 70 000 Zuschauer pfeifen?
Das höre ich überhaupt nicht.
Sportreporter sagen: eine Zerrung. Oder: ein Riss. Oder: ein Bündelriss. Oder: Der Muskel hat zugemacht. Er ist verhärtet. Gibt es das überhaupt alles?
Ja, das entspricht unserer Klassifikation.
In den paar Sekunden können Sie das ertasten? Ohne Ultraschall, ohne Kernspin?
Mit dem ersten Anlegen der Finger weiß ich: Die Muskelspannung ist in Ordnung. Oder: Sie ist nicht mehr im Normbereich. Die Muskeloberfläche ist von einer Faszie umgeben, einer spiegelglatten, feinen Membran. Die gleite ich ab. Spüre ich eine Unterbrechung, handelt es sich, je nach Größe, um einen Faserriss oder sogar einen Bündelriss. Spüre ich keine Unterbrechung, aber eine deutlich erhöhte, schmerzende Grundspannung, sprechen wir von einer Verhärtung. Dann besteht die Gefahr, dass der Muskel sich bei weiterer Belastung verletzt. Wenn aber - und das übersteigt vielleicht das Verständnis eines Laien -, wenn sich aber an dem Muskel ein feiner Saum Flüssigkeit befindet, dann fühlt sich das »seifig« an oder auch wie ein ein, zwei Millimeter dickes Polster zwischen Faszie und Muskeln. Ich sehe also eine leichte Verquellung und weiß: Die Nervenversorgung des Muskels ist gestört. Dadurch ist die gesunde Grundspannung nicht mehr gegeben.
Sie sehen?
Ja, ich sehe mit den Fingern - so erkläre ich es manchmal den Patienten. Das ist, als ob Sie ein Anatomiebuch aufschlagen - ich »sehe« die Muskeln einzeln und übereinander, nebeneinander. Ich muss ja auch wissen: Um welchen Muskel handelt es sich, welche Funktion hat er? Ist er besonders verletzungsanfällig? Oder ist es ein Muskel, der nicht so sehr gefordert wird? In die Beurteilung gehen auch andere Informationen ein. Zum Beispiel: Wie ist der Spieler gefallen, welche Situation hat zu der Verletzung geführt?
Wir dachten, Sie schalten während des Spiels ab, bis Sie gerufen werden.
Ich muss aufmerksamer Beobachter des Spiels sein, und ich kenne die Bewegungen eines Spielers. Wenn ich sehe, wie ein Spieler fällt, weiß ich schon in etwa, ob die Verletzung ernst ist. Udo Lattek hat mal gesagt: Doktor, du läufst ja schon, wenn die Verletzung noch gar nicht passiert ist! Sie werden sich wundern, dass ich manchmal sitzen bleibe, obwohl ein Spieler scheinbar schwer strauchelt. Aber mein Physiotherapeut Fredi Binder und ich wissen meist, da ist nichts passiert. Nichts Ernstes, der steht gleich wieder auf.
Denken Sie auch: Nicht schon wieder Robben? Oder: Ah, der Lahm, sicher nichts Ernstes?
Nein. Eher: Was ist passiert? Was könnte es sein? Aber sicherlich nicht personenbezogen.
Kommt es vor, dass ein Spieler sagt: Es geht schon wieder. Aber Sie wissen: Der muss raus?
Es gab Situationen, in denen ich den Spieler gegen seinen Willen aus dem Spiel nehmen musste. Aber das ist die Ausnahme. Ein Außenstehender merkt das nicht, aber ich kann energisch werden auf dem Spielfeld und sagen: Du kommst jetzt raus! Dann gebe ich das Zeichen zum Wechseln. Der Trainer weiß: So, da geht nichts mehr!
Sind Ihre Finger versichert?
Nein! Die Finger zeigen schon Abnutzungserscheinungen. Sie leisten Schwerstarbeit, und man sieht es ihnen an. Manchmal muss ich mit großem Druck tiefere Muskelschichten ertasten.
Dieses »Sehen« mit den Fingern - konnten Sie das schon immer?
Ich mag es nicht gern hören, dass gesagt wird: Du bist da begnadet. Ich weiß nicht, woher ich diese Fähigkeit habe. Ich meine, ich habe sie mir erworben. Durch tägliches Üben, Üben, Üben. Wie ein Pianist oder ein Violinist. Durch unendliches Üben habe ich ein bestimmtes Niveau erreicht.
Wie haben Sie geübt?
Ich untersuche jeden Patienten, ob er Rückenschmerzen hat oder Knieschmerzen, nur durch Betasten. Und speichere Gewebeeindrücke von Haut, Unterhaut, Faszie, Muskel, Gelenkkapsel, Bändern.
Da würden die meisten ärztlichen Kollegen sagen: Untersuchen und betasten - das mache ich doch auch!
Ich nehme mir sehr viel Zeit und untersuche mit höchster Konzentration, Millimeter für Millimeter. Meine Patienten sagen oft, dass sie so gründlich noch nicht untersucht worden sind.
Es gibt kein Müller-Wohlfahrt-Geheimnis?
Nein. Sie haben auch Fähigkeiten, die Ihnen nicht bewusst sind. Das lernen Sie. Ein Weinkenner spürt Weingut und Jahrgang. Wodurch? Durch konzentriertes Hinschmecken. Ich bin der Meinung, dass man vieles durch ausdauerndes Üben erlernen kann.
Dann kann jeder lernen, was Sie können?
Es gehören Intuition und Hingabe dazu. Sie müssen Freude daran haben. Und es muss für Sie eine Herausforderung sein, jeden Tag. Ich bilde mir ein, wenn ich 14 Tage Urlaub mache, muss ich mich am ersten Arbeitstag viel mehr konzentrieren, um das Tastempfinden wiederzuerlangen.
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Der blutige Turban
Müller-Wohlfahrt neben Torwarttrainer Andreas Köpke, Co-Trainer Hans-Dieter Flick und seinem Chef, Jogi Löw (von rechts). Während der EM-Vorbereitung flog Müller-Wohlfahrt mehrmals die Woche zwischen München und dem Trainingslager hin und her.
Forscher behaupten, dass Behandlungserfolge bei Patienten davon abhängen, wer sie behandelt. Ob der Arzt souverän auftritt. Wenn ja, kann er mit der gleichen Behandlung bessere Erfolge erzielen als jemand, der unsicher wirkt. Kann es sein, dass Sie auch deshalb Erfolge feiern, weil jemand das Gefühl hat: Ich bin beim Besten! Ist schon der erste Schritt getan, allein durch Ihren Namen und die Reputation?
Ganz ehrlich: Das wird so sein. Ich erlebe mich ja selbst. Ich fühle mich mittlerweile jeder Aufgabe gewachsen. Ich bekomme vor der Tür eine kurze Anamnese geschildert, Name, Alter, Werdegang, worunter leidet der Patient, weshalb kommt er, bei wie vielen Ärzten war er? Dann sage ich mir: Ja, da kann ich helfen. Ich bin sogar sicher, da kann ich helfen! So komme ich zum Patienten. Der Gesichtsausdruck, das Auftreten. Der Patient nimmt alles in Sekundenschnelle wahr: Da kommt jemand, der fühlt sich sicher, der hat keine Angst vor dem schwierigen Fall – der packt an! Und ich komme mit einem ziemlichen Schwung in das Untersuchungszimmer - wohlgemut! Das trifft es: wohlgemut. Dann kommt das Gespräch. Ich gebe dem Patienten Zeit, sich zu äußern, und Sie können fast sehen, wie er sich öffnet. Das ist, wie wenn sich gleichsam der Brustkorb öffnet und alles herausströmt. Der Patient teilt sich mit. Dann kommt die Untersuchung. Jeder Patient muss sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. Danach kommt die Berührung bei der Ganzkörperuntersuchung, und zwar so, dass der Patient spürt: Ich untersuche ihn. Und gleite da nicht oberflächlich über den Rücken. Das hilft der Beziehung zwischen Arzt und Patient sehr. Er gewinnt Vertrauen, und die Distanz zwischen Arzt und Patient wird abgebaut.
Als Sie 1977 als Mannschaftsarzt bei Bayern München anfingen - wie gut waren Sie da?
Damals verstand man unter Sportmedizin hauptsächlich Innere Medizin: Milchsäuretests, Belastungs-EKGs. Orthopäden spielten keine große Rolle. Dadurch, dass ich zu Bayern kam und neue Wege gegangen bin in der Diagnostik, in der Therapie, und immer schon im Stadion die Diagnose mitgeteilt habe, ohne Ultraschall, ohne Kernspin, habe ich ein bisschen mitgeholfen, dass die Sporttraumatologie und Sportorthopädie entwickelt wurden. Aber ich musste das lernen. Und dann war da Uli Hoeneß, der bald Manager des FC Bayern wurde und anfangs mit den Spielern mitgefahren ist in die Praxis und alles genau wissen wollte.
Er war beim Untersuchen dabei?
Ja. Und wir haben alles besprochen: Wie lange dauert das? Was meinst du, was hat er? Wann kann er wieder spielen? Ich sehe das als extreme Förderung. Uli hat mich angeschoben! Ich spürte: Er will mich! Er will mich behalten und mir Zeit geben, mich zu entwickeln.
Gab es nie das Dilemma, dass man als Arzt denkt: Der braucht zwei Monate Pause. Der Verein hat aber im Hinterkopf: am liebsten nächste Woche wieder spielen lassen!
Da habe ich das Glück, dass ich Uli Hoeneß hinter mir weiß, er sagt eher: Nimm dir die notwendige Zeit.
Der blutige Turban von Dieter Hoeneß - würde es so was heute bei Ihnen noch geben?
Ja. (Pause) Sie müssen dazu wissen, die Wunde an Dieters Stirn war sehr klein. Die Blutungen an der Kopfhaut sind aber unverhältnismäßig stark. Blutstillende Präparate, die in Sekunden wirken, gab es damals noch nicht.
Geraten Sie manchmal in eine Art Gewissenskonflikt? Sie sind Arzt bei Bayern und der Nationalmannschaft. Nun kommen Spieler aus allen möglichen Vereinen und Ländern, die Konkurrenten sind von Bayern oder der Nationalmannschaft. Gibt es das nie, dass Uli Hoeneß oder Jogi Löw sagen: Behandle den doch bitte nicht auch noch?
Niemals. Das ist zu Erich Ribbecks Zeiten grundsätzlich besprochen worden. Da wurde klar ausgemacht: Es geht uns nicht darum, dass wir gegen angeschlagene Gegner gewinnen. Wir wollen gegen den bestmöglichen Gegner gewinnen. Doktor, du hast von uns das Okay. Damit war das ein für alle Mal geklärt.
Haben Sie schon Patienten abgelehnt?
Wegen meiner vielen terminlichen Verpflichtungen beim FC Bayern, der Nationalmannschaft und gegenüber meinem großen bestehenden Patientenstamm schaffe ich es nicht immer, allen Terminanfragen und -wünschen gerecht zu werden. Aber wenn jemand um meine Hilfe bittet, bin ich generell jedem gegenüber bereit, zu helfen.
Jedem? Auch einem Kassenpatienten?
Ja. Aufgrund meiner Erziehung.
Wie sah die aus?
Ich bin dankbar, eine christliche Erziehung erfahren zu haben. 15 Jahre lang habe ich Kassenpatienten an manchen Tagen bis Mitternacht behandelt. Meine Behandlung ist sehr aufwendig. Ich nehme mir viel Zeit und wende eine umfangreiche Therapie an. Ich arbeite mit homöopathischen Mitteln, die ich zum Beispiel in Triggerpunkte und Akupunkturpunkte infiltriere. Weil diese Behandlung nicht in das normale Muster einer Patientenbehandlung passte, musste ich alle Vierteljahre zur Kassenärztlichen Vereinigung zum Rapport. Die haben mich gefragt: Warum arbeiten Sie mit so viel Aufwand? Ziehen Sie eine Bilanz, habe ich gesagt. Wenn ich drei Behandlungen mache, möchte ich erreicht haben, dass keine weiteren Behandlungen notwendig sind. Und jetzt schauen Sie, wie es bei anderen ist. Da werden Patienten immer wiederbestellt. Zehnmal Fango und Massage, noch mal zehnmal Fango und Massage. Schauen Sie, was am Ende mehr kostet. Man hat mich nicht verstanden und immer einen beträchtlichen Teil meines Honorars an jedem Quartalsende abgezogen. Nach 15 Jahren habe ich das Handtuch geworfen und gesagt: Ich kann beim besten Willen mit Kassenpatienten keinen wirtschaftlichen Praxisbetrieb führen. Nicht so, wie ich arbeite. Und dann der Ärger jedes Vierteljahr. Das hat mir den Spaß verdorben.
Morgens untersuchen Sie Arjen Robben, mittags Usain Bolt, und dann kommen wir mit Wehwehchen vom Altherrenfußball - wirken Ihre Finger auch bei uns?
Sehr gute Frage. Sie bekommen genau die gleiche Behandlung.
Durch die vielen Superbeine haben Sie keine falschen Bilder gespeichert, wenn mal ein Normalbein kommt?
Ach was! Ich lege großen Wert darauf, die gesamte Orthopädie abzudecken. Ich habe Patienten, die sind über 90. Die kommen seit 35 Jahren. Die würde ich nie enttäuschen wollen. Die waren in der alten Praxis die Ersten. 1977 kamen sie schon, und die sind mir treu geblieben. Was Schöneres gibt es nicht.
Einige Kollegen von Ihnen sind sehr kritisch und sagen, dass nicht wissenschaftlich belegt sei, was Sie tun. Ärgert Sie diese Kritik?
Leider fehlte mir für zeitaufwendige wissenschaftliche Arbeiten die Zeit, aber ich habe eine Menge Erfahrung sammeln können und mich schon immer schriftlich geäußert und Vorträge auf nationalen und internationalen Sportärzte- oder Orthopädie-Kongressen gehalten. Das Lehrbuch Muskelverletzungen im Sport, das ich vor zwei Jahren mit meinen Praxiskollegen geschrieben habe, erscheint in diesem Jahr in der dritten Auflage und auf Englisch. Schon in den Achtzigerjahren habe ich bei der neurogenen Muskelverhärtung den Flüssigkeitssaum entdeckt, über den wir vorher gesprochen haben, und dieses Phänomen in meinen Vorträgen erklärt. Vor ein paar Jahren haben australische Wissenschaftler dieses Ödem entlang eines bleistiftdicken Muskelbündels erstmals bei Kernspinuntersuchungen bemerkt und meinten, sie hätten etwas Neues entdeckt.
Wurden Sie verkannt?
Dass im Bereich der Wirbelsäule gereizte Nervenwurzeln die von ihnen versorgten Muskeln falsch ansteuern und nach meiner Einschätzung in über 90 Prozent aller Muskelverletzungen ursächlich beteiligt sind, habe ich schon Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger beschrieben. Erst jetzt schließen sich andere Sportmediziner dieser Erkenntnis an. Ich konnte nur beschreiben, was ich fühlte und vermutete. Beweisen konnte ich es nicht. Eines aber kann man mir nicht nehmen: dass ich die Mitbeteiligung der Wirbelsäule vor langen Jahren erkannt und schriftlich erklärt und entsprechend in die Behandlung mit einbezogen habe. Damals gab es noch keine Kernspinuntersuchung. Oder zumindest war es nicht Usus, dass man eine Muskelverletzung mit einem Kernspingerät untersucht. Wegen dieser durch Tasten ermittelten Erkenntnisse gab es Neider.
Die gibt es noch, oder?
Ja. Aber früher viel mehr. Im Laufe der Jahre haben viele erkannt: Der ist immer noch bei Bayern, Hoeneß ist immer noch zufrieden. Das gibt manchem zu denken. Wenn bei Bayern jemand keine solide Arbeit abliefert, muss er gehen. Der Müller-Wohlfahrt ist immer noch da - also muss er ordentliche Arbeit leisten. Natürlich habe ich Neider, damit kann ich aber jetzt gut leben, ich übe einen Traumberuf aus, und manch anderer wäre gern an meiner Stelle.
Warum können Sie damit jetzt besser umgehen?
Ich fühlte mich früher unverstanden. Es haben Leute über mich geurteilt, die gar nicht wussten, wie ich arbeite. Die nicht sahen, wie lange ich mich bei jedem Patienten um die Diagnose bemühte, und meine Therapie nicht kannten und verstanden. Das hat sich in den letzten Jahren entscheidend geändert.
Vielleicht waren manche auf Ihren Promi-Status neidisch.
Dabei nehme ich schon lange keine Einladungen zu öffentlichen Events mehr an. Ich schätze, ich habe seit zehn Jahren keine Erwähnung in der Bunten mehr gehabt. Vielleicht länger. Früher bin ich zu Einladungen gegangen. Wenn ich fotografiert werden sollte, habe ich erklärt: Das möchte ich nicht. Aber verbieten Sie es mal! Das funktioniert nicht. Also bleibt man fern. Ich weiß, dass über andere Ärzte, die laufend irgendwo auftauchen, geredet wird: Wann arbeitet der eigentlich?
Schauen Sie sich wenigstens die Städte an, in die Sie mit Bayern oder der Nationalmannschaft reisen?
Das habe ich mir abgewöhnt, seit Pál Csernai Trainer war bei Bayern. Damals waren wir in Madrid zu einem Freundschaftsturnier. Unser Hotel lag im Zentrum, und ich hab mir gedacht: Ich schau mir in der Mittagspause die Innenstadt an. Als ich zurückkam, stellte ich fest: Genau da hätte man mich gebraucht. Und Csernai sagte: Wir sind hier nicht im Urlaub! Ich hatte verstanden. Nie mehr habe ich das Hotel verlassen.
Duzen Sie eigentlich alle prominenten Sportler?
Ja.
Vom ersten Moment an?
Ja. Unter Sportlern duzt man sich.
Foto: dapd
Autogramme im Wartezimmer?
Autsch! Müller-Wohlfahrt verarztet Bayern-Star Franck Ribéry.
Werden im Wartezimmer schon mal Autogramme gegeben? Wenn da jetzt ein Privatpatient, der kein Sport-Promi ist, neben einem Weltstar sitzt?
Das bekomme ich nicht mit. Ich gehe aber davon aus, dass das vorkommt.
Wie oft müssen Sie Autogramme geben?
Wenn ich kann, lehne ich es ab. Ganz selten, wenn jemand ein Buch mit einem Foto dabeihat oder ein Trikot, dann will ich den nicht enttäuschen und unterschreibe schon mal.
Müssen Sie nicht manchmal schmunzeln, wenn im Wartezimmer Usain Bolt neben Tyson Gay sitzt?
Fünf von den acht Teilnehmern aus dem 100-Meter-Endlauf der WM 2009 in Berlin waren zuvor hier. Ich habe gesagt: Nächstes Mal machen wir den Endlauf gleich in München, im Olympiastadion.
Wie lange wollen Sie noch bei Bayern und der Nationalmannschaft derjenige sein, der aufs Feld sprintet?
Ganz ehrlich, ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, dass ich sehr an dem Beruf hänge und dass ich gern noch ein bisschen so weiterarbeiten möchte.
Wie bleiben Sie so fit?
Ich gehe häufig joggen. Und neuerdings Fahrradfahren. Ich habe ein Singlespeed-Fahrrad geschenkt bekommen, so ein minimalistisches Ding. Das macht Spaß.
Wann schaffen Sie das?
Ich habe schon wiederholt beim Joggen die Mitternachtsglocken gehört im Park! Wenn ich so spät noch laufen will, erklärt mich meine Frau für verrückt, aber das Bedürfnis ist zu stark. Dann muss ich das tun. Und dann geht es mir auch sehr gut danach.
Wollen Sie nicht mal ausspannen nach der Arbeit?
Ich bin nicht der Typ, der sagt: So, jetzt lege ich die Beine hoch und will nichts mehr hören und sehen! Im Gegenteil!
Wann schlafen Sie denn?
Ich kann immer gut schlafen und schnell einschlafen. Auch zehn Minuten im Taxi oder gern im Flugzeug. Danach fühle ich mich wie neugeboren.
Können Sie auch nichts tun?
Nein!
Urlaub - Strand - ausspannen?
Zwei Tage. Höchstens.
Zwei Wochen sind eine Strafe?
Oh ja! Ich bin getrieben. Immer vorwärts. So wie ich auch selten zurückgedacht habe bis jetzt. Was hinter mir liegt, ist irgendwie vorbei - ich muss nicht groß darüber nachdenken.
Immerhin: Sie haben Yoga gemacht.
Ja, sechs Jahre lang, morgens um sechs, meiner Frau zuliebe. Aber ich war nie der Yoga-Typ. Ich habe es übertrieben und hatte danach einen Bandscheibenvorfall, der operiert werden musste. Ich habe das Yoga nicht so meditativ gesehen. Es ging dann schief.
Hatten Sie diesen starken Bewegungsdrang schon immer?
Als Jugendlicher war ich Leichtathlet. Zu Hause im Garten habe ich Weitsprung und Hochsprung geübt, Kugelstoßen vor dem Haus, Diskus und Speer auf der Kuhwiese, 1500 Meter auf den Feldwegen. Einen Sportplatz gab es bei uns im Dorf nicht. So wurde ich Mehrkämpfer und habe für den ersehnten Erfolg jeden Tag zwei Stunden trainiert. Jeden Tag! 1961 bin ich dann, ohne Trainer, Dritter bei den Deutschen Meisterschaften im Junioren-Mehrkampf geworden. Ich habe auch Orgel gespielt und eine Stunde jeden Tag geübt. Mein Leben war immer auf Beschäftigung und Arbeit ausgerichtet. Faulenzen war nie. Ich bin so: Wenn, dann Volldampf.
Achten Sie auf Ihre Ernährung?
Die ganze Familie ernährt sich gesundheitsbewusst. Das liegt in den Händen meiner Frau. Sie achtet sehr darauf, dass gesundes Essen auf den Tisch kommt! Ich habe es mir abgewöhnt, Hähnchen zu essen, seitdem ich weiß, wie viele Chemikalien darin enthalten sind. Fleisch gab es bei uns sowieso nie sehr häufig. Einmal die Woche vielleicht, und einmal die Woche Fisch.
Machen Sie gar nichts Unvernünftiges? Chips, Zigarren?
Nein, gar nicht.
Haben Sie nie etwas bereut? Kam nie etwas zu kurz?
Das kann man so zusammenfassen: Meine Familie, meine Frau und unsere Kinder, sind zu kurz gekommen. Trotzdem habe ich ein sehr, sehr gutes Verhältnis zu ihnen. Wir haben, als die Kinder heranwuchsen, wiederholt Familienrat gehalten und die Frage herumgereicht: Soll der Papa weitermachen oder soll er das jetzt mal gut sein lassen? Nein, der Papa soll das weitermachen, haben sie gesagt. Der braucht das und der ist - sinngemäß - für dieses Leben bestimmt. So, denke ich, ist es wohl auch. Ich sehe alles als Fügung. Ich wurde immer gebeten: Können Sie noch jemanden nehmen? Können Sie noch diesen oder jenen betreuen? Ich habe nie um einen Patienten oder eine Position gebuhlt. Ich habe nie angerufen und gesagt: Komm zu mir, ich kann dir helfen! Das geht nicht! Der Patient muss von sich aus zu mir wollen. Sonst fehlt mir der Auftritt, den ich vorhin beschrieben habe.
Das Wohlgemute?
Genau.
Jetzt Müller-Wohlfahrt für Hobbysportler: Hilft Eisspray wirklich oder ist das nur Placebo?
Eisspray wird eingesetzt, wenn der Schmerz überwiegend von der Haut oder Knochenhaut ausgeht. Eis hat eine schmerzlindernde Wirkung. Wenn Sie von einem Stollenschuh am Schienbein getroffen werden, haben Sie für wenige Minuten heftigste Schmerzen. Das Eisspray lindert den Schmerz. Aber bei Muskelverletzungen sollte von Anfang an mit den bewährten Mitteln Eiswasser und Kompression behandelt werden.
Dehnen vor dem Spiel?
Da gehen die Meinungen auseinander. Als wir Udo Lattek als Trainer hatten, haben wir Bilder von den Brasilianern gesehen, die sich im Kreis stützten und ihre Beinmuskulatur gedehnt haben. Das war ein überzeugendes Bild. Ich habe das aufgegriffen, aber Udo Lattek hat nur gesagt: Der Doktor hat wieder was Neues. Er sagte aber auch: Wer will, kann das machen. So war es mit Udo Lattek. Aber eines konnte ich feststellen: Seit vor Trainings- und Spielbeginn gedehnt wird, gibt es weniger Zerrungen. Faserrisse kommen etwa gleich häufig vor, die wird man nie verhindern können.
Nach dem Laufen: Der Freizeitsportler hat schwere Beine - warm baden oder Eis drauf?
Die Beine sind müde, der Körper überhitzt - dann bemühen wir uns darum, die Körperkerntemperatur zu senken, damit alle Regenerationskräfte für den Muskel bereitstehen. Solange die Kerntemperatur erhöht ist, regeneriert der Körper nicht. Er braucht dann viel Energie, um die Temperatur aus eigener Kraft zu senken. Deswegen müssen bei Bayern und der Nationalmannschaft direkt nach dem Spiel alle Spieler in die Eiswasserwanne. Damit wird der Körper runtergekühlt auf die normale Temperatur, und dann kann die Erholung auf Hochtouren laufen.
Das heißt für Freizeitsportler?
Dasselbe, oder wenn die Möglichkeit nicht besteht: anhaltend kalt duschen.
Ihr Sohn ist auch Arzt - haben Sie ihm geraten, Medizin zu studieren?
Ja.
Hat er Sie um Rat gebeten?
Nein, er hat während der Schulzeit gesagt: Papa, Medizin studiere ich mit Sicherheit nicht - lassen wir das Thema. Da hatte ich ihn schon zu sehr genervt. Das habe ich verstanden und ihn nicht mehr darauf angesprochen. Nach dem Abitur hat er eine Auszeit genommen. Er hat seinen Zivildienst geleistet auf einer Station für Multiple-Sklerose-Kranke. Ein Jahr. Danach weißt du, was Kranksein heißt. Dann hat er mit seinem Zivildienstsold - er wollte von mir nicht einen Cent - eine Südamerikareise angetreten. Als er zurückkam, hat er gesagt: Ich möchte Medizin studieren.
Waren Sie erleichtert?
Ja. Wobei das immer noch nicht heißt, dass er dasselbe machen will wie ich. Nach dem Staatsexamen arbeitet er zurzeit in einer Art Kooperation zwischen der Sportorthopädie im Klinikum rechts der Isar unter Leitung von Prof. Imhoff und unserer Praxis an seiner Doktorarbeit über Muskelverletzungen - es macht ihm sichtlich Spaß.
Sie würden ihm gern die Praxis übergeben.
Ja.
Auch den Bayern-Job?
Auch. Alles. Ich lebe einen Traum. Das ist jetzt nicht so dahergesagt. Ich sage es auch manchmal den Patienten. Ich bin jeden Tag dankbar, dass ich dieses Leben führen darf. Mit all der Arbeit. Mit allem - so, wie es ist.
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Wie lange HANS-WILHELM MÜLLER-WOHLFAHRT sich schon um die Waden der Fußballnationalspieler kümmert, merkt man am Kader aus seinem ersten Jahr, 1995: Im Tor stand Andreas Köpke, davor spielten Markus Babbel, Dieter Eilts, Icke Häßler, Matthias Sammer und Ulf Kirsten.
Wäre es nach seinem Vater gegangen, hätte Müller-Wohlfahrt nie Arzt werden dürfen. Der fand, das Medizinstudium verbiege den Charakter. Nach dem Tod des Vaters studierte Müller-Wohlfahrt trotzdem Medizin in Kiel, Innsbruck und Berlin. Dort promovierte er 1971.
1975 bis 1977 war der gebürtige Niedersachse Mannschaftsarzt von Hertha BSC, seit April 1977 ist er Arzt von Bayern München. 1995 übernahm er die Betreuung der Fußballnationalmannschaft. 2008 eröffnete er eine mehr als 1600 Quadratmeter große Praxis im Zentrum Münchens, in die der Unternehmer und Mäzen von 1899 Hoffenheim, Dietmar Hopp, etwa 10 Millionen Euro investierte. Hopp ist damit der Hauptfinanzier.
Seine Patienten schwören auf ihren »Mull«. Boris Becker nannte ihn ein »seelisches Wannenbad«, Lothar Matthäus erkannte »Radarfinger«. Unter Kollegen war er lange umstritten, »Doktor Wichtig« nannten ihn da viele. Diesen August wird Müller-Wohlfahrt 70 Jahre alt.