Goldmedaille im Kupferstechen

Der Marathonläufer Pietri, der alte Schwede Oscar Swahn, die miserable Ode des Barons de Coubertin – Axel Hacke erinnert an einige Höhepunkte der Olympia-Geschichte.

Illustration: Dirk Schmidt

Nun sind zum dritten Mal Olympische Spiele in London, nach 1908 und 1948, und ich bin froh, dass ich diese alten Sportbücher noch habe, in denen ich jetzt blättere – ach ja.

Wussten Sie etwa, dass 1908 Arthur Conan Doyle für die Daily Mail von Olympia berichtete? Doyle saß auf der Tribüne, als der Italiener Dorando Pietri als Führender des Marathonlaufs ins Stadion kam, oder, wie Doyle schrieb: »Aus dem dunklen Torbogen taumelte ein kleiner Mann in roten Rennhosen, eine winzige jungenhafte Kreatur.«

Dieser Pietri hatte vor dem Rennen ein Steak und Kaffee zu sich genommen, dazu einen Cocktail aus Strychnin und Brandy, man hielt so was damals für leistungsfördernd. Während des Laufes hatte er keinen Tropfen getrunken (er hielt Trinken für leistungsmindernd), nun wankte er auf die Schlussrunde, schlug zuerst die falsche Richtung ein, kehrte um, stürzte, erhob sich, stürzte wieder, kroch weiter, stand auf, stürzte noch zweimal, bis der Amerikaner Hayes im Stadion eintraf, der Zweite. Pietri trennten noch zwanzig Meter vom Ziel, die Zuschauer wurden fast verrückt, »die Menge raste, tobte und brüllte«, steht in meinem Sportbuch, niemand wollte die Niederlage des kleinen Mannes ertragen. Schließlich schoben der Rennleiter und ein Arzt den Torkelnden ins Ziel – und in diesem Moment entstand eines der berühmtesten Fotos der Sportgeschichte: der strauchelnde Pietri mit Nummer 19 und seine Helfer. Schon als Kind habe ich das Bild gesehen und konnte es nie vergessen, auch weil Pietri disqualifiziert wurde, das muss man sich vorstellen! Er wollte die Hilfe nicht, vielleicht wäre er durchs Zielband gefallen, aber als Erster. Doch die beiden Helfer fragten hinterher, was sie denn hätten tun sollen, »es sah aus, als würde er sterben und dies in Gegenwart der Königin«. Herrje! Jedenfalls gewann Hayes.

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Diese alten Sportbücher sind herrlich.

Wussten Sie, dass 1908 in London Tauziehen noch olympisch war? Es nahmen nur fünf Mannschaften teil, drei davon aus England, die Teams der City of London Police, der Londoner Metropolitan Police und der Polizei aus Liverpool – es gewannen die Bobbys der City of London. Deutsche waren nicht dabei, dabei hatten die 1906 in Athen noch Gold geholt. Übrigens waren damals auch Motorbootrennen olympisch, aber wirklich nur 1908. Und wussten Sie, dass damals der Schwede Oscar Swahn drei Medaillen im Schießen gewann und dass er vier Jahre später noch mal Olympiasieger wurde, mit der Mannschaft in der Disziplin »Laufender Hirsch«? 64 Jahre und 257 Tage alt war er und damit der älteste Mensch, der je Gold gewann. Im Einzelschuss-Wettkampf wurde er Fünfter, da gewann sein Sohn Alfred, auch irre, oder? Vater und Sohn ringen um Medaillen, so was gibt’s nicht mehr.

Swahn gewann noch 1920 in Antwerpen mit 72 Silber, und in manchen Sportbüchern steht deshalb, er sei nicht nur der älteste Olympiasieger, sondern auch der älteste Medaillengewinner aller Zeiten, aber das stimmt nicht. 1948 in London gewann der Brite John Copley Silber, der war 73.

Wussten Sie, in welcher Disziplin Copley so erfolgreich war? Es war »Gravur und Kupferstecherei«. Bis 1948 gab es auch Wettbewerbe in künstlerischen Disziplinen, in Architektur, dramatischer, epischer und lyrischer Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei. Der Baron de Coubertin selbst wurde 1912 Literatur-Olympiasieger mit einer unfassbar miserablen Ode, die er unter dem Pseudonym »Georges Hohrod und Martin Eschbach« eingereicht hatte: »O Sport, du Göttergabe, du Lebenselixier! / Der fröhlichen Lichtstrahl wirft in die arbeitsschwere Zeit …«

Da hätte selbst Günter Grass Medaillenchancen gehabt, möchte man sagen. Oder Ralph Siegel.

Wussten Sie übrigens, dass Hayes, der Marathonsieger, keine Goldmedaille bekam, nein, der Siegespreis war 1908 die Statue eines sterbenden Kriegers. Pietri erhielt tags darauf von der zu Tränen gerührten Königin Alexandra einen Goldpokal. Und er ist es, der bis heute unvergessen ist, nicht Hayes. Wie ich ja überhaupt finde, dass es mehr Pokale für Verlierer geben sollte, weil in der Niederlage die tieferen Wahrheiten des Sports liegen, das war 1908 so, auch 1948, und 2012 wird es nicht anders sein.

Illustration: Dirk Schmidt