Die Mundräuber

Zum Zahnarzt geht kaum jemand gern. Polieren, bohren, alte Füllungen ersetzen – Hauptsache schnell vorbei, schnell raus. Was mit den alten goldenen Füllungen passiert, daran denkt niemand. Außer geschäftstüchtigen Zahnärzten.


Gegen 22 Uhr in einem Zahnlabor im Ruhrgebiet: Aus den Lautsprechern dringt leise Rossini, die Laborchefin Britta Wenger* sitzt unter ihrer Tageslichtlampe, 5500 Kelvin, »11-Uhr-Nordlicht«, wie sie hier sagen. Sie arbeitet am liebsten abends. Wenn die anderen Zahntechniker schon gegangen sind, Ruhe einkehrt und sie sich in ihr Handwerk versenken kann wie ein Zen-Mönch in seine Meditation. Zu Hause wartet niemand auf sie, ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben. Nach dem Abdruck des Zahnarztes hat sie den von Karies befallenen Zahn in Wachs modelliert, eine Gussform hergestellt und im Ofen aufgeheizt auf die Temperatur, die notwendig ist, um die Goldlegierung »Degulor M«, extrahart, in die Hohlräume der Gussform zu füllen. Nach dem Erkalten bricht sie die Form auf, trennt überflüssiges Gold ab und schleift den Goldrohling unter einem schwenkbaren Mikroskop in seine endgültige Form. In den Filtern der Absauganlage fängt sich metallisch glänzender Staub.

Gold, lateinisch Aurum, Ordnungszahl 79 im Periodensystem der Elemente. Mythisches Edelmetall. Begehrt wegen der Beständigkeit seines Glanzes, seiner Seltenheit, seines Gewichts. Entstanden, lange bevor es die Sonne gab. Durch enorme Druck- und Dichteerhöhung im Kern explodierender Sterne. In reinem Zustand sehr weich, doch leicht legierbar. Alchimistenmär. Stoff der Träume, Schatzgräber und Investoren. Synonym für Kriege und Eroberungszüge mit Galeonen. Ausgequetschtes Gestein. Der Erde abgerungen in 4000 Meter Tiefe. Die Nazis haben es ihren KZ-Opfern aus dem Mund gebrochen. In deutschen Krematorien verschwindet Zahngold gelegentlich aus der Asche. Aber man kann es sogar lebenden Menschen aus dem Mund stehlen. Davon erzählt diese Geschichte.

Verlässt eine Goldarbeit Britta Wengers das Labor, kann sie theoretisch fast eine Ewigkeit halten. Gold korrodiert nicht. Und Wenger liefert Qualität. Voraussichtlich ist es also nicht ihre Arbeit, die irgendwann kaputtgehen wird. Sondern eher der Zahn. Dann schlägt die Stunde des Zahnarztes. Beginnt in vielen Fällen das Abgreifen, die Unterschlagung, der Mundraub. Weil es meistens nicht auffällt. Weil es viele andere auch tun. Und es so einfach ist.

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Ist die alte Brücke kaputt, kann es sein, dass der Zahnarzt den Patienten fragt: »Darf ich’s für Sie entsorgen?« Oder er sagt gar nichts und unterschlägt einfach, dass das Gold rechtmäßig dem Patienten zusteht. Manchmal fügt er aber auch hinzu: »Oder wollen Sie’s selbst haben? Ist aber unästhetisch, riecht nicht so gut …« Und dann verzichten die meisten doch lieber. Wenn der Zahnarzt Sie fragt, sind Sie sowieso recht langsam. Sie stehen nämlich unter Betäubung. Und so häufen viele Zahnärzte Gold an, auf das sie keinerlei Anrecht haben.

Goldbrücken, Kronen, Inlays – in deutschen Patientenmündern lagert eine Menge Edelmetall. Bis 1990 wurden jährlich etwa 60 Tonnen Gold in ihnen versenkt – rund ein Drittel des weltweiten Zahngoldverbrauchs. In keinem anderen Land der Erde ist so viel Zahngold verarbeitet worden wie in Deutschland. In keinem anderen Land der Welt haben Zahnärzte und Labore so viel am Gold verdient wie hier. Auch wegen des explodierenden Goldpreises spielt Gold als Werkstoff im Dentalbereich heute nur noch eine untergeordnete Rolle. Doch das verarbeitete Gold ist in den meisten Fällen noch vorhanden: 80 Millionen Bundesbürger, nach einer Studie der deutschen Bestattungsunternehmen jeder mit im Schnitt 2,5 Gramm Gold im Mund: ein Riesengoldschatz. Er muss nur gehoben werden. Und das tun viele deutsche Zahnärzte relativ schamlos. Ohne Schürfrechte, aber mit System.

Professor Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer: »Jeder Zahnarzt ist verpflichtet, die Eigentumsrechte seiner Patienten zu wahren. Bei Entfernung des Zahnersatzes wird das Altgold grundsätzlich dem Patienten übergeben. Fälle, in denen Zahnärzte die Edelmetalle gegen den Willen des Patienten einbehalten, sind uns nicht bekannt. Überträgt der Patient das Eigentum an den Zahnarzt, wird er dieses, wie häufig, entsprechend als Spende weitergeben oder seinem Betriebsvermögen zuführen. Im letzteren Fall gelten die steuerlichen Vorschriften. Wir selbst haben vor zwei Jahren die Schirmherrschaft für die Stiftung Hilfswerk Deutscher Zahnärzte übernommen und unterstützen die Aufrufe der Stiftung zur Zahngoldsammlung.« Eine schöne Sache. Aber es gibt auch eine andere Wirklichkeit.

Immer gegen Jahresende rufen die Zahnärzte bei Britta Wenger, der Laborchefin an, ob sie noch diese Verbindungen habe. Ob sie Gold schwarz verkaufen könne. Und Britta Wenger hat Verbindungen, natürlich. Seit den Siebzigerjahren führt sie ein florierendes mittelständisches Zahnlabor. Vorgestern erst hat ihr wieder ein Arzt das Altgold seiner Patienten geschickt, Wert: 13 000 Euro. »Hab ich mir natürlich erst mal 3000 weggenommen«, sagt sie, sollen ja alle was davon haben. Sie sieht es als »Bearbeitungsgebühr«, einen großen Reibach habe sie nie damit gemacht. Das haben andere, sagt sie.

Es ist nicht so, dass Wenger eine Heilige wäre, in der Dentalgoldbranche sind Heilige selten, aber bei Geschäften, die nicht durch die Bücher gehen, hat sie sich nie selbst als Vermittlerin angedient, es sind die Zahnärzte, die sie drängen. Weil sie sich selbst nicht die Finger schmutzig machen wollen. Und denken, dass die Labore von den Goldscheideanstalten weniger betrogen werden als sie selbst. Sie weiß, sie muss sie bei der Stange halten. Diese Art von Gefälligkeit gehört dazu. Weil sie von ihnen abhängig ist. Weil die Zahnärzte die einzigen Kunden der Labore sind. Und sie das zu nutzen wissen.

Es ist kein Sozialneid, der sie einen ganzen Berufsstand anklagen lässt. Eher ist es so, dass sie, wenige Monate vor ihrem Ruhestand, nun Dinge ansprechen möchte, zu denen sie eigentlich zu lange geschwiegen hat. Angestaut über Jahrzehnte hat sie eine Wut auf eine Branche, in der »geschoben und getrickst wird bis zur Grenze des Machbaren«. In der vor allem viele Zahnärzte in ihren Augen gegen ethische Grundsätze verstoßen – und gegen das Gesetz. Weil sie sich unrechtmäßig bereichern. Obwohl sie Großverdiener sind. Und sie nebenbei auch noch subtil erpressen.

Wie oft sie diese Gespräche führen muss! Wenn sie zu ihr kommen, von verführerischen Laborangeboten aus Singapur oder der Türkei reden, von einem Privatkonto auf Jersey, das für sie eingerichtet werde, 25 Prozent Umsatzbeteiligung. Steuerfrei. Viele Labore arbeiten ja inzwischen im Ausland und haben in Deutschland eigentlich nur noch einen Auslieferservice. Die Qualität sei oft mangelhaft, aber doch ausreichend, dass es wieder eine Weile hält. Und mehr sei ja gar nicht erwünscht, sagt Britta Wenger. Der Kreislauf muss in Gang gehalten werden.

Wenn die Zahnärzte in ihrer Gegenwart von diesen Angeboten reden – und sie tun es laufend –, dann nur mit dem Ziel, dass sie ihnen entgegenkommt. »Sonst würden sie es doch gar nicht erzählen.« Sie sagen keine Zahlen, verlangen nichts Konkretes, sie seien nicht dumm: »Die lassen dich kommen!« Aber bei ihr können sie lange warten. Britta Wenger gibt nie Rabatte. Grundsätzlich nicht. Keinen einzigen Cent. »Ich kann mir das auch gar nicht leisten.« Wenn man einmal damit anfange, sei es wie ein Dammbruch. Dann könne man nur noch in Deckung gehen.

Zu den Hochzeiten des Dentalgoldes, in den Siebziger- und Achtzigerjahren, haben viele Zahnärzte fast zwei Kilo Gold im Jahr verarbeitet, große Praxen brachten es sogar auf bis zu zehn Kilo. Pro Gramm Gold, das ist die bis heute übliche Praxis, bekommen sie, wenn sie ein praxiseigenes Labor haben, von den Gold-Firmen einen Rabatt von etwa sieben Euro, manchmal auch mehr. Der Patient bekommt aber den jeweiligen Gold-Tagespreis in Rechnung gestellt, der Rabatt wird nicht an ihn weitergegeben: Macht bei einer großen Praxis 50 000 Euro im Jahr, nur durch den Rabatt. Plus weitere 20 000 Euro Verschliff, auch »Feilung« oder »Gekrätz« genannt, also Goldstaub, der beim Bearbeiten anfällt. Bis zu 70 000 Euro sozusagen nebenbei. Und dann kommen noch die alten Goldfüllungen hinzu. »Es ist wie ein großer Supermarkt, wo keiner an der Kasse sitzt«, sagt Britta Wenger: »Du gehst einfach rein und bedienst dich!«

Dörte Elß, Juristin bei der Verbraucherzentrale Berlin: »Oft kommen Patienten zur Beratung, die Differenzen mit ihrem Zahnarzt haben, weil Brücken oder Inlays nicht halten wollen. Mitunter fällt dann auch der Satz: Und die alte Brücke habe ich auch gar nicht zurückbekommen. Es gibt meistens gar kein Bewusstsein dafür, wie die Eigentumsverhältnisse tatsächlich sind: Der Patient hat das Material, die Arbeit des Zahnarztes und die des Labors bezahlt. Er hat einen Anspruch auf die Herausgabe seines alten Zahngoldes und sollte unbedingt darauf bestehen!«

»Es gibt meistens gar kein Bewusstsein dafür, wie die Eigentumsverhältnisse tatsächlich sind«

Arnold Fischer, 67, ist der vielleicht bekannteste Kriminalhauptkommissar Deutschlands. Er hat das Versteck des entführten Berliner CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz ausfindig gemacht. Im Sprengstoffanschlag auf die Discothek »La Belle« und gegen den Kaufhauserpresser »Dagobert« ermittelt. Und den spektakulärsten Bankraub der deutschen Geschichte aufgeklärt, der in gewisser Weise auch etwas mit dieser Geschichte zu tun hat. Acht Jahre ist Fischer jetzt aus dem Polizeidienst, braun gebrannt und aufgeräumt sitzt er im »Café Röttgen« im Norden Berlins, er hat sich gut im Ruhestand eingerichtet, in ein paar Tagen steht seine 13. große Kreuzfahrt auf der Aida an. Doch wenn er von seinem vielleicht schwierigsten Fall, dem »Tunnelraub« erzählt, blitzt in seinen Augen auf, dass er zu jenen Menschen gehört, die ihren Beruf wirklich geliebt haben.

Am 27. Juni 1995 gegen 10.20 Uhr hatten maskierte Täter die Commerzbank Berlin-Schlachtensee überfallen, Geiseln genommen, 200 Schließfächer aufgebrochen und waren über einen selbst gegrabenen, 50 Meter langen Tunnel geflohen. Die Beute wurde auf 9,62 Millionen D-Mark geschätzt. 5,3 Millionen hat Fischers Soko wiedergefunden; drei Millionen in einem Hohlraum auf einem brandenburgischen Dachboden. In zwei Hartschalenkoffern versteckt von einem Helfer aus dem Freundeskreis der Täter: pikanterweise einem Zahnarzt, was in diesem Zusammenhang eigentlich keine Rolle spielt. Interessant allerdings ein anderes Detail. Die damals geschätzte Beutesumme legt nämlich neben Kassenbestand und Lösegeld die von der Versicherung erstattete Entschädigung zu Grunde: pauschal 15 000 Mark pro Schließfachbesitzer. »Die Höhe der tatsächlichen Beute ist bis heute völlig unklar«, sagt Fischer und geht von einer weitaus größeren Summe aus. Dem SZ-Magazin liegen Hinweise vor, dass einzelne Zahnärzte, die in der Bank ein Schließfach unterhielten, ihren Verlust nicht oder nur zum Teil gemeldet haben. Weil sie gar nicht in ihrem Besitz hätten sein dürfen: Schwarzgeld und Goldbestände ohne Herkunftsnachweis.

Britta Wenger hat sie gesehen in den Kellern der Zahnärzte, kiloweise, ganze Einmachgläser voller Zahngold, das in vielen Fällen sogar noch die Krankenkasse zu hundert Prozent bezahlt hat. Wenger ist der Meinung, dass es unmoralisch ist, sich daran zu bereichern. Dass die Gier eines Berufsstandes, der hinter den Radiologen und Augenärzten immer noch zu den bestverdienenden der Republik gehört, in ihren Augen unerträglich ist. Obwohl sie ihre Kunden sind, sie von ihnen lebt, nicht schlecht lebt, muss man wohl sagen, ist das Bild, das sie in 35 Jahren von ihnen gewonnen hat, nicht besser als das, was, sagen wir mal, gegenwärtig der Westen vom iranischen Präsidenten Ahmadinedschad hat. Von den 150 Zahnärzten, mit denen sie beruflich zu tun hat, würde sie maximal drei bis vier trauen. Dem Rest traut sie, tja, eigentlich … alles zu.

Einer hat sich einem Kollegen gegenüber mal gebrüstet, dass er fast die Uhr danach stellen kann, wann der Patient wiederkommt. Dass er mit großer Sicherheit weiß, dass ihn die Schmerzen in spätestens zwei Jahren erneut in seine Praxis treiben werden. Woher er das so genau sagen könne? Nun, deutete der Arzt, der den hippokratischen Eid geschworen hatte, an, er entferne die Karies nie vollständig. Ein kleiner Rest unter der Füllung sei eine Garantie für stetig wiederkehrende Patienten. Eine effektive Form der Kundenbindung. Und wie dankbar sie jedes Mal sind, wenn er sie dann von ihren Schmerzen befreit. Bis sie erneut zu ihm müssen. »So viel zum Thema medizinische Ethik«, sagt Britta Wenger.
Die medizinische Indikation spiele bei vielen Zahnärzten eine eher untergeordnete Rolle. »Die verkaufen dir alles, was von der Kasse gefördert wird.« Als gold-intensive Teleskoparbeiten eingebaut werden konnten, wurden sie massenweise eingebaut. Als Teilkronen besonders bezuschusst wurden, musste sie unentwegt Teilkronen bauen. Als die Krankenkassen Gold noch voll erstatteten, konnte die gesamte Arbeit schon nach zwei Jahren völlig neu gemacht werden – also machten manche Zahnärzte sie nach zwei Jahren einfach neu. Wenn die Abdrücke ins Labor kamen, habe sie oft noch die Patientennamen gewusst, erinnert sich Britta Wenger. Und als dann makellos weiße Zähne zum Schönheitsideal wurden, habe sie bis zum Abwinken zirkuläre Brücken gebaut, manchmal von einem Ohr zum anderen: die Zähne ohne medizinische Notwendigkeit einfach abgeschliffen und überkront. »Sieht schön weiß aus«, sagt Britta Wenger.

Hat der Patient starke Zahnschmerzen und der Zahnarzt sagt, der Zahn müsse raus, werden nur die Wenigsten widersprechen und sagen: »Oh, da hör ich mir doch noch mal drei andere Meinungen an.« Es ist nur natürlich, dass sie von ihren Schmerzen befreit werden wollen. Vielleicht gäbe es Möglichkeiten, den Zahn zu retten. Aber an einer Zahnrettung lässt sich vergleichsweise wenig verdienen.

Manchmal sagen die Zahnärzte zu ihr, sie hätten ein praxiseigenes Labor, damit sie »die Qualität halten können«. »Da lach ich mich tot«, sagt Wenger. Natürlich gibt es Zahnarztpraxen mit sehr qualifizierten Technikern, aber meistens liege der Standard der Praxislabore unter denen eines externen Meisterbetriebs. »Eine Art Hobbyraum«, sei das, sagt sie. Ein Praxislabor bringt bis zu 25 Prozent mehr für die eigene Tasche des Arztes.

Anfang der Achtzigerjahre wurde bundesweit gegen mehr als tausend Zahnärzte sowie Hunderte Dentallabors ermittelt. Unerlaubte Rabattmanipulationen, fingierte Abrechnungen, gefälschte Belege. Die Methode der Bereicherung war im Wesentlichen immer dieselbe: Es wurde mehr Gold eingekauft, als tatsächlich in der Praxis verbraucht wurde, das gesamte Gold steuerlich abgesetzt, ein Teil davon aber landete im privaten Tresor. Außerdem, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, wurden Boni und Skonti bis zu 18 Prozent von den Ärzten nicht an die Krankenkassen weitergereicht. Allein in Hamburg gab es 280 Verfahren gegen Zahnmediziner, die sich so ein lukratives Zusatzeinkommen von bis zu 250 000 Euro verschafft hatten. 1997 wurden in Frankfurt rund drei Dutzend Zahnärzte und Dentallabore wegen Abrechnungsbetrug angeklagt. Danach ist nur noch wenig in die Öffentlichkeit gedrungen.
Sind die deutschen Zahnärzte wirklich anständiger geworden?

Frank Wehrheim, Ex-Steuerfahnder in Frankfurt: »Das Gold ist immer noch unterwegs. Und die meisten Zahnärzte fragen nicht, ob der Kunde es zurückwill. Gerade die Zahnärzte in Deutschland sind immer gierig gewesen. Obwohl sie natürlich gut verdienten, waren sie stets an Nebengeschäften interessiert. Alles, was Gott verboten hat, haben sie gemacht. Einer kaufte zum Beispiel über 30 Jahre hinweg jedes Jahr ein Kilo Zahngold und machte es als Betriebsausgabe geltend – obwohl er es privat abzweigte. Am Ende seiner Karriere tauschte er das Gold in Barren um, 25 Kilo Feingold, knapp eine halbe Million Euro. Interessanterweise spielten bei unseren Ermittlungen oft die Ehefrauen eine große Rolle, die noch mehr Glanz und Status von ihren Männern forderten. Sich, wenn sie von ihnen betrogen worden waren, aber auch gern rächten – indem sie sie beim Finanzamt hochgehen ließen.«

»Neulich stand wieder einer da und fragte in etwas holprigem Deutsch: Doktor, willst du Bargeld?«


Die Betrugsmöglichkeiten liegen natürlich nicht nur beim Zahnarzt, sondern in der gesamten Kette der Goldverarbeitung: Labor, Zahnarzt, Aufkäufer, Goldscheideanstalt. Alle können unter Umständen entweder etwas mehr oder etwas weniger Gold angeben – wie es für ihre Abrechnung am besten ist. Um Abfallgold zu Geld zu machen, schickt man es zu Goldscheideanstalten, die es in der Regel jedoch erst ab einer gewissen Mindestmenge annehmen. Dort wird das Zahngold gereinigt und mittels Säurezugabe in seine einzelnen Bestandteile getrennt: Jede Zahngoldlegierung enthält auch Anteile anderer Edelmetalle wie Platin, Silber und Palladium, die ebenfalls erstattet werden. Allerdings können weder Labor noch Zahnarzt genau kontrollieren, ob die angegebenen Analyseergebnisse dem tatsächlichen Edelmetall-Gehalt entsprechen. Es sei denn, sie stehen beim Wiegen in der Goldscheideanstalt direkt neben der Waage, was natürlich eher selten vorkommt. Insofern besteht auf Seiten der Zahnlabore oft ein wenig das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber der Goldscheideanstalt. »Die können natürlich ohne Weiteres ein paar Gramm Gold abzweigen und stattdessen mit Sand auffüllen.« Damit die Labore und Zahnärzte sich trotzdem freuen, werden die Geschäfte nach Angaben Britta Wengers zuweilen an der Steuer vorbei gemacht. Sogenannte BAT-Geschäfte: »Bar auf Tatze.« Man gibt dem Außendienstmitarbeiter das Altgold mit, drei Wochen später bekommt man den Gegenwert in Cash. »Kein Zettel, gar nichts, Nullinger«, sagt Britta Wenger.

Dr. Matthias Eigenbrodt, Zahnarzt aus Berlin-Kreuzberg: »Bei mir in der Praxis kommen manchmal Leute mit einer Waage vorbei, die auf schnelle Geschäfte aus sind. Neulich stand wieder einer da und fragte in etwas holprigem Deutsch: Doktor, willst du Bargeld? Was ein Zahnarzt mit seinen Goldabfällen macht, muss er letztlich mit seinem Gewissen ausmachen. Ich bin bekennender Christ, spende das alte Zahngold, das in meiner Praxis anfällt, in der Regel etwa 2500 Euro im Jahr, in den Jemen. Dort habe ich vier Jahre als Entwicklungshelfer gearbeitet. Für einen Patienten ist es oft schwer, die Arbeit eines Zahnarztes zu beurteilen. Eigentlich müsste man seinen Zahnarzt immer fragen, bei welchem Zahnarzt er selbst ist …«

Auch die Labore machen ihren Schnitt. Zwischen der Goldmenge, die für die prothetische Arbeit bestellt wird, und dem, was der Patient am Ende im Mund trägt, besteht eine Differenz, die Schwankungen unterliegt. Britta Wenger sagt: »Wenn ich auf dem Papier für die Brücke von Frau Müller zehn Gramm Gold verarbeite, tatsächlich aber nur sechs Gramm verwende, dann sind ja vier irgendwie über.« Es gibt nun Zahntechniker, die sehr akkurat arbeiten, und solche, die einfach mehr verbrauchen. Ein versierter Zahntechniker kommt mit 15 Prozent »Verschliff« aus, andere haben bis zu 45 Prozent. Übersetzt heißt das: Nur 55 Prozent dessen, was dem Patienten in Rechnung gestellt wird, landet am Ende tatsächlich in seinem Mund. »Das muss natürlich irgendwo bleiben …«

Angenommen, sagt Britta Wenger, im Labor ist jemand »knallhart drauf«, und den Zahnarzt interessiert es nicht weiter oder aber der hat vielleicht auch etwas davon,
bekommt, weil man sich verbunden ist, ein paar Gramm als Geschenk, dann handelt es sich um ein sogenanntes »Bonus-Verhältnis«. Die Zahnärzte drängen die Labore zu Rabatten. Rabatte aber müssen erwirtschaftet werden. Ist ein Mehrverbrauch von Gold da nicht eine naheliegende Lösung, die beide Seiten zufriedenstellt? Und wer kann kontrollieren, wenn man im Labor zehn Prozent schon beim Gießen draufschlägt, die später »privat« abgezweigt werden? Britta Wenger sagt: »Diese Deals existieren!«
Dem Erfindungsreichtum bei Goldgeschäften steht der gestiegene ökonomische Druck der Zahnarzt-Praxen gegenüber, was keine Entschuldigung ist, vielleicht aber eine Erklärung: Das reale Einkommen ist in den letzten Jahren nicht gestiegen, 67 580 Euro gibt die Zahnärztekammer als durchschnittliches Nettogehalt eines Zahnarztes an (Britta Wenger: »Also, ich kenn keinen, der unter 100 000 macht!«), was natürlich auch noch nicht an der Armutsgrenze kratzt. Die Kosten für eine Praxisneugründung liegen zwischen 300 000 und 400 000 Euro zuzüglich eines Betriebsmittelkredits von
60 000 bis 80 000 Euro. Allein ein in Deutschland gefertigter Zahnarztstuhl schlägt mit 50 000 bis 70 000 Euro zu Buche (tschechische gibt es schon für 30 000), in einer Praxis stehen in der Regel mindestens zwei. Meist müssen drei oder mehr Angestellte bezahlt werden, Miete, Versicherungen, Kredit. Und ein Porsche vielleicht. Je nach Anspruch des Zahnarztes muss eine Praxis pro Stunde so mindestens 200 bis 400 Euro erwirtschaften, um sich selbst zu tragen. Ist da nicht die Versuchung groß, ein paar Euro ganz mühelos nebenbei zu verdienen?

Nun sind pauschale Urteile über Berufsgruppen nie ganz fair. Natürlich gibt es unter den 55 000 niedergelassenen Zahnärzten in Deutschland ungezählte aufrichtige, sozial und ethisch denkende Menschen, sogar Träger des Bundesverdienstkreuzes, die nicht einmal auf die Idee kämen, sich unrechtmäßig zu bereichern. Ehrenretter ihres Berufstandes, die oft kostenlos in Entwicklungsländern arbeiten, die Zahnärzte wurden, weil sie helfen wollen und nicht, weil es ihnen darum ging, maximales Geld zu verdienen. Scharf zum Beispiel.

Peter Scharf hat seine Kreuzberger Gemeinschaftspraxis seit 1981. Es gibt einen Bildschirm, der im Flur vor dem Wartezimmer in der Wand versenkt ist, auf dem für Unternehmer geworben wird, die sich gern höher besteuern lassen. Ab und zu leuchtet ein Anti-Atomkraft-Emblem auf. An den Wänden Plakate, die darauf hinweisen, dass Patienten ihr Zahngold in dieser Praxis für ein Solidaritätsprojekt in Nicaragua spenden können. Scharf, der einen sofort korrigiert, wenn man ihn mit Doktor anredet, denn er ist nicht Doktor und muss also auch nicht so tun, sagt: »Ich traue vielen Zahnärzten zu, ehrlich zu sein.« Was, frei übersetzt, heißen mag, dass er vielen anderen zutraut, es nicht zu sein. Seine knappe Meinung über Kollegen, die mit Altgold betrügen: »Ist nicht korrekt. Ungesetzlich. Diebstahl.«

Er selbst weist seine Patienten jedes Mal darauf hin, dass das Gold ihnen gehört. Dass sie es mitnehmen können. Oder eben auch spenden für einen guten Zweck. Sobald sich wieder genug im Glas angesammelt hat, schickt er es an die Goldscheideanstalt. Den ausgezahlten Gegenwert abzüglich der Kosten, die diese dafür berechnet, gibt er vollständig weiter an den Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Kreuzberg – San Rafael del Sur. Etwa 10 000 Euro jährlich.

Dass auch Zahnärzte beim Goldhandel aufpassen müssen, weiß er spätestens seit einmal ein Vertreter in seine Praxis kam und sich nach Altgold erkundigte. Er hatte eine Waage dabei und nannte ihm schnell einen Preis: »7000 Euro auf die Hand«, sagte der Mann. Scharf sagte: »Danke, wir werden uns das überlegen.« Der Vertreter legte nach: »8000!« – »Gut«, sagte Scharf, »wir überlegen uns das.« – »9000!« zog der Mann weiter an. Scharf hatte nicht vor, an diesen Mann zu verkaufen, aber da er ein höflicher Mensch ist, sagte er: »Das kann ich nicht allein entscheiden, muss ich besprechen.« –
»10 000 Euro!« Es war schwer, den Mann zum Gehen zu bewegen. Als er endlich zur Tür raus war, meldete sich wenige Minuten später telefonisch eine Goldscheideanstalt aus der Schweiz, und sagte: »Da ist noch was drin. Wir könnten bis auf 14 000 Euro gehen!« Scharf hat das Gold dann der Goldscheideanstalt weitergegeben, der er es immer gibt – für 16 000 Euro. Die er im Namen seiner Patienten gespendet hat.

So kann man es auch machen.

Fotos: Katrin Schacke