Die Gewissensfrage

Ist es moralisch vertretbar, sich von hustenden Menschen fernzuhalten? Oder umgekehrt: Sind hustende Menschen sogar verpflichtet, die Öffentlichkeit zu meiden?

»Neulich in der U-Bahn begann eine Frau mir gegenüber zu husten. Ihre Sitznachbarin rückte mit jedem Husten ein Stückchen weiter weg und suchte sich schließlich einen anderen Platz. Ist das moralisch vertretbar? Oder anders herum: Muss, wer unter Husten leidet, genervte Mitmenschen in der U-Bahn in Kauf nehmen? Oder sollte er gar aus Rücksicht nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren?« Wilhelm R., Frankfurt     

Da wir nicht wissen, ob der Husten durch Bakterien oder Viren ausgelöst wurde, beginne ich mit der Frage: Was ist der Mensch? Der Mensch ist ein Lebewesen, keine Maschine, und kann deshalb krank werden. Er ist dann eingeschränkt, und diese Einschränkung muss er akzeptieren, also gegebenenfalls im Bett oder zu Hause bleiben. Aus Gründen des Selbstschutzes oder des Schutzes der anderen. Umgekehrt muss man, weil Kranksein zum Menschsein gehört, genauso akzeptieren, dass andere krank sind, sei es zu Hause oder in der Öffentlichkeit.

Meistgelesen diese Woche:

Der Mensch ist ein Lebewesen, ein Organismus, der sich mit ansteckenden Krankheiten infizieren kann. Er hat ein vitales und legitimes Interesse daran, sich nicht zu infizieren. Es ist somit niemandem vorzuwerfen, dass er sich von einer potenziellen Infektionsquelle fernhält.

Der Mensch ist ein soziales und moralisches Wesen. Das heißt, er muss die Auswirkungen seines Verhaltens auf andere bedenken. Das gilt sowohl für den ansteckend Kranken – er sollte andere nicht unnötig gefährden, also zu Hause bleiben oder Maßnahmen zum Schutz der anderen treffen – als auch für denjenigen, der davor das Weite sucht – er sollte den Kranken nicht unnötig zusätzlich belasten.

Der Mensch ist beharrend, er bleibt gerne bei seinen Gewohnheiten und lehnt oft das Fremde ab. Das mag in der Evolution von Nutzen gewesen sein, heute aber nicht mehr. Denn der Mensch ist auch vernunftbegabt und sollte Neuem gegenüber aufgeschlossen sein, insbesondere Sinnvolles in fremden Kulturen nicht ablehnen, sondern im Gegenteil aufgreifen.

In Japan etwa tragen viele Menschen in der Öffentlichkeit Atemschutzmasken, um sich nicht anzustecken, besonders aber, um andere nicht anzustecken. In unseren Breiten wird das oft belächelt – allerdings eben zu Unrecht. Denn es wirkt nachgewiesenermaßen und scheint mir deshalb, soweit es zum Schutz anderer geschieht, nicht nur eine Frage der Höflichkeit, sondern, konsequent gedacht, moralisch sogar geboten – ebenso wie Händedesinfektion und der Verzicht aufs Händeschütteln. Das Moment der Ungewohntheit sollte man angesichts dessen schnell überwinden können, denn der Mensch ist auch lernfähig. Bis es so weit ist, dass potenziell Infektiöse auch hier Mundschutz tragen, darf man sich ruhig wegsetzen. Wie auch das Händeschütteln verweigern.

Quellen:

Detlev Ganten, Volker Gerhardt, Jan-Christoph Heilinger, Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Was ist der Mensch? de Gruyter Verlag, Berlin 2008

C. Raina MacIntyre, Simon Cauchemez, Dominic E. Dwyer, Holly Seale, Pamela Cheung, Gary Browne, Michael Fasher, James Wood, Zhanhai Gao, Robert Booy, and Neil Ferguson, Face Mask Use and Control of Respiratory Virus Transmission in Households, Emerg Infect Dis. 2009 Februar; 15(2): 233-241.

Cowling BJ, Zhou Y, Ip DK, Leung GM, Aiello AE, Face masks to prevent transmission of influenza virus: a systematic review, Epidemiol Infect. 2010 April;138(4):449-56


Suess T, Remschmidt C, Schink SB, Schweiger B, Nitsche A, Schroeder K, Doellinger J, Milde J, Haas W, Koehler I, Krause G, Buchholz U., The role of facemasks and hand hygiene in the prevention of influenza transmission in households: results from a cluster randomised trial; Berlin, Germany, 2009-2011, BMC Infect Dis. 2012 Januar 26;12:26

Illustration: Serge Bloch