Der Uhrknall

Deutschland diskutiert über ausgebeutete Zeitarbeiter bei Amazon, in Texas lässt der Firmen-Chef Jeff Bezos derweil eine Uhr bauen, die 10 000 Jahre laufen soll. Sie wird so groß wie ein Hochhaus. Tickt der noch richtig?

Er ist Erfinder, die Zeit ist lange sein Gegner gewesen. Er maß sie in Sekunden, und als das nicht ausreichte, spaltete er die Sekunde in eine Milliarde Stücke und maß den Erfolg seiner Erfindungen an dieser Einheit, der Nanosekunde. Damals brachte er Maschinen das Denken bei. Heute ödet ihn die Hatz auf die Nanosekunde an. Er baut jetzt eine Uhr. Sie soll hundert Jahrhunderte schlagen.

Sein Name ist William Daniel Hillis, seine Freunde nennen ihn Danny. Seine Uhr entsteht auf dem Kamm einer schroffen Gebirgskette weit im Westen von
Texas, die Sierra Diablo heißt. Es ist karges, von der Sonne versengtes Land, das Jeff Bezos gehört, dem Besitzer der Firma Amazon. Bezos bezahlt die Uhr, die Hillis baut. Beide Männer sind Freunde. Sie nennen die Uhr, die über 40 Millionen Dollar kosten wird, »Clock One«, Uhr Eins. Ihre Geschichte beginnt im Jahr 01995.

Ihr Erfinder legt Wert auf diese Zählweise, weil sie seinen neuen Horizont von Zeit spiegelt. 1995, das wäre Menschenzeit: Sie zählt die Jahre, als gäbe es lediglich zwei Handvoll Jahrtausende. 01995 jedoch zeigt, dass Zeit auch jenseits von 9999 Jahren eine Zukunft hat.

Meistgelesen diese Woche:

Hillis veröffentlichte in jenem Jahr eine Idee, die er wie ein Gedicht verfasst hatte:

Ich will eine Uhr bauen/
die einmal im Jahr tickt.
Der Jahrhundertzeiger/
rückt einmal alle hundert Jahre vor,
und zur Jahrtausendwende/
kommt der Kuckuck raus.

Hillis galt als genialer Erfinder. Aber jetzt glaubten viele seiner Freunde, er spinne.

Seinen Ruf hatte Hillis schon als Student begründet. 01978 begann er, Informatik am berühmten MIT zu studieren, dem Massachusetts Institute of Technology. Er erfand dort einen propellergetriebenen Anzug, mit dem man über Wasser gehen konnte, und baute sich einen Computer aus 10 000 Spielzeugteilen, um stets Käsekästchen spielen zu können.

Leistungsfähige Computer waren damals Großmaschinerie – tonnenschwere Kolosse, die so viel Strom schluckten wie komplette Straßenzüge und sofort schmolzen, wenn ihr Kühlsystem ausfiel. Ein Grund für ihre Größe war ihre stumpfe Vorgehensweise. Zu jener Zeit arbeiteten Maschinen Aufgaben sklavisch ab, eine streng nach der anderen: Erst wenn eine Rechenoperation abgeschlossen war, schritt der Computer zur nächsten.

Hillis schlug eine simple Lösung vor: Man müsse Maschinen einfach zu Menschen machen. Der Mensch denkt, er meistert Aufgaben, indem er sie in seinem Gehirn aufteilt und alle gleichzeitig löst. Dieser Trick des Denkens macht den Menschen in den Augen des Informatikers zu einem extrem schnellen, weil milliardenfach parallel geschalteten Hochleistungscomputer. Hillis beschloss, Maschinen nach dem Schaltplan des Menschen zu bauen.

01983 gründete er eine Firma, deren Ziel er in einen griffigen Slogan fasste: »Wir bauen eine Maschine, die stolz auf uns sein wird.« Er war 27. Es war ein Traum. Es gab anfangs keinen Geschäftsplan, aber der Getränkeautomat war schnell an einen Computer angeschlossen, der je nach Tastaturkürzel unterschiedliche Dosen ausstieß. Sieben Jahre später, 01990, war die Firma Thinking Machines Weltmarktführer im Segment der parallelen Supercomputer. 01994 war sie pleite. Genialität kommt auf Dauer nicht ohne gesunde Buchhaltung aus. Hillis war 38. Was jetzt? Er ging mit einer Idee hausieren, die er schon lange mit sich herumtrug – einer Uhr. Für die meisten Freunde war klar: Midlife-Crisis. Wer vom Fach war, fragte ihn, warum er keinen Computer darauf programmierte, 10 000 Jahre zu zählen. Nur wenige verstanden: Hillis meinte es ernst.

Als er seine Idee 01995 in der Zeitschrift Wired veröffentlichte, beschrieb Hillis die Arbeit von Zimmermännern aus dem Jahr 01386. Als sie damals aus Eichenstämmen eine Speisehalle der Universität von Oxford errichteten, pflanzten sie zugleich die Schößlinge der Eichen, deren Holz Generationen später, 01862, dazu diente, morsch gewordene Balken zu ersetzen. Die Zimmermänner dachten die Zukunft mit. Hillis vermisste dieses Denken.

Es waren die Jahre vor der Jahrtausendwende, jeder Waschsalon führte damals die Zahl 2000 im Namen. Hillis empfand es, als sei die Zukunft in der Spanne seines Lebens geschrumpft. Als er jung war, war 1984 das Symbol einer finsteren Utopie und 2001 das Jahr einer Odyssee im Weltraum. Jetzt, 01995, schien kaum jemand weiter als bis 02000 zu denken. Wenn, dann takteten verzerrende Zeitspannen die Zukunft. Zwei Jahre, eine Gewährleistungsfrist. Vier Jahre, eine Wahlperiode. Zwanzig Jahre, eine Kreditlaufzeit.

Hillis forderte, der Zukunft ihre wahre Dimension zurückzugeben. Sein Vorschlag einer Uhr, die hundert Jahrhunderte schlägt, erwies sich als Rorschach-Test auf die Zeit an sich. Die meisten seiner Freunde sahen nichts darin. Wer aber verstand, war Feuer und Flamme. Hillis, der mit Thinking Machines berühmt geworden war, zählte Musiker wie Brian Eno oder Peter Gabriel zu seinen Freunden, Programmierer, Maschinenschlosser, ein paar Multimillionäre und neben Schrottplätzen groß gewordene Mechaniker, die sich mit selbst gebauten Kampfrobotern duellierten.


Wäre es nicht besser, die Uhr würde leben?

Die Uhr, hier als zwei Meter hohes Modell, soll zum Symbol für langfristiges Denken werden.

01996 gründeten sie gemeinsam die Long Now Foundation, die Gesellschaft der Langen Gegenwart. Das Ziel: den Blick für große Zeiträume schärfen – und so ein langfristiges Denken fördern, das Verantwortung als Handeln über Jahrhunderte versteht. Symbol dieses Bewusstseins sollte die Uhr sein. Eine Uhr, die so lange in die Zukunft schlägt, wie die Geschichte der sesshaften Menschheit in die Vergangenheit reicht.

Trotz des Horizonts von 10 000 Jahren hatten es alle eilig. In vier Jahren war Millenium. Wollten sie den Kuckuck noch selbst hören, mussten sie sich sputen. Hillis ging methodisch vor. Er siebte jüngere Erfindungen schnell aus, Ionenuhren, Atomuhren, Quarzuhren, alles zu anfällig. Manche Gesellschafter zweifelten, ob Technik bei solchen Zeitspannen eine Lösung war. Die ältesten mechanischen Uhren im Turm der Kathedrale von Salisbury und im Prager Rathaus schlugen zwar noch, enthielten aber kein einziges originales Bauteil mehr. Wäre es nicht besser, die Uhr würde leben? Als Garten vielleicht, der Jahre im Takt des Blühens und Jahrtausende im Wachstum von Mammutbäumen maß? Oder lebte Wissen länger als organische Wesen? Wäre dann nicht eine Gilde der Zeitgeber zu gründen, die Generation für Generation die Zeit aussingt, bis ins Jahr 12001? Hillis verwarf diese Vorschläge. Er glaubte an Mechanik.

Drei Jahre dachte er nach. Dann hatte er es. Gerade noch rechtzeitig zum Milleniumswechsel schaffte er es, einen ersten Prototypen anzufertigen. Am 31. Dezember 01999 versammelten sich Hillis und eine kleine Schar von Getreuen um ein zwei Meter hohes Gebilde aus aufeinandergestapelten Getrieben, Schlag Mitternacht klangen zwei Glöckchen, das Zeitzeichen eines neuen Jahrtausends. Aber würde der Apparat auch die nächsten zehn schaffen?

Hillis bat einen berühmten Schweizer Uhrmacher, den Prototypen zu prüfen. Herz einer Uhr ist ihr Werk – die Mechanik, die sie laufen lässt. Gewöhnlich besteht sie aus Gehwerk und Gangregler, einem komplexen Zusammenspiel von Zahnrädern. Zahnräder aber nutzen sich mit der Zeit ab. Deshalb war Hillis auf einen kühnen Plan verfallen: Eine Uhr, die hundert Jahrhunderte laufen sollte, musste digital sein, wie ein Computer, der in Null und Eins denkt – aber mechanisch funktionieren, ohne Strom, ohne Elektrik. Hillis hatte keine Uhr gebaut. Er hatte einen Zwitter erschaffen. Einen Binärcomputer mit Räderwerk.

Der Experte aus der Schweiz war entzückt. Er gab nur zu bedenken, dass die Maschinerie zu kompliziert sei, um Jahrtausende ohne eine einzige Störung zu laufen. Außerdem musste das Wunderwerk aufgezogen werden. Was, wenn in 4000 Jahren niemand mehr dazu in der Lage war? Der Steinzirkel von Stonehenge ist in etwa so alt, und sollte das ein Apparat sein, weiß keiner mehr, wie er zu bedienen ist.

Hillis besserte nach. Wie Mönche versenkten sich seine Getreuen und er im Jahr 02000 in eine Meditation über die Zeit, die sie mechanisch durchstehen wollten. Eine Sache war sofort klar: Die Uhr musste unmittelbar verständlich sein – sonst würden sie die Genies ein paar hundert Generationen weiter auseinandernehmen, um sie zu begreifen.

Der Rest ergab sich. Es brauchte extrem langlebige Materialien, die wertlos sein mussten, um in der Zukunft nicht geplündert zu werden. Eine unerschöpfliche Energieversorgung. Eine Justierung über Jahrtausende. Alles ohne technologischen Schnickschnack. Sollte die Zivilisation einmal zusammenbrechen, musste die Uhr auch mit Werkzeugen wie aus der Bronzezeit zu warten sein.

Hillis war glücklich. Er genoss diese Exerzitien des Langzeitdenkens. Er hatte die schnellsten Computer der Welt gebaut, die immer kompakter werden mussten. Jetzt baute er den langsamsten und ließ ihn immer größer werden. Große Getriebe erlauben langsamen Lauf. Langsame Bewegung vermindert den Verschleiß. Im Jahr 02005 war klar, dass sie die Uhr nur an einem besonderen Ort bauen konnten. Trocken. Abgelegen. Vor allem mit viel Platz.

Jeff Bezos bot seine Ländereien in Texas an. Er betrieb dort bereits den Raumflughafen seiner Firma Blue Origin, mit der er ins Weltall vorzustoßen hoffte. Darüber erhob sich eine Berg-kette aus Dolomitstein. In diese Berge konnte man einen Schacht schlagen, groß genug, um eine Uhr aufzunehmen, die über hundert Meter hoch sein sollte. Bezos stellte 42 Millionen Dollar bereit.

Hillis und seine Getreuen arbeiteten nun in Stille. Keinen Rummel mehr um die Idee, keine Artikel. Nur noch die Uhr. Dann gab die Gesellschaft der Langen Gegenwart bekannt, die Aushubarbeiten seien abgeschlossen; bald beginne der Bau der eigentlichen Uhr. Man trat mit Plänen an die Öffentlichkeit. Die Uhr umfasste nun ein Glockenspiel und ein Planetenmodell, das Räderwerk des mechanischen Computers lief auf Lagern aus Keramik und sah aus wie eine Wendeltreppe für ein Hochhaus, der Antrieb – ein System tonnenschwerer Steingewichte – konnte sich in der Wüste von Texas über den Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht selbst aufziehen und der Zeitgeber war ein gewaltiges Pendel aus Titan, das sich die nächsten 10 000 Jahre täglich selbst am Stand der Mittagssonne eicht.

Kritiker überschlugen sich vor Skepsis. Was war das für ein Wahnsinn? Wer bildete sich ein, eine solche Uhr zu bauen? Konnte eine Maschine von Menschenhand überhaupt so lange laufen? Angenommen, der Antrieb funktionierte tatsächlich ein paar tausend Jahre – welche Temperaturen wird Texas dann messen? Was, wenn ein Erdbeben die Gebirgskette erschütterte? Oder eine extreme Katastrophe ganz Amerika? Wer vermochte schon zu sagen, wie die Erde in 10 000 Jahren aussieht? Welches Klima wird herrschen? Wird es noch Staaten geben? Eine Zivilisation? Menschen? Warum um alle Welt baute jemand so eine Uhr?

Den Grund konnte Hillis nennen. Wenn nur ein Bruchteil aller Menschen, die von der Uhr hören, sich genau solche Fragen über die Zukunft stellten, sagte er, lohne sich seine Arbeit schon.

Die Uhrmacher

DIE UHRMACHER
Auf die Frage, was seine Firma Amazon so erfolgreich macht, antwortet der Multimilliardär Jeff Bezos: »Alles dreht sich um die Langzeitperspektive.«

Der Erfinder Danny Hillis ist für seine Schrullen berühmt: Der Eingang zu seinem Labor ist eine alte Telefonzelle, in deren Hörer ein Codewort zu sprechen ist.

Brian Eno komponierte eines der erfolgreichsten Musikstücke der Menschheit - die Startmelodie des Computer-Betriebssystems »Windows 95«.

(Fotos: Rolfe Horn/The Long Now Foundation, getty, dpa;)