Düstere Aussicht

Nach dem Tod ihrer Mutter wollte sich unsere Autorin endlich stellen: dem Alter und dem Sterben. In ihrem halben Jahr als Pflegehelferin hat sie eine Welt erlebt, in der es Stress und Chaos, aber wenig Liebe gibt.

Haus Lebensbaum/Pflegeheim Mitte

Frau Nisch* ist gewöhnungsbedürftig – mir, der Leasingkraft, will man sie ersparen. Aber dann kommt sie mir im Rollstuhl auf dem Flur entgegen, nur mit Schlüpfer und Hemd bekleidet, und drängt ins Freie. »Raus hier!«

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»Aber Sie können doch so nicht raus. Es ist kalt draußen«, versuche ich die wütende Frau zu beruhigen.

»Du hast mir gar nichts zu sagen! Ich bin doch hier nicht im Gefängnis, ich kann raus, wann ich will!« Sie stößt mich zur Seite. Ich suche ihre Hose und laufe hinterher. »Weg, du olle Fotze. Ich kenne dich nicht. Ich lass mir doch von dir keine Hose anziehen!«

Schnell greife ich zum Hilfe-Telefon: »Geht grad nicht, bin beschäftigt, warte mal, komme gleich«, sagt die Kollegin gehetzt. »Halt sie auf jeden Fall auf, dass sie nicht auf die Straße fährt!«

Der Rollstuhl ist bereits im Aufzug auf dem Weg nach unten. Ich über die Treppe hinterher. Frau Nisch fährt gerade hinaus durch die Tür. Ich stelle mich vor sie. Sie brüllt mich an, ich rufe wieder um Hilfe. Endlich kommt die Kollegin. Die wird von Frau Nisch akzeptiert und schafft es, die freiheitsbedürftige Alkoholikerin wieder auf ihr Zimmer zu bringen.

Das liegt im zweiten Stock: lange schmale Gänge, Bänke wie im Jobcenter, die Wände besprüht mit kitschigen Bildern, in jedem Stock ein anderes Motiv, damit die Insassen sich orientieren können. Rechts die Arbeitsräume: Aufenthalts- und Essraum, billige Möbel, Küche mit zu wenig Tassen und Besteck, Mitarbeiterklo, Raum für frische Wäsche, Fäkalienspüle. Links des Gangs die Zimmer der Bewohner: Bett, Schrank, Tisch, hohes Fenster, enges Duschbad mit Toilette. Karge Zellen.

Die Bewohner dieses Hauses sind Härteres gewohnt: Bänke, Brücken, U-Bahnhöfe. Früher haben sie sich Drogen gegen ihren Kummer selbst beschafft, jetzt bekommen sie die vom Arzt und der Pharmaindustrie gratis. Doch sie sind verzweifelt, haben Angst, wollen raus, bekommen nie genug von allem und wollen alle gleichzeitig bedient werden: Sie wollen aus dem Bett geholt, aufs Klo gesetzt werden, den Hintern gewaschen und die Zähne geputzt bekommen, sie wollen, dass man ihnen Zigaretten zuteilt, ihre Langeweile tötet, ihnen Windeln anlegt, sie ins Bett bringt.

Dafür bin ich da. Aber warum bin ich hier?

Als meine Mutter im Sterben lag, haben wir nicht viel darüber geredet, meine Mutter war nie sehr gesprächig. Oder war ich es, der die richtigen Worte fehlten? Habe ich ihr genügend Zeit geschenkt? Hätte ich mich mehr um sie kümmern müssen? Das schlechte Gewissen blieb und nagte.

Deshalb bewarb ich mich in Altersheimen, um dort eine Weile zu arbeiten und mich intensiv dem Sterben zu stellen. Voraussetzung für eine solche Arbeit ist ein 400-stündiger Kurs. Ich nahm den billigsten, heuerte anschließend bei einer Leasingfirma an. Und begann meine Reise durch die Pflegeheime.

Haus Diamant

Fünf Stockwerke, 42 Zimmer pro Stock, manche Zimmer sind doppelt belegt – ein Massenbetrieb. Ich habe Nachtdienst. Eine Kollegin übergibt mir eine Liste mit Namen, Zimmernummern und den Bedürfnissen der Bewohner und verabschiedet sich in den Feierabend. Ich bleibe allein auf dem Stockwerk.

Ich schiebe mich mit meinem Arbeitswagen, teils mit frischer Wäsche und Reinigungsmitteln, teils mit Mülleimer und Schmutzwäschesack, durch die Flure, halte mich an dem Zettel fest und versuche, die vielen Bewohner dieser Etage zweimal in der Nacht trockenzulegen. Ich kenne das Haus nicht, kenne die Bewohner nicht. Und in den Doppelzimmern: Wer ist wer? Einige beschimpfen mich, andere wollen nicht geweckt und gewendet werden, manche sind freundlich, unterstützend und bedanken sich. Eine dünne Alte klammert sich verzweifelt an meinen Arm: »Warum hat sie mich hierhergebracht? Immer ist sie unterwegs. Was soll ich hier? Ich will hier nicht sein, in diesem schrecklichen Haus. Sie haben mich hierhin abgeschoben …«, stammelt sie und bedankt sich, weil ich mich ihr zuwende und zuhöre. Doch sie ist nicht allein im Raum, jetzt wacht die Zimmergefährtin auf. Und ich muss weiter.

Ein anderer Bewohner ist psychisch krank. Sobald ihn jemand berührt, brüllt er aus weit aufgerissenem Mund und versteift alle Glieder. Unmöglich, bei ihm allein die Einlagen zu wechseln. Ich suche einen freundlichen Kollegen aus einer anderen Etage. Wir machen einen Deal: Er hilft mir – ich helfe ihm bei zwei schwierigen Fällen. Der Kollege macht diese Arbeit bereits seit Jahren: jede Nacht zweimal fünfzig frische Windeln, Hintern abwischen im Akkord. Ich dagegen bin langsam und umständlich. »Du machst das wohl noch nicht so lange«, sagt er.

Nein, mache ich nicht. Ich rede mit den Leuten. Die Gespräche mit den Schlaflosen kosten mich Zeit. Ich bin vorsichtig, lasse einige schlafen, schaffe die zweite Runde nicht ganz. Am nächsten Tag geht eine Beschwerde ein: Zu viele Pflegefälle seien am Morgen nass gewesen.

Weisheit

Altenpflegehelfer darf sich nennen, wer einen 200- bis 400-stündigen Kurs absolviert hat. Diese Kurse werden oft vom Jobcenter vermittelt, denn die Nachfrage nach Altenpflegern ist riesig. Angeboten werden solche Kurse von der florierenden Arbeitslosenindustrie, sie kosten zwischen 450 und 1800 Euro. Die Qualität wird nicht überprüft. Der Staat zahlt.

Tatsächlich sind viele auf diese Art ausgebildete Pfleger oft erneut arbeitslos, denn auf dem Arbeitsmarkt fehlen hauptsächlich Pflegefachkräfte mit dreijähriger Ausbildung. Doch wer macht schon so eine Ausbildung, mit der Aussicht auf eine Arbeit mit harten Arbeitsbedingungen und magerem Verdienst? Pflegehelfer dagegen gibt es im Überangebot, und das drückt die Löhne. Sie verdingen sich bei Leasingfirmen – immer in halben oder viertel Stellen mit kurzzeitigen, schnell kündbaren Verträgen. Durch den ständigen Wechsel von Häusern, Kollegen und zu pflegenden Bewohnern ist die Arbeit über Leasingfirmen besonders anstrengend.

Viele Pflegekräfte sind Zuwanderer aus Lateinamerika, Afrika, Asien und der ehemaligen Sowjetunion. Oft Menschen aus der sogenannten dritten Welt. Sie haben häufig den besseren Humor und die freundlicheren Umgangsformen; manchen gelingt es, eine wohltuende Ruhe zu verbreiten. Viele haben eine gute Ausbildung, die in Deutschland nicht anerkannt wird. Als Altenpfleger haben sie die Möglichkeit, legal Geld zu verdienen. Sie kommen hierher in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch sie geraten vom Regen in die Traufe: Pflegehelfer belegen die unterste Stufe in der Heim-Hierarchie.

Waldesruh

Zu dieser privaten Seniorenresidenz am waldigen Rande der Stadt brauche ich je eine Stunde Fahrzeit hin und zurück. Ich arbeite 6,5 Stunden, manchmal auch länger, wenn ich am Ende in aller Eile noch Patienten-Akten mit Kreuzen und Unterschriften fülle. Dazu kommt noch Umziehen vor und nach der Arbeit. Eine halbe Stunde Pause wird abgerechnet, obwohl ich selten dazu komme; es werden also sechs Stunden bezahlt für bis zu neun Stunden, die ich mit der Arbeit verbringe. Der Stundenlohn beträgt 8,75 Euro brutto, 52 Euro am Tag abzüglich Fahrgeld: für neun Stunden Aufwand also 47 Euro. Macht 5,22 Euro brutto pro Stunde für eine anstrengende, stressige, dreckige, stinkige, Rückgrat quälende, kräftezehrende und überaus missachtete Arbeit.

Die »Residenz« hat ihre eigene Leasingfirma. So werden alle Pfleger vorerst als 400-Euro-Kräfte geprüft, bevor ihnen die Ehre einer Festanstellung angeboten wird. Wer als Springer arbeitet, wird besonders gern an Wochenenden eingesetzt, denn Springer bekommen laut Vertrag keinen Wochenend- und Nachtzuschlag.

In allen Pflegeeinrichtungen arbeiten die meisten Pflegekräfte in Dreiviertel-Stellen. Eine Vollzeitstelle wäre zu anstrengend, der Krankenstand dann zu hoch. Hilfskräfte verdienen zirka 1100 Euro netto, Fachkräfte 1500 Euro. Also übernehmen sie heimlich nebenher 400-Euro Jobs in einer Leasingfirma. Da bekommen Fachkräfte an einem Wochenende noch einmal 250 Euro steuerfrei, Hilfskräfte können es auf 120 Euro schaffen. In diesem Job wird man nicht alt: Die durchschnittliche Verweildauer im Altenpflegeberuf beträgt weniger als neun Jahre.

Haus Jungbrunnen

Haus Jungbrunnen

Ein Wochenende in der Demenzabteilung: Mir wird nach kurzer Einweisung ein Bereich allein überlassen. Natürlich könne ich die Fachkraft einen Stock höher jederzeit per Telefon fragen.

»Ich mag Sie nicht! Raus aus meinem Zimmer!«, schreit mich Frau Pohl an. »Schon wieder Leasing! Immer neue Gesichter – ich will mit einer Person zu tun haben, nicht jeden Tag neue Leute hier.«

Sie schließt ihre Tür ab. Später lässt sie sich unter Schelten und Meckern das Abendessen bringen.

Frau Asmus kann nur mit dem Rollstuhl bewegt werden. Zur Nacht hebe ich sie auf die Toilette, auch wenn es schwerfällt. Setze sie danach wieder in den Rollstuhl. Waschen will sie sich nicht mehr, ihr Herz pocht wild. Ich habe alles falsch gemacht, alles gänzlich entgegen ihren gewohnten Regeln. Sie weint – wir beide sind verzweifelt.

Noch vor Kurzem waren in diesem Haus alle glücklich, lasse ich mir erzählen: Die Alten fühlten sich umsorgt, die Familienangehörigen waren froh über die liebevolle Atmosphäre, die Pfleger konnten ihre Arbeit so machen, wie sie es gelernt hatten, die Heimleitung bemühte sich um optimale Bedingungen – alles stimmte, nur die Zahlen nicht. Jetzt ist ein neuer Manager eingestellt. Der lächelt freundlich, kehrt mit stählernem Besen und passt die Menschen den Zahlen an. Bei dem Versuch, das Sterben und den Tod in die marktwirtschaftliche Ordnung einzugliedern, bleiben für Menschlichkeit weder Geld noch Zeit.

Die Fachkraft erzählt, Frau Asmus gehe erst seit Kurzem nicht mehr auf Toilette, vor wenigen Wochen konnte sie noch laufen. Jetzt wird gespart, und sie hat kein regel-mäßiges Training mehr. Die Tränen steigen der Pflegerin in die Augen. Sie ist untröstlich, mit ansehen zu müssen, wie die alten Menschen, die ihr ans Herz gewachsen sind, innerhalb kurzer Zeit so stark und unumkehrbar abbauen, einfach weil es nicht genügend Personal gibt. Aber eine Person schafft es unmöglich, so viele Demente zu versorgen. Dazu so viele und stets wechselnde Leasingkräfte, die die Bewohner kaum kennen. Warum erdulden die Altenpflegerinnen solche Arbeitsbedingungen? Warum wehren sie sich nicht gegen diese Missachtung?

Betreuung für Demente kostet im Monat 450 Euro mehr. Deshalb entschied das Management, die Demenzabteilung nicht mehr so zu nennen und mit reduziertem Personal zu arbeiten. Einem großen Teil der ursprünglichen Besetzung wurde gekündigt, einige gingen von allein, weil sie so nicht arbeiten wollten. Von denen, die blieben, werden viele krank, weil sie den Arbeitsrhythmus nicht lange aushalten. Dringend werden neue Pflegekräfte gesucht: solche, die sich von Beginn an den »neuen« Arbeitsbedingungen anpassen. Auch die bleiben nicht lange. Noch mehr Leasingkräfte sind die Folge.

Diese Entwicklung ist die Regel, nicht die Ausnahme: Zwischen 2009 und 2011 stieg die Zahl der gering qualifizierten Altenpflegehelfer fünfmal so stark an wie die der staatlich anerkannten Altenpfleger.

Seniorenresidenz Liliengarten

»Mäuschen«, ruft mich Frau von Wesel, eine elegante Dame, gesund und munter.

»Mäuschen?«, frage ich. »Finden Sie, das passt zu mir?«

»Na ja, ich kann mir ja nicht alle Namen merken.« Als Frau von Wesel im Speisesalon sitzt, ruft sie wieder nach mir: »Mäuschen! Ich möchte Sie bitten, mein Bett aufzuschlagen. Danach brauche ich Sie nicht mehr.« Mein Zofendasein bei Frau von Wesel.

Der »Liliengarten« ist die »edelste Seniorenresidenz der Stadt«, so denken stolz die hauseigenen Arbeiter. Die Aufmachung wie ein Hotel – nur im hintersten Block verstecken sich die harten Pflegefälle. Hier lassen sich karrierebewusste Bildungsbürger, hohe Beamte und reiche Erben bedienen, eingeschränkt nur durch geistige oder körperliche Altersschwächen. Aus Salongesprächen höre ich Fetzen über Geldanlagen und Landbesitze.

Waldschlösschen

Hier herrscht Angst. Alle Mitarbeiter in den Etagen stehen unter Stress. Im Laufschritt hasten sie die langen Flure auf und ab – wer nicht rennt, gilt als faul. Kaum jemand kann unter diesem Druck Gelassenheit bewahren: Man lästert über die Leitung; die Pfleger blaffen sich gegenseitig an.

Eine Pflegefachkraft gibt mir an diesem Wochenende die Order. Ihr erster Kommentar, als sie mich sieht, spitz und mit verdrehten Augen: »Schon wieder Leasing! Fachkraft oder Hilfskraft?«

»Hilfskraft.«

Vom ersten Moment an entwickelt sich eine stachlige Beziehung zwischen uns.

Sie hatte mir nicht gesagt, dass Frau Graf dement ist. Deshalb respektiere ich deren Wunsch, im Bett zu bleiben. Ich möchte sie nicht zwingen. Sie hat Bauchschmerzen und scheint unglücklich, aus dem Bett gequält zu werden.

»Frau Graf muss unbedingt aus dem Bett, schnell! Nachher kommt ihre Tochter und dann gibt es Ärger!«, blökt die Pflegeschwester, der ihre Verantwortung für die Etage an diesem Wochenende über den Kopf wächst. Druck von allen Seiten. An mir kann sie Dampf ablassen.

Ich frage Frau Graf ein zweites Mal: Nein, sie möchte liegen bleiben. Kurz danach kommt tatsächlich die 80-jährige Tochter, frisch geschminkt, aufrecht, stolz – und die Hölle ist los. »So geht das nicht! Was sind denn das für Zustände?! Ich werde mich bei der Verwaltung beschweren. Sie muss raus, sofort! Sie kann doch nicht den ganzen Tag im Bett liegen! Wo kommen wir denn da hin?«

Die kleine Mutter, 102 Jahre alt, lächelt mild, nickt freundlich, lässt alles mit sich geschehen: lässt sich aus dem Bett ziehen, in den Rollstuhl heben, auf die Toilette setzen, zum Kaffeetisch fahren. Nervös wartet die Tochter draußen. Sie möchte nicht dabei zusehen, sondern wünscht ihre Mutter frisch und sauber serviert zu bekommen.

Der Konflikt zwischen mir und der Oberschwester spitzt sich zu. Ständig läuft sie keifend hinter mir her, bis es mir irgendwann reicht: Ich verbitte mir das Du. Sie rächt sich in Form einer Beschwerde gegen mich.

Haus am See

Für 7,45 Stunden bin ich an diesem Tag die Helferin einer jungen Schwester. Sie war lange nicht auf dieser Station und hat Angst davor, dass wir zu zweit die Arbeit nicht schaffen könnten. Diese Station ist wegen ihrer besonders anspruchsvollen Bewohner verschrien.

Wie immer bekomme ich eine Liste in die Hand gedrückt. Ich habe Verantwortung für zwölf Menschen: Toilettengang, waschen, rasieren, Inkontinenzmaterial anlegen, ankleiden und zum Frühstück bringen. Im Durchschnitt zwölf Minuten pro Person.

Das Frühstück: Kaffee und Brötchen austeilen, füttern, ans Schlucken erinnern, Mund abwischen. Alle haben Extrawünsche. Herr Braun nimmt zwei Scheiben Graubrot und wünscht Käse und Wurst, Herr Jürgens meckert, weil ich ihm nicht genug Butter aufs Brot schmiere, Herr Mies wünscht seinen Kakao genau einen Zentimeter unter dem Tassenrand, zubereitet mit zwei gestrichenen Esslöffeln Kaba – exakt! Alle drängen und fordern gleichzeitig, hinterher bin ich vollkommen erledigt. Keine Zeit, kurz Luft zu holen, denn sofort wünschen die Bewohner auf ihr Zimmer und zur Toilette gebracht zu werden. Ich arbeite mich an der Liste ab, kenne niemanden, weiß zu den Namen und Zimmernummern keine Gesichter und komme bei allen zu spät. Überall vorwurfsvolle Blicke und böse Kommentare: »Schon wieder Leasing!« oder »Die haben mich schon mal ganz vergessen.«

Maria Hilf

Maria Hilf

Das Kaffeetrinken ist vorbei, Herr Wolf hat noch Hunger und Durst: noch ein Brötchen schmieren, noch einen Kaffee, noch einen Saft.

Nach einer Weile: »Ich bin vollgeschissen.«

Herr Wolf ist schwer und unbeweglich. Ich kann ihn jetzt nicht in sein Bett hieven, ihm seinen Hintern putzen und ihn dann womöglich wieder in den Rollstuhl setzen zum Abendessen. Ich bin voll beschäftigt mit Abräumen, Geschirrspüler leeren, Geschirrspüler füllen, Frau Günter aufs Klo setzen, Frau Traut zu trinken anbieten (sie mag nicht), Frau Riemer den Mund putzen, Herrn Gaus den Urinbeutel leeren.

»Ich bin vollgeschissen!«, bellt er schon wieder. Eigentlich müsste ich jetzt das Abendessen vorbereiten: Tisch decken, Würstchen aufwärmen, Tee kochen.
»Ich bin total vollgeschissen!«

Also gut, sonst verdirbt er noch allen anderen den Appetit. Ich bringe ihn zurück
ins Zimmer, hieve ihn ins Bett und beginne, seine Exkremente abzuwischen. Ist alles noch frisch und dünn.

»Es juckt!«, brüllt er. »Es brennt!«

Ich ziehe ihm seine verschmierte Unterhose aus, besprühe seinen Hintern mit einem Schaum für die wunden Stellen.

»Es brennt ganz fürchterlich!« Hmm, was denn? Ich lege ihm eine frische Einlage unter.

»Es brennt immer noch!« Er kratzt wild an seinen Hoden. Ich bin verzweifelt. Es ist doch sauber, oder? Sogar mit Schaum gewaschen. Ich greife zum Hilfe-Telefon – der Akku ist leer.

Also laufe ich hoch und bitte um Hilfe. Während die Fachkraft unten mit dem bellenden Herrn beschäftigt ist (»Muss ich aber auch alles selbst machen?«), bewache ich in der anderen Abteilung die dementen Bewohner. Man darf sie nie allein lassen.

Fünf vor sechs. Für das Abendessen ist noch nichts gemacht. Die Leute warten bereits. Schnell, schnell Teller auf den Tisch, Messer, Gabeln, Tassen holen sie sich selbst. Den neuen Topf auspacken, den digitalen Herd verstehen, die Würstchen ins Wasser … Die Bewohner werden nervös: »Was ist denn hier los, Abendessen immer noch nicht fertig?« – »Das geht ja gar nicht.«

Kartoffelsalat, geplatzte Würstchen, Brot und Wurstteller auf die Tische. »Senf!«

Herr Wolf ist als Letzter dran mit dem Essen. Er ist im Bett geblieben, gibt unwirsche Befehle, will Würstchen und Kartoffelsalat nicht anrühren, schmeißt seine belegten Brote und die Servietten wütend auf den Teller zurück. Ich lasse ihn allein, mache draußen den Tisch klar: Geschirrspüler füllen, Tische abwischen.

Herr Wolf hat jetzt doch gegessen. Ich ziehe ihm seine Strickjacke aus und krame Würstchenstücke aus dem Bett. Er sagt im Befehlston: »Ziehen Sie mich nach oben!«

Herr Wolf könnte stehen und laufen, könnte sich rechtzeitig auf die Toilette setzen, wenn er es trainieren würde. Er kann ja auch gut boxen und treten, wenn er nicht zufrieden ist. Er ist nur beleidigt darüber, dass er nicht mehr jung ist. Er übt mit seiner Hilflosigkeit Macht aus. Was war er wohl in seinem früheren Leben, überlege ich, Gefängniswärter oder Finanzbeamter, gewohnt zu befehlen und Angst zu verbreiten? Solche Gedanken bedrücken mich auf dem Weg zurück ins Gemeinschaftszimmer. Der Flur ist lang.

Doch auch Herr Wolf ist zu Recht zornig auf die Umstände, unter denen er hier sterben soll. Natürlich möchte er taktvoll behandelt werden. Besonders Männer, denen ein Leben lang Respekt erwiesen wurde, reagieren empört auf die erniedrigende Situation, in der sie sich jetzt befinden. Die meisten Frauen dieser Generation dagegen sind Missachtung gewöhnt; sie sind nicht anspruchsvoll, eher dankbar.

Da kommt Frau Schmitz auf ihren Rollator gestützt verdächtig wackelig aus ihrem Zimmer. Schnell bin ich bei ihr und begleite sie zur Toilette.

»Mein Engelchen! Oh, dass Sie gerade hier waren! Sie sind mein lieber Schutzengel – fast wäre ich gefallen.«

Im großen Zimmer wartet der Rest des Tages: Säcke voll stinkender Windeln und uringetränkter Laken. Der Frühstückstisch ist vorzubereiten und dann ab ins Dienstzimmer.

Früher war eine Acht-Stunden-Schicht dafür angesetzt, jetzt gibt es nur noch sechs Stunden für zwölf stark pflegebedürftige Demente. Selbst bei schlampiger Arbeit habe ich dabei keine Zeit für arbeitsrechtlich vorgeschriebene Pausen. Die Leitung weiß das. Doch wenn ich auf dem Stundenzettel die Pausen als Arbeitszeit berechne und gar Überstunden aufschreibe, bekommt die verantwortliche Fachkraft eine Abmahnung. Nach drei Abmahnungen wird ihr gekündigt. Soll ich mich mit der Verantwortlichen solidarisieren und ohne Bezahlung arbeiten? Soll ich die Bewohner schmutzig ins Bett packen und den Müll für die nächste Schicht stehen lassen?

Sanft bewacht

Am Ende jeder Schicht: die Patientenakten. Es werden besondere Vorkommnisse notiert, wenn es welche gab, oder ein kurzer Standardsatz: »Bew. äußert Wohlbefinden«. Anhand dieser Berichte sollen sich die Kollegen informieren. Ich hatte bislang nie Zeit, sie zu lesen.

Außerdem ist jeder Arbeitsschritt definiert: Waschen Oberkörper, Waschen Unterkörper im Bett/am Waschbecken, Rasieren/Gesichtspflege, Kämmen, Zahnpflege, Inkontinenzmaterial wechseln nach Wasserlassen/nach Stuhlgang, Aufstehen, Ankleiden, auf den Rollstuhl setzen … Alle Punkte müssen abgehakt und abgezeichnet werden. Was der Medizinische Dienst einmal genehmigt hat, wird von der Pflegekasse gezahlt.

Anfangs habe ich Punkt für Punkt genau gelesen und nur das abgezeichnet, was ich tatsächlich geleistet hatte. Doch wenn ich nicht alles ankreuze, kann es bedeuten, dass die Kasse weniger zahlt, dem Heim noch weniger Geld zur Verfügung stünde und manche Bewohner sich die Pflege nicht mehr leisten könnten. Also hake ich jetzt alles blind ab. Papier ist geduldig. Alle Pfleger leisten täglich falsche Unterschriften, und jeder weiß, wie unsinnig diese Listen sind. Sie sollen der Kontrolle dienen, können selbst jedoch nicht kontrolliert werden. Die Zeit, die darauf verwendet wird, wäre für die tatsächliche Pflege sinnvoller genutzt.

Haus Morgenlicht

Fast alle Bewohner sind von einem üblen Magen-Darm-Virus befallen; ein Teil der Pfleger hat sich bereits angesteckt. Deshalb wimmelt es in diesen Tagen von Leasingkräften.

Die Fachkraft in der Station spricht hysterisch in sein Handy und bemüht sich, seine privaten Probleme zu klären. Zwischendurch wirft er mir Anweisungen zu und ist schon wieder weg. Als Fachkraft muss er die Alten im anderen Stockwerk versorgen. Ich desinfiziere ständig Handläufe und Türklinken und fühle, wie das Virus nach drei Tagen auf der Station in meinem Körper Einzug gehalten hat.

»Zacki-zacki!«, beschwert sich der Pfleger. »So läuft das nicht! Ich bin hier die Fachkraft – du bist Leasing! Beeil dich, die anderen warten schon. Putz vorher noch den Kühlschrank und schreib Daten auf die ange-brochenen Packungen. Morgen kommt die Hygieneaufsicht.«

Am nächsten Tag hat mich das Virus selbst erwischt. Ich melde mich krank und bin froh, mit »Zacki-zacki« nicht noch einmal zu tun haben zu müssen. Ich liege drei Tage mit Übelkeit und Gliederschmerzen im Bett.

Am vierten Tag, fünf Wochen vor Ende der Probezeit, ein Brief von der Leasingfirma im Kasten: »Hiermit kündigen wir Ihnen innerhalb der Probezeit das Arbeitsverhältnis hilfsweise zum nächstmöglichen Termin. Mit freundlichen Grüßen.«

Warum? Das möchte ich gern erfahren. Die Geschäftsleitung ist erst nach mehreren Anrufen am übernächsten Tag am Telefon. »Wir legen keinen Wert auf Ihre weitere Mitarbeit.«

Abgesang

Bis 2030 wird die Zahl der Pflegebedürftigen um rund fünfzig Prozent zunehmen. Den zu erwartenden Personalmangel in der Pflege beziffern Experten auf eine halbe Million Vollzeitstellen.

*Namen aller Personen und Heime von der Redaktion geändert

Illustrationen: Gipi