Im Kreis zum Ziel

In der Romantik sah man das Grübeln als Weg zum »Kristallgrund der Seele«, heute gilt es als beinahe krankhaft. Dabei kann es hilfreich sein, den eigenen Gedanken nachzuhängen - man muss nur den richtigen Ansatz finden. Unser Autor ist mal in sich gegangen.

Man merkt, dass das Grübeln echt keinen guten Ruf mehr hat, wenn Claudia Schiffer sich anlässlich ihrer neuen Show Fashion Hero ausdrücklich von dieser Form des Nachdenkens distanziert: »Ich bin einfach ausgeglichen, kein Grübler oder Pessimist. Ich mag mich.« Wenn die Nationalelf von Sportjournalisten ermahnt wird: »Grübler gewinnen keine Titel«. Oder wenn Zlatan Ibrahimovic´ offenbar lange nachgedacht (wenn wohl auch nicht gegrübelt) hat, um in seiner Autobiografie die ultimative Beleidigung für den Bayern- Trainer Pep Guardiola zu finden: »Grübler ohne Eier«. Grübeln, tiefschürfendes Nachdenken: durch, vorbei, es taugt nur noch als Schimpfwort, als Schwermutssymptom und in der Formulierung »Grübler und Querdenker« zur Vermarktung zweitklassiger Kabarettisten. Aber was verlieren wir eigentlich, wenn wir das Grübeln ablehnen, und wie konnte es überhaupt so in Verruf geraten?

Der Kulturwissenschaftler Burkhard Meyer-Sickendiek von der Freien Universität Berlin sagt, dass man im Grunde drei Phasen in der Geschichte des Grübelns unterscheiden muss. Erstens das Grübeln als Mode während der Zeit der deutschen Romantik: Dichter wie Clemens Brentano wollten damals durch Grübeln »zum Kristallgrund« der Seele vordringen, es gab eine Sehnsucht nach Selbstversunkenheit und Tiefe, mit jeder Menge Bergwerks- und Höhlenmetaphern. Das wahre Weltall war den Romantikern im eigenen Innern, ein Schatz, den sie durch Grübeln zu heben hofften. Zweite Phase: die wenig romantisch veranlagten Ärzte und Psychiater der Gründerzeit, die das Grübeln zur Krankheit erklärten: »Zwangsvorstellung in Frageform« nannte es der Berliner Psychiater Carl Westphal 1877, zu Freuds Zeiten wurde Grübeln als Spielart der Hysterie behandelt. Und schließlich die dritte Phase, seit Beginn der 1990er-Jahre, in der Grübeln mit Hilfe neuropsychologischer Studien als Auslöser oder als Symptom von Depression untersucht und behandelt wird.

Das Grübeln hat also im Laufe von etwa 250 Jahren eine recht unerfreuliche Karriere gemacht: von einer Art Kulthandlung romantischer Innerlichkeitsfans zu einer Krankheitsform, gegen die man heute im Internet Hunderte von Tipps findet: »Raus aus der Grübelfalle!«, sind diese meist überschrieben, und da weiß man gleich: Besser gar nicht erst reintappen, also lieber nicht allzu tief und allzu lange über Schwieriges nachdenken.

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Burkhard Meyer-Sickendiek, der mit Tiefe. Über die Faszination des Grübelns vor ein paar Jahren ein außerordentlich lesenswertes Buch zum Thema geschrieben hat, legt Wert auf die Feststellung, dass wir hier von zwei verschiedenen Dingen sprechen: Grübeln im romantischen Sinne ist eine Denkweise, die den Dingen auf den Grund zu gehen versucht, während das Grübeln im medi-zinischen Sinne sich ziellos im Kreis dreht. Diese zweite Spielart des Grübelns wird in der Fachsprache »Rumination« genannt. »Den Unterschied sieht man schon an der Wortherkunft«, sagt Meyer-Sickendiek. »Grübeln kommt tatsächlich von ›graben‹, und bevor es das Wort in der heutigen Bedeutung gab, sprach man im 17. Jahrhundert davon, jemand würde in der Nase ›grübeln‹. Also graben im Sinne von: etwas bergen, am Ende womöglich einen Schatz. Während Rumination von der Wortherkunft her ›wiederkäuen‹ bedeutet, also: sich wiederholendes Denken.«

Das ist dann das Gedankenkarussell, das die betroffenen Grüblerinnen und Grübler nicht mehr anhalten können: Depressive, heißt es, grübeln vier, fünf, sechs Stunden am Tag. Und zwar, erklärt der Psychologe Tobias Teismann, über abstrakte, große Themen, bei denen die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, dass man durch Grübeln eine Lösung findet. Also etwa Fragen wie: Bin ich eine gute Mutter? Oder, noch tückischer: Warum bin ich eine so schlechte Mutter? Warum mag mich niemand? Also definitiv nicht gerade die Partykracher unter den existenziellen Fragen, sondern ganz klar der Stoff, aus dem die Depressionen sind. Tobias Teismann, der an der Ruhr-Universität Bochum zum Thema depressives Grübeln forscht, sagt, dass derartige Fragen durch negative Stimmungen ausgelöst werden, die sich dann durch die vergebliche Beschäftigung mit der Frage zur Depression steigern. Man ist also zum Beispiel von jemandem übersehen oder womöglich geschnitten worden, ist darüber unglücklich und gerät, wie Teismann es nennt, ins »Katastrophisieren« und grübelt schließlich über die von der Ausgangssituation schon sehr weit losgelöste Frage, warum einen niemand, aber auch wirklich: niemand, mag.

In unregelmäßigen Abständen bieten Teismann und seine Kollegen eine »Grübelgruppe« an. Hier lernen depressive Grüblerinnen und Grübler mit Hilfe von Methoden aus der Verhaltenstherapie, etwas gegen das Grübeln zu tun. Indem sie das Grübeln zum Beispiel einfach zeitlich verschieben oder begrenzen. »Das klingt erst mal komisch, wenn man gesagt kriegt, man soll üben, nicht jetzt zu grübeln, sondern erst um 12.30 Uhr«, sagt Teismann, »aber dadurch lernen die Leute, dass sie die Macht über das Grübeln haben können und nicht umgekehrt. Menschen neigen dazu, dem eigenen Denken gegenüber unkritisch zu sein: Wenn ich denke, ich habe versagt, dann wird das schon stimmen. Wir versuchen den Leuten beizubringen, dass das nur Gedanken sind und jeder selbst entscheiden kann, ob er diesen Gedanken folgt und sich von ihnen provozieren lässt oder nicht.« Durch Konzentrationsübungen zum Beispiel lernen die Patienten, mehr Kontrolle über ihre »exzessive Selbstaufmerksamkeit« zu bekommen und auch mal auf was anderes zu achten, und wenn’s erst mal nur Geräusche vom Band sind. »Es gibt aber natürlich auch ganz konkrete Fragen, die geklärt werden müssen«, sagt Teismann. »Wir hatten einmal eine Patientin, die stand ganz klassisch zwischen zwei Männern und hat über die Frage gegrübelt, für welchen sie sich entscheiden soll. Das sind Fragen, bei denen es tatsächlich darum geht, inhaltlich eine Lösung zu finden, und nicht einfach nur darum, mit dem Grübeln aufzuhören. Grübeln ist immer dann schädlich, wenn der Handlungs- oder Problemlösungsbezug fehlt.«

Eigentlich ist es seltsam, dass es so etwas wie »Grübelgruppen« nur für Menschen gibt, die in ihrem Gedankenkarussell gefangen sind und darüber depressiv werden. Eigentlich müssten wir Grübelgruppen gründen, in denen wir das Grübeln als Kulturtechnik wieder lernen oder ganz neu lernen. Je komplexer das Leben geworden ist, desto mehr Anlässe gibt es, über Dinge nachzudenken. Oder besser gesagt: umso mehr Anlässe gäbe es, denn wir kommen ja nicht mehr zum Nachdenken. In den Neunzigerjahren galt Ablenkung als wichtigstes Mittel gegen depressives Grübeln, und die Versuchung ist groß, das auf die ganze Gesellschaft zurechtzubiegen: Wir sind perfekt darin, uns abzulenken – nicht nur, um nicht in depressives Grübeln zu verfallen, sondern wir lenken uns ab, um überhaupt nicht mehr nachdenken zu müssen. Die Augenblicke, Minuten oder vielleicht sogar Viertelstunden, in denen Menschen früher gewissermaßen zum Nachdenken gezwungen waren, füllen wir heute mit Ablenkung. Man mag die Beispiele gar nicht aufzählen, weil man sich sofort wie ein kulturpessimistischer Waldschrat anhört, aber stellen Sie sich einfach ein paar Kopfhörer vor, ein Smartphone, auf dem Rechner immer ein halbes Dutzend Fenster offen mit witzigem Kleinkram, und so weiter. Für komplexere Gedanken als den, ob es besser wäre, den Mobilfunkanbieter zu wechseln, ist da keine Kapazität mehr frei. Und weil selbst dieser Gedanke schon so groß und abstrakt ist, wird er vermutlich am Ende noch dazu führen, dass man depressiv der Frage nachhängt, warum alle in der Lage sind, den für sie günstigsten und besten Mobilfunkanbieter zu finden, nur man selbst nicht: Warum bin ich so ein Idiot? Mit wirklichem Nachdenken hat das alles nichts zu tun. Kann es sein, dass wir über dem Grübelvermeiden das Nachdenken verlernt haben?

Klar, wir sagen gern: »Nee, da muss ich erst mal in Ruhe drüber nachdenken«, wenn wir vor einer schwierigen Entscheidung mit möglicherweise weitreichenden Folgen stehen oder wenn wir uns bei einer Sache nicht sicher sind, die sich im Moment, wie wir dann sagen, »irgendwie nicht gut anfühlt«. Aber denken wir dann wirklich nach? Grübeln wir im romantischen Sinne über den möglichen Wechsel in eine andere Stadt, graben wir in uns hinein, in der Hoffnung, den Schatz der Erkenntnis zu heben? Ach, meistens sagen wir zu allen möglichen Freunden, »Ich weiß nicht, was ich tun soll« und wackeln ungeduldig mit den Knien, während sie uns irgendwas raten, was uns nur schmerzhaft klarmacht, wie wenig sie uns verstehen. Und im Stillen hoffen wir, dass die Sache sich von alleine regelt oder dass wir endlich eine Antwort von unserem Bauch bekommen, auf den wir doch schon die ganze Zeit hören, aber der Sack gibt keinen Piep von sich.

Wenn man das Grübeln jenseits des depressiven Wiederkäuens und jenseits der romantischen Selbstherrlichkeit neu erfinden wollte, müsste man zwei große Widerstände überwinden: einmal die eigene Bequemlichkeit, und zum anderen müsste man sich von einer Art Gehirnwäsche befreien, der wir in den letzten zehn, 15 Jahren unterzogen worden sind. Wahrscheinlich müsste man eher sagen: einer Bauchwäsche. Denn genau darum geht es: dass uns seit einiger Zeit mit wachsendem Nachdruck gesagt wird, dass unser Bauch ein sehr viel funktionstüchtigeres Denkorgan ist als unser Kopf. Wir sollen uns auf unsere Intuition verlassen und uns innerlich möglichst leer machen, damit wir spüren, was für uns das Richtige ist. Von diesem Dogma müssten wir uns befreien, wenn wir wieder anfangen wollen mit dem Nachdenken: Zwar haben wir im Achtsamkeitskurs gerade erst mühsam gelernt, dass man den Gedanken begegnet mit einem freundlichen »Ah, ein Gedanke, ich lasse ihn ziehen«. Aber vielleicht wäre es mitunter aufschlussreicher, dem einen oder anderen Gedanken nachzueilen und ihm auf den Grund zu gehen.

Das aber, Widerstand Nummer zwei, wäre Arbeit. Denken, da darf man sich nichts vormachen, ist anstrengend. Da zieht die Großhirnrinde Glukose, dass es kracht. Wir sind es aber nicht mehr gewöhnt und wir mögen es auch nicht, wenn die Dinge uns anstrengen. Wir sind es gewöhnt, dass alles immer leichter wird. Das Äußerste, was wir uns beim Nachdenken noch zumuten, ist, dass wir uns hinsetzen und eine Pro-und-Contra-Liste machen. Aber ganz ehrlich: Am Ende, wenn man damit fertig ist und die Liste vor sich liegen sieht, hat man nicht die Gewissheit, etwas wirklich durchdacht zu haben, sondern nur das schale Gefühl, zum Controller der eigenen Seele geworden zu sein. Wenn über der Liste steht »Wegen Job nach Berlin umziehen?« und unter »Pro« steht: »Mehr los« und unter »Contra« steht: »Freunde weit weg«, dann ist das eine buchhalterische Parodie von Antworten auf eine große Frage.

Wenn wir der Ablenkung vom Nachdenken und dem sinnlosen Grübeln ein positives Grübeln entgegensetzen wollen, müssten wir es anders machen. Wir müssten uns bei großen Entscheidungen und schwierigen Problem darüber klar werden, wer wir eigentlich sind, was un-sere Werte sind, was wir früher einmal wollten, und ob dies das ist, was uns immer noch wichtig ist. In seinem Buch übers Grübeln zitiert Burkhard Meyer-Sickendieck den Philosophen Walter Benjamin, für den Grübeln »im Zeichen der Erinnerung« stand. Benjamin beschrieb den Grübler als jemanden, »der die Lösung des großen Problems schon gehabt, sie sodann aber vergessen hat«. Der Schatz, den der Grübler also aus sich selbst zu heben sucht, indem er sich in sich selbst versenkt, sind womöglich die Pläne, Ziele, Wünsche und Träume, die er früher mal gehabt hat und die verdeckt worden sind im Laufe der Jahre durch all den Ablenkungsschamott und durch die unklaren Signale aus der Körpermitte. Wieder grübeln zu lernen heißt also, sich darauf zu besinnen, wer wir eigentlich mal waren und was wir eigentlich mal wollten, und nachzuschauen, ob und wie uns das hilft, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Alles andere ist nur in der Nase grübeln.

(Foto: dpa)