Als ich vor vier Jahrzehnten mein erstes Bankkonto eröffnete, teilte man mir die Nummer dieses Kontos mit, und siehe, es waren vier Ziffern.
Ende 2013 bekam ich eine Anzahl von Briefen, mit denen ich – zum Beispiel – von meinem Vermieter informiert wurde, er werde künftig sein Geld nicht mehr im Einzugsermächtigungsverfahren von meinem Konto abtransportieren, sondern mit Hilfe des SEPA-Lastschriftverfahrens. In den Briefen las ich meine neue Kontonummer. Sie
besteht aus zwei Buchstaben und zwanzig Ziffern.
In vierzig Jahren hat sich also meine Kontonummer, was ihre Länge angeht, verfünffacht, und dabei rede ich nur von den Zahlen, jetzt sind ja auch noch Buchstaben dabei. Lebte ich noch weitere vierzig Jahre, bestünde meine Kontokennzeichnung aus hundert Ziffern sowie einer unbekannten Anzahl an Buchstaben. Und von den Mandatsreferenznummern sowie Gläubiger-Identifikationsnummern in den Einzugsermächtigungsverfahrensänderungsbenachrichtigungsbriefen habe ich noch gar nicht gesprochen.
Wir sind von Zahlen umstellt. Allein auf meiner Krankenversicherungskarte stehen eine Unternehmensnummer, eine Versicherungsnummer und eine Personennummer, ich habe Kreditkarten, Bahnkarten, Mitgliedskarten, Ausweiskarten, alle mit Nummern bedeckt, auch besitze ich Telefonnummern, PIN-Nummern, Geheimnummern, Abonnementsnummern, Kundennummern. Mein Leben verzweigt sich in immer neuen Zahlenketten, überall marschieren endlose Ziffernkolonnen in stummem Tritt.
In der Psychiatrie gibt es den Begriff der Arithmomanie, das ist der Zählzwang. Der Arithmomane zählt immerzu, er muss zählen, was ihn umgibt, Menschen, Autos, Bleistifte, Kaffeetassen. Zählt er nicht, hat er das Gefühl, das Leben entgleite seiner Kontrolle, nur Zählen beruhigt ihn, Nichtzählen macht ihn fertig.
Ich stelle fest: Wir leben in einer arithmomanen Gesellschaft. Sie ist dem Ziffernwahn verfallen. Für jede einzelne Zahl gibt es eine Berechtigung, aber insgesamt ergibt sich das Bild krankhafter Zählsucht. Die Organisationen, denen wir angehören, existieren in permanenter Angst, die Kontrolle über uns zu verlieren, deshalb zählen sie ständig neu. Hörten sie nur einmal auf damit, so fürchten sie, zerlegte sich die gesamte Welt in ihre Bestandteile.
Übrigens sind die Menschen dieser Tage zum vierten Mal zur »Stunde der Wintervögel« aufgerufen, das heißt, sie sollen in Gärten, Parks und auf Balkonen je eine Stunde lang Vögel zählen, eine Aktion, in deren Rahmen 2013 zum Beispiel die Kohlmeise dank des Einflugs großer Mengen russischer Artgenossen dem Spatz den ersten Platz im bayerischen Vogelranking wieder abknöpfen konnte; auch die Blaumeise, die von fünf auf vier vorrückte, befand sich auf dem aufsteigenden Ast. (Sensationell die Steigerung des aus Sibirien anreisenden Seidenschwanzes, der noch 2012 nur in 96 Exemplaren gezählt wurde, ein Jahr später aber mit 6500 notiert wurde.) Man wird nun sehen müssen, ob die Kohlmeise ihren Sieg wiederholen kann; aus Spatzenkreisen ist zu hören, man habe sich für die diesjährige Zählung allerhand vorgenommen.
Die arithmomane Gesellschaft hat also ihre schönen Seiten, denn wer wollte ernsthaft etwas gegen eine Vogelzählung einwenden? Für die Weihnachtszeit 2014 möchte ich, nur nebenbei, eine »Stunde der Paketboten« anregen, vor allem aber liegt hier der Brief von Leser F., der berichtet, seine Frau habe der gemeinsamen Enkelin Alle Vögel sind schon da vorgesungen. Es habe sich herausgestellt, dass sie zeitlebens die zweite Zeile nicht mit Hoffmann von Fallerslebens Text »Welch ein Singen, Musizieren« singe, sondern mit der eigenen Variation »Welchlein singen, musizieren«. Die Welchlein seien, ihrer Auskunft zufolge, bunte Vögelein, die sängen und musizierten. Auf ihre Zahl bei der »Stunde der Wintervögel« bin ich besonders gespannt.
Illustration: Dirk Schmidt