Der Schein und das Bewusstsein

Betrug oder Kavaliersdelikt? Schwarzfahren ist Volkssport. Jetzt versuchen Städte und Verkehrsverbände, mit neuen Methoden gegen die »Transporterschleichung« vorzugehen. Aber vieles weist darauf hin, dass der Kampf schon so gut wie verloren ist.

Der Platz an der Tür ist bei Schwarzfahrern besonders beliebt - vielleicht kann man der Kontrolle entkommen.

Die Zahl ist ein bisschen erschreckend: Nahezu eine Million Schwarzfahrer sind jeden Tag in Deutschland unterwegs. Betont unauffällig drücken sie sich am Busfahrer vorbei, stehen in der U-Bahn nahe der Tür, nach Kontrolleuren Ausschau haltend, oder haben eine gefälschte Marke auf ihre Monatskarte geklebt. Eine Million Schwarzfahrer, mit ganz unterschiedlichen Gründen für ihr Verhalten: Schusseligkeit oder Bequemlichkeit, Armut oder Geiz, politischer Protest oder sportlicher Ehrgeiz. Was auch immer dahintersteht – den Kontrolleuren ist es egal. Etliche Tausend Fahrscheinprüfer versuchen jeden Tag, so viele Schwarzfahrer wie möglich zu erwischen. Bis am nächsten Morgen das große Spiel von Neuem beginnt.

Nur dass es kein Spiel ist: Den Verkehrsunternehmen entgehen durch Schwarzfahrer 250 Millionen Euro im Jahr; die Kosten für Kontrolleure summieren sich auf weitere 100 Millionen Euro. Weder moralische Appelle noch ausgeklügelte Prüfkonzepte haben bisher verhindern können, dass die Zahl der Schwarzfahrer seit Jahren steigt. Erheblich sind auch die Folgekosten für die Justiz. Fast jedes dritte Gerichtsverfahren in Berlin bezieht sich inzwischen auf »Beförderungserschleichung« und mehr als tausend notorische Schwarzfahrer sitzen hinter Gittern, weil sie ihre Strafen nicht bezahlen können. Schwarzfahren ist nämlich kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat nach Paragraf 265a StGB. Wird man drei Mal im Jahr erwischt, gibt es eine Anzeige, und der Fall landet vor Gericht.

Meistgelesen diese Woche:

Tübingen, Amtsgericht, Doblerstraße. »Sechs Mal innerhalb eines einzigen Monats beim Schwarzfahren erwischt. Frau L., können Sie sich daran erinnern?«, fragt die Richterin im Saal 27. Die Angeklagte hebt widerwillig den Kopf. Anna L. ist 21, Nofretete-Profil. »Ja, schon«, murmelt sie und malt mit ihrem Zeigefinger eine Acht auf den Tisch. »Das war eine Phase, da bin ich nirgendwo stehengeblieben.«

Es fing harmlos an. Anna war neun oder zehn. Meistens ging sie mit ihren Freundinnen zu Fuß zur Schule. Regnete es, stiegen sie in den Bus. Waren ja nur vier Haltestellen. Kontrolliert wurden die Mädchen nie. Als Anna in die Pubertät kam und mit ihren Freundinnen in die Stadt wollte, stieg sie wieder ein. Ohne Fahrschein, sonst hätte sie ja zu Hause um Geld und Erlaubnis fragen müssen.

Im Zug auf dem Weg von Tübingen nach Reutlingen wurde Anna zum ersten Mal erwischt und von der Bundespolizei nach Hause gebracht. Peinlich, aber schnell wieder vergessen. Zumal die Eltern sich Verantwortungslosigkeit vorwarfen, anstatt ihr die Leviten zu lesen.

In ihrer Clique war es cool, schwarzzufahren. Fahrscheine wurden so manipuliert, dass sie mehrmals gestempelt werden konnten, mit den Kontrolleuren spielte man Katz und Maus. Der billige Kick: Werde ich erwischt oder nicht? Wurde sie, schämte sich Anna, nahm sich vor, endlich damit aufzuhören, und machte doch weiter wie bisher. »Es dauert viel zu lang, bis ernsthaft etwas passiert«, sagt sie heute.

Als ihr Vater auszog, pendelte das Mädchen, machte den Hauptschulabschluss und begann eine Lehre als Hotelfachfrau. Schwarz fuhr sie weiterhin. Die Briefe vom Amtsgericht stapelten sich ungeöffnet. Bis der Vater sie doch aufschlitzte und Anna zum Gericht schleppte: zuerst gab es 60 Tagessätze, jetzt »drei Monate auf Bewährung«.

»Höchste Zeit, dass Sie lernen, Verantwortung zu übernehmen«, sagt die Richterin nach dem Urteil. »Wie geht das?«, fragt Anna.

Ausländische Besucher wundern sich oft darüber, dass es Schwarzfahrern in Deutschland so leicht gemacht wird: In Paris, London oder New York verhindern Zugangssperren, dass man ohne Fahrschein auf den Bahnsteig tritt. In New York kann es vorkommen, dass Schwarzfahrer, die über die Sperre springen, in Handschellen in den Knast wandern. Noch brutaler geht die indonesische Eisenbahngesellschaft vor. Sie hat Gerüste über Bahnstrecken montiert, von denen schwere Betonpendel hängen, die Schwarzfahrer von Zugdächern fegen. In Japan vereinbaren sich Schwarzfahren und Kontrollen hingegen nicht mit der Mentalität der Fahrgäste; den Ticketpreis bezahlt man beim Aussteigen am Automaten.

Hamburg, Hühnerposten 1. Während die meisten Verkehrsbetriebe ein Geheimnis um ihre Kontrollstrategie machen, spricht man beim Hamburger Verkehrsverbund gern darüber. Arndt Malyska, Geschäftsführer der Hochbahn-Wache und somit Chef von 100 Fahrscheinprüfern und 300 Wachleuten, hat nämlich Erfolge zu vermelden: In Hamburg ist die Schwarzfahrerquote von fünf Prozent im Jahr 2000 auf inzwischen 2,5 Prozent der Fahrgäste zurückgegangen, damit haben sich die jährlichen Verluste der Fahrgeldeinnahmen um zehn Millionen Euro reduziert. »Wir können uns zeigen!«, sagt Malyska und zieht seine dichten Augenbrauen hoch. Unter seinem Tisch liegt der Dobermann Paulchen, an der Wand zeugen Gastgeschenke wie ein Polizeiabzeichen aus New York vom Austausch mit Kollegen in aller Welt.

Hit des neuen Prüfkonzepts: In die Hamburger Busse darf man seit zwei Jahren nur noch vorne einsteigen. Klingt simpel, wirkt aber erstaunlich abschreckend, zumal zusätzlich Fahrscheinprüfer in Zivil unterwegs sind. In den Bahnen gibt es die Zugangs- und Abgangsprüfung, die Durchgangskontrolle und die Großkontrolle. Durchgangskontrollen verteilen sich stichprobenartig auf den ganzen Tag, ebenso die Zugangsprüfungen auf Bahnsteigen. Bei den sogenannten Abgangskontrollen werden U-Bahnhöfe komplett dichtgemacht und ein größeres Prüfteam kontrolliert in den Aufgängen. Entern hingegen zwanzig bis fünfzig Prüfer auf einmal den Bahnsteig und durchkämmen ratzfatz den Zug, ist man in eine Großkontrolle geraten. »Hunderprozentige Kontrolldichte«, nennt das Malyska, »mit Signalwirkung.« Wer eine solche Kontrolle erlebt, vergisst sie nicht so schnell wieder.

Ist das Schwarzfahren ein politischer Akt? Seit den Sechzigerjahren wurde immer wieder versucht, aus dem Fahren ohne Fahrschein eine Form des zivilen Ungehorsams zu machen. In den Comics von Gerhard Seyfried übertölpeln pfiffige Freaks die tumben Kontrolleure, aus dieser Zeit stammt auch der Spruch: »Mir wird immer wieder gesagt, wer schwarzfährt, fährt auf meine Kosten. Da kann ich nur sagen, ich lad euch alle ein.«

»Als Steuerzahler bezahlen wir auch für Straßen, die wir nicht nutzen.«

Automat kaputt, Fahrschein verloren - beliebte Ausreden, wenn Schwarzfahrer erwischt werden.

Berlin, U2, Bahnhof Stadtmitte, Gendarmenmarkt. Der Berliner Philosoph Arnd Pollmann zu den moralphilosophischen Konsequenzen des Schwarzfahrens:

»Ich nehme den Schwarzfahrer immer als Beispiel, um meinen Studierenden Immanuel Kants Kategorischen Imperativ zu erklären: Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz werden kann. Maximen sind subjektiv, der Schwarzfahrer zum Beispiel könnte sagen: Immer wenn ich knapp bei Kasse bin oder kein Kleingeld dabei habe, nehme ich die Bahn trotzdem. Was würde passieren, wenn diese Maxime ein allgemeines Gesetz würde? Jeder, der gerade knapp bei Kasse ist, kann schwarzfahren. Langfristig würden die Verkehrsbetriebe darüber zusammenbrechen und die Handlung des Schwarzfahrens als allgemeines Gesetz würde sich damit selbst abschaffen. Allenfalls vor dem Hintergrund eines extrem repressiven gesellschaftlichen Regelwerks könnte man das Schwarzfahren als gesellschaftskritische Protestform wählen, als innere Rebellion oder als Befreiung, wie wenn Frauen in Saudi-Arabien selbst Auto fahren.«

»Nulltarif, Nulltarif – sonst biegen wir die Schienen schief!« Seit Langem gibt es Versuche, den kostenlosen Nahverkehr durchzusetzen. Die belgische Stadt Hasselt mit 75 000 Einwohnern hat diese Idee vor 16 Jahren umgesetzt, inzwischen reichen die Steuereinnahmen allerdings nicht mehr zur Finanzierung des Streckennetzes und die Hasselter müssen pro Fahrt 60 Cent zahlen. Ganz umsonst mit dem Bus fährt man zurzeit im estnischen Tallinn.

Tübingen, Blauer Turm. Mit der Initiative »TüBus für alle« macht sich der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer für den kostenfreien Stadtverkehr stark.

Im Moment hört man nichts mehr von »TüBus für alle«. Ist die Idee auf Eis gelegt? Gestorben?
Boris Palmer:
Weder noch. Wir warten darauf, dass die Landesregierung ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag verwirklicht: Kommunen sollen durch ein Landesgesetz die Möglichkeit bekommen, Geld zur Finanzierung des Nahverkehrs einzusammeln.
Also eine neue Steuer, damit alle kostenlos Bus fahren können?
Eine zweckgebundene Abgabe. Im Fall von Tübingen würde sich diese wohl auf einen Jahresbetrag von 150 bis 200 Euro pro Kopf summieren.
Wenn ich gar nicht Bus fahre, ist das ziemlich viel.
Als Steuerzahler bezahlen wir auch für Straßen, die wir nicht nutzen. Bezahlen muss immer jemand, entweder die Nutzer oder die Allgemeinheit. In Tübingen haben wir jährlich Fahrgeldeinnahmen von etwa zehn Millionen Euro, und auf die können wir nicht verzichten.
Ob ich so sozial sein will, würde ich gern selbst entscheiden.
Natürlich können Bürger ein Bürgerbegehren starten. Oder der Gemeinderat könnte wegen der Tragweite der Entscheidung von vornherein einen Bürgerentscheid ansetzen. Ich fände das richtig, weil es in Deutschland ein ganz neuer Schritt wäre.
Wenn der kostenlose Nahverkehr tatsächlich käme …
kann man sich anstrengen, wie man will, Schwarzfahrer wird man dann nicht mehr.

Der Begriff »Schwarzfahren« hat nichts mit der Farbe Schwarz zu tun; im Jiddischen waren die Worte »swarz« oder »shvarts« Synonyme für Armut. Der Bezug ist auch heute noch aktuell, ein Großteil der Schwarzfahrer kann sich tatsächlich keinen Fahrschein leisten. Der »Regelbedarf für Verkehr« im Hartz-IV-Satz wurde zwar kürzlich auf 24 Euro im Monat angehoben, in den meisten Orten reicht das aber längst nicht für ein Sozialticket.

Bremen, Bahnhof Sebaldsbrück. In der Notunterkunft »La Campagne«, 31 Schlafplätze, betreuen Sozialarbeiter rund um die Uhr »drogengebrauchende Klientel«. Einmal pro Woche kommt Willi Pfeifer zu Besuch, groß, breit und seit mehr als 30 Jahren Bewährungshelfer bei der Bremer Justiz. »Solltest du um die Zeit nicht bei der Arbeit sein?«, fragt Pfeifer einen, der ihm im Flur entgegenkommt. Robert K., himmelblau blinkende Ohrstecker, bäriger Oberkörper, lacht ihn gutmütig an: »Heute bin ich entschuldigt wegen meiner psychosozialen Betreuung.« Robert hat einige Jahre seines 40-jährigen Lebens wegen verschiedener Delikte abgesessen, darunter auch Schwarzfahren. Kaum war er draußen, fuhr er wieder ohne Fahrschein. Ein Teufelskreis.

Um Menschen wie Robert K. zu helfen, hatte Willi Pfeifer vor Jahren eine Idee: das »Stadtticket extra«, eine Monatskarte für Menschen, die ihren Alltag nicht in den Griff kriegen. Das Ticket kam nach einem aufwendigen Deal zwischen der Bremer Justiz und der Bremer Straßenbahn AG zustande: Es kostet 30,70 Euro, davon übernimmt die Stadt 20 Euro; den Rest muss der Nutzer selbst aufbringen, eine erzieherische Maßnahme. »Ungerecht«, hieß es in Leserbriefen, als die Idee öffentlich wurde, man brauche also nur oft genug schwarzzufahren, um ein Ticket geschenkt zu bekommen. Dem entgegen steht, dass die Bremer Justiz bei einem Einsatz von 4800 Euro 20 Drogensüchtigen nicht nur eine Therapie ermöglicht und sie zum gemeinnützigen Arbeiten schickt, sondern dem Staat auch 80 000 bis 100 000 Euro Kosten für Ersatzfreiheitsstrafen erspart.

Robert K. muss seine tägliche Dosis Methadon in einer Arztpraxis in Bremen-Burg abholen, das sind 15 Kilometer mit der Straßenbahn.
»Was hast du für Erfahrungen mit deinem Stadtticket gemacht?«, fragt Willi Pfeifer.
»Weniger Stress. Das ist ja klar, Mann. Früher habe ich immer mit einem Auge nach draußen geguckt. Da fahr ich jetzt viel ruhiger.«
»Haben dich die Kontrollettis schon mit dem Ticket erwischt?«
»Ohjajaja«, Robert dreht am Ohrstecker, »zwei Mal kontrolliert. Das wären 90 Euro Strafe gewesen, also hat sich der Fahrschein jetzt schon ausgezahlt. Wenn die Kontrolleure kommen … die kennen mich schon und holen gleich den Zettel raus. Aber diesmal habe ich gesagt: ›Immer mit der Ruhe, bitte schön.‹ Und brav mein Ticket aus der Tasche gezogen.«

Eine Umfrage der »Wirtschaftswoche« von 2012: Die Schwarzfahrerquote in 35 untersuchten deutschen Städten liegt zwischen sechs Prozent in Chemnitz und unter einem Prozent in Nürnberg. In Köln und Berlin fahren mindestens vier von 100 Fahrgästen schwarz. 161 000 Fahrgäste ohne Ticket wurden 2012 in Hamburg erwischt. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 3,5 Prozent, Tendenz steigend.

»Dabei handelt es sich um eine Erschleichung von Leistung und ist gegenüber den ehrlichen Kunden eine Frechheit.«

Etwa hundert Menschen passen in einen U-Bahn-Waggon. Laut Statistik fahren davon drei bis vier davon schwarz.

Berlin, S1, Leipziger Platz. Oliver Wolff ist Hauptgeschäftsführer des Verbands deutscher Verkehrsunternehmen.
Was halten Sie vom Nulltarif in öffentlichen Bussen und Bahnen?
Oliver Wolff: Kostenlos für den Fahrgast hieße doch steuer- oder abgabenfinanziert. Das wäre nicht nur in hohem Maße ungerecht für die Menschen, die den Nahverkehr gar nicht nutzen, sondern hätte sofort einen zusätzlichen Bedarf aus öffentlichen Mitteln von mindestens zwölf Milliarden Euro im Jahr zur Folge. Angesichts von Schuldenbremse und leeren kommunalen Kassen brauchen wir uns über so etwas also nicht ernsthaft zu unterhalten, das ist Unsinn.
Was muss man nach Meinung des VDV tun, um die Leute vom Schwarzfahren abzuhalten?
Abschrecken, durch höhere Strafzahlungen. Schwarzfahren darf sich gerade für die notorischen Schwarzfahrer nicht rechnen. In der Verkehrsministerkonferenz vom April 2013 wurde deshalb beschlossen, das erhöhte Beförderungsentgelt von 40 auf 60 Euro anzuheben; das muss nun endlich umgesetzt werden. Ein erster Schritt, aber immer noch zu wenig für Wiederholungstäter.
Die meisten Fahrgäste im deutschen Nahverkehr bezahlen ordentlich – bei zehn Milliarden Fahrten im Jahr. Könnte man Schwarzfahren nicht als Ordnungswidrigkeit durchgehen lassen?
 
Ohne die Möglichkeit eines Strafverfahrens? Das wäre eine Verharmlosung, wo wäre da für die notorischen Schwarzfahrer der Abschreckungs- und Lerneffekt?
Wie werden die Kunden in Zukunft an ihre Tickets kommen?
Neben den klassischen Anlaufstellen wie Ticketautomaten und Kundencentern nimmt der Verkauf per Internet und Smartphone deutlich zu. Die Entwicklung geht da in Richtung mobiler Apps, die überall funktionieren. So kann der Fahrgast in Zukunft irgendwann bundesweit in jeder Stadt mit seinem Smartphone einen Fahrschein lösen.
Schon jetzt gibt es Apps, mit denen sich Schwarzfahrer gegenseitig vor Kontrolleuren warnen. Was halten Sie davon?

Für die Unternehmen spielt das im Alltag eigentlich keine Rolle, denn sobald die Prüfer einsteigen, ist es für den Schwarzfahrer eigentlich schon zu spät, egal ob man per App gewarnt wird oder nicht. Die Tendenz, sich einer solchen Schwarzfahrer-Gruppe in sozialen Netzwerken ganz offen anzuschließen, ist allerdings schon bedenklich. Offenbar glauben diese Leute, dass es gesellschaftlich akzeptiert sei, ohne Ticket zu fahren. Dabei handelt es sich um eine Erschleichung von Leistung und ist gegenüber den ehrlichen Kunden eine Frechheit.

In Wien bittet einen der »Schwarzkappler« genannte Kontrolleur sogar mit 100 Euro zur Kasse. Ob deshalb die erste Schwarzfahrer-App fürs Smartphone dort entstand? Mit ihrer Hilfe können sich Schwarzfahrer digital vernetzen, vor Kontrolleuren warnen und ein SMS-Ticket kaufen.

Wien, U4/U6, Bahnhof Spittelau. Im Laufschritt kommt Lorenz Edtmayer über den grauen Filzboden im rundumverglasten Großraumbüro herangeschwebt. Dreitagebart, die Haare nach hinten gebürstet, bunte Bändchen ums Handgelenk. Vor drei Jahren hat der 27-Jährige mit ein paar Kollegen die Schwarzkappler-App entwickelt. Auch aufgrund dieses Erfolgs ist seine Firma Tailored Media inzwischen Marktführer unter den österreichischen App-Entwicklern.

Tausende von Bus-, U- und S-Bahnnutzern luden sich die App für Wien, Graz, Linz, Salzburg und Innsbruck auf ihr iPhone oder Android-Handy, ein Test in Berlin ist angelaufen. »U4 – Heiligenstadt, Station Friedensbrücke, drei Kontrolleure«, heißt es in der App zum Beispiel bei »Gemeldete Kontrollen«. Wer Kontrolleure sieht, meldet das und warnt dadurch die anderen Nutzer, die nun aussteigen, ihre Route ändern oder sich schnell ein Ticket kaufen können, auf die Gefahr hin, dass die Kontrolleure überprüfen, wann genau das SMS-Ticket erworben wurde.

»In unserer App könnt ihr sehen, wie viele Kontrollen täglich stattfinden und dass es keinen Sinn macht, ohne Fahrschein unterwegs zu sein …« heißt es in der »Schwarzkappler«-Eigenwerbung. Ist das scheinheilig? Allemal ist es »gefinkelt«, wie die Österreicher sagen, ausgefuchst. »Es ist immer eine Frage, wie man die Schwarzkappler-App kommuniziert«, sagt Edtmayer und betont, dass man zum Ticketkauf und nicht zum Schwarzfahren anregen will.

Auch Rentner und Rentnerinnen fallen inzwischen vermehrt als Schwarzfahrer auf; so ist jeder zehnte erwischte Schwarzfahrer in Sachsen über 60 Jahre alt. Polizei und Justiz machen sich nun Gedanken über ein neues Altersstrafrecht, angelehnt ans Jugendstrafrecht.

Unterwegs zwischen Wuppertal und Ennepetal. Drei Monate lang war »Oma Gertrud«, 87 Jahre alt, wegen Schwarzfahrens auf der Flucht vor der deutschen Justiz. Im Winter, sie muss gefroren haben, bevor sie Mitte Dezember am Bahnhof Hagen in eine Polizeikontrolle geriet und in der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen eingesperrt wurde. Kurz vor Weihnachten setzte das Amtsgericht Wuppertal ihr Verfahren wegen »Beförderungserschleichung in 22 Fällen« aus; ein psychologisches Gutachten soll nun Auskunft über ihre Schuldfähigkeit geben. »Mögen uns die Sterne begleiten und die Engel uns schützen«, nuschelte Deutschlands berühmteste Schwarzfahrerin, als sie das Gerichtsgebäude verließ.

Man kennt sie an den Bahnhöfen im Ruhrgebiet. Gertrud F., eine hagere Frau mit einem großen Karton, etwas steif im Kreuz, wenn sie sich in ihrer viel zu weiten Jeans nach Plastikflaschen bückt. Immer unterwegs, fährt sie mit S-Bahn und Regionalbahn von Dortmund nach Schwelm, von Düsseldorf nach Wuppertal, von Mönchengladbach nach Ennepetal. Hat sie überhaupt ein Ziel? Oder fährt sie, um sich die Zeit zu vertreiben? Weil es im Zug warm ist, weil sie dort unter Menschen und nicht allein ist? Vielleicht fährt sie aber auch, weil sie putzen gehen muss, ihre 560 Euro Rente reichten nicht zum Leben, sagt sie. Geschweige denn für einen Fahrschein.

2011 wurde Frau F. zum ersten Mal verhaftet und zu 15 Tagessätzen von zehn Euro verurteilt, im Sommer 2013 dann zu 40 Tagessätzen oder 40 Tagen Gefängnis. Für eine arme, alte Frau? Ein Aufschrei ging durch Nordrhein-Westfalen. In Internetforen wurde über ihren Gesundheitszustand diskutiert. Sozialstunden statt Strafe wurden gefordert, bis schließlich ein Boulevardzeitungs-Robin-Hood vorfuhr, um sie freizukaufen. Das Medienecho war groß, als sie jetzt wieder vor Gericht erschien, Unterstützer starteten die Petition »Lasst ›Oma Gertrud‹ in Ruhe leben«, Anfang Januar spendierte ihr eine andere Rentnerin sogar ein Senioren-Jahresticket. Dennoch wird in einigen Monaten abschließend verhandelt. Sollte ihr ein Richter, sagen wir mal, milde 80 Tagessätze aufbrummen, dann wären das 80 Tage Freiheitsentzug. Ein Hafttag kostet den Steuerzahler 115 Euro, bei 80 Tagen Haft käme man auf Kosten von 9200 Euro. Ein Sozialticket in Wuppertal kostet 30 Euro im Monat. Für 9200 Euro könnte Frau F. also noch 25 Jahre lang Bahn fahren – bis sie 112 ist.

(Fotos: Andy Kania c/o brigitta-horvath.com)

Fotos: Andy Kania