Wo die Wüste Wasser wird

Abgelegen, unwirtlich, aber perfekte Bedingungen für den Sport: Kitesurfer aus aller Welt zieht es ausgerechnet in die Westsahara.

Das Paradies liegt in der Wüste. Dort, wo die kupferfarbene Sahara an das grüne Wasser des Atlantiks rummst und die Landschaft vom Wind geformt wird: in Westsahara, einem Land, dessen politische Situation wenig Paradiesisches zu bieten hat. Eingekeilt zwischen Mauretanien, Marokko und Algerien, wird das Territorium von Marokko besetzt – völkerrechtlich umstritten; viele seiner Einwohner, die Sahraouis, leben verstreut in Flüchtlingslagern in Algerien. Eine UN-Mission überwacht die Waffenruhe und das marokkanische Militär zeigt seine Macht.

Und trotzdem hat Yassine Bouceta, 22, der soeben auf seinem Kitebrett nahe dem Strand entlanggezischt ist, mit Inbrunst gerufen: »Das ist das Paradies!« Für ihn, den marokkanischen Landesmeister im Kitesurfen und Teilnehmer der im März hier stattfindenden Weltmeisterschaft, ist dies der unglaublichste Flecken der Welt. Denn die Gegend um das Wüstenstädtchen Dakhla hat eine seltene geografische Besonderheit: Vor der Küste ragt eine 40 Kilometer lange und vier Kilometer breite Landzunge ins Meer, parallel zum Festland, geformt wie der Finger einer Hexe. Die langgestreckte Halbinsel schafft eine Lagune mit glattem Wasser und viel Wind:
Die Wüstenberge drücken den Passat ganzjährig in die Lagune wie in einen Trichter.

Vom Flughafen Dakhla fährt man, unterbrochen von zwei Militärstops, eine halbe Stunde, um an den tiefsten Punkt der Riesenlagune zu gelangen: Dort haben Kiter Camps aufgebaut, das größte mit 250 Betten. Drumherum: nichts als Wüste.
Entdeckt hat diesen Ort die Windsurflegende Rachid Roussafi, Olympiateilnehmer von Sydney; 2003 eröffnete er das erste Zelt-Camp. Seitdem trainieren hier Profi-Kiter wie die dreimalige Weltmeisterin Kirsty Jones, 36, die neben Kite-Workshops im »Mistral Océan Vagabond Camp« auch Yoga-Kurse in der Wüste anbietet. Hauptsächlich aber reisen Menschen aus Europa, den USA, Brasilien hierher, die in ihrem Urlaub nichts anderes wollen als kitesurfen. »Eat, Kite, Sleep – Essen, Kiten, Schlafen« steht wie ein Befehl im Speiseraum des »Dakhla Evasion« an die Wand gemalt.

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Alles an diesem Wüstenort ist wie für Kiter ausgedacht: Sie brauchen einen langen, flachen Einstieg ins Wasser, sodass sie gut auf ihre Bretter steigen können, obwohl ein zerrender Drache am Körper befestigt ist. Außerdem: möglichst keine Bäume oder Bauwerke in der Gegend, an denen man sich mit den Schnüren des Drachens verheddert. Und am besten auch keine Badegäste, die man mit den Seilen eines abstürzenden Segels verletzen könnte. Bäume und Menschen – beides findet man in der Wüste nicht.

Viele der Urlauber sind vom Windsurfen umgestiegen: Gegen den fragilen Drachen eines Kiters sieht ein Windsurfbrett mit Segel aus wie ein Ochsenkarren. Die meisten Kiter können Snowboarden oder Wakeboarden oder lieben andere extreme Sportarten. Wie Julia, 26, schwedische Ärztin koreanisch-russischer Abstammung, die sich vor zwei Jahren in Yassine und damit auch ins Kiten verliebt hat. Oder Maude, 32, aus Frankreich, deren beste Freundin, eine brasilianische Kite-Lehrerin, von diesem Ort erzählte – zehn Monate später war Maude hier. Sie hatte sich in ihren gelben Citroën-Lieferwagen ein Bett eingebaut und einen Gaskocher dazugestellt und war aus Frankreich losgefahren; »Girl Van« nennt sie ihr Auto. Jetzt arbeitet sie morgens und abends im »Dakhla Evasion« und kitet am Nachmittag: »Wie lange ich hier bleibe? Keine Ahnung. Solange ich Lust habe.«

Diesen Satz hört man oft in den Camps. »No time, no news, no shoes – keine Zeit, kein Nachrichten, keine Schuhe« lautet das ungeschriebene Gesetz der Lagune. Zwar wird der Strom um Mitternacht abgestellt und dem Internet kann man beim Ächzen zuhören – aber gerade das einfache Leben macht die Menschen hier glücklich. Für Kirsty Jones, die dreimalige Weltmeisterin, »ist Dakhla der Himmel«: »Diese ungeheure Weite, diese Massen von Raum, Wasser, Sand! Wenn du die Lagune zum ersten Mal siehst, glaubst du, du bist auf einem anderen Planeten.«

Und die Politik? Sport fragt nicht, Sport schafft eigene Tatsachen. Zumindest auf dem Wasser funktioniert, was an Land oft verkümmert: Auf der einen Seite der Lagune arbeitet Yassine, Marokkaner, in der Kiteschule des »Mistral Océan Vagabond Camp«; auf der anderen Seite lehrt Salah, ein Sahraoui, im »Dakhla Evasion«. Gegenseitig sammeln sie verlorengegangene Kiteboards des anderen ein oder helfen Gästen der konkurrierenden Schule.

Ist es gut, ist es schlecht, dass die Kiter in den umstrittenen Wüstenabschnitt gekommen sind? »Das ist sogar sehr gut!«, sagt ein alter Sahraoui in Dakhla, »das schafft Arbeit, Handel. Außerdem würde sonst keiner von euch Europäern auf diesen Ort schauen – die meisten würden nicht mal wissen, dass es die Westsahara, diesen schönen Flecken Erde, überhaupt gibt.«

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Zum Hintergrund:

Westsahara ist nicht nur eine Wüste, sondern auch eine ehemalige spanische Kolonie, die seit 1975 von Marokko besetzt wird. Für die Unabhängigkeit des Landes kämpft die linke Befreiungsfront „Frente Polisario“. Sie rief 1976 die „Demokratische Arabische Republik Sahara“ aus, die von etwa 50 Staaten anerkannt wird und Mitglied der Afrikanischen Union ist; aus Protest trat Marokko aus der Afrikanische Union aus und ist seitdem das einzige afrikanische Land, das nicht Mitglied der Afrikanischen Union ist.

Bis heute ist der völkerrechtliche Status der Westsahara ungeklärt: Die Vereinten Nationen erkennen weder die marokkanische Besatzung noch die „Demokratische Arabische Republik Sahara“ an – so lange nicht, bis die Bevölkerung des Landes über ihre Zukunft selbst abgestimmt hat. Denn 1991 vereinbarten Marokko, Frente Polisario und die UN ein Waffenstillstandsabkommen sowie den Beschluss, die Einheimischen der Westsahara selbst über ihre Zugehörigkeit entscheiden zu lassen. Bis heute aber kam es nicht zur Wahl, da sich Marokko und die Polisario nicht einigen können, wer als „Einheimischer“ gilt. Marokko wird vorgeworfen, die Wahl zu verschleppen und in der Zwischenzeit mit einer expansiven Politik Marokkaner in der Westsahara anzusiedeln.
Derzeit ist das Gebiet von Westsahara geteilt: Das größere Territorium wird von Marokko kontrolliert, das kleinere von der Frente Polisario. Durch das Land läuft ein befestigter und verminter Grenzwall, den Marokko entlang der Waffenstillstandslinie gebaut hat. Bis heute leben Hunderttausende Einwohner der Westsahara in Flüchtlingslagern in Algerien und hoffen auf eine Rückkehr. Dort hat auch eine Polisario-Exilregierung ihren Sitz.

Westsahara hat große Phospat- und Erdölvorkommen und reiche Fischgründe. Alle Ansiedelungen und Posphat-Vorkommen liegen im marokkanischen Teil. Marokko betrachtet das Gebiet als seines, weil es vor der Kolonialisierung unter anderem auch im Einflussbereich marokkanischer Sultane lag. Bis heute besteht König Mohammed VI darauf, „kein einziges Sandkorn der Westsahara“ abzugeben.

Der Westen hält sich in der Westsahara-Frage zurück. Denn aus westlicher Sicht stellt sich die Frage, ob ein autonomes Land Westsahara zum unberechenbaren Gebiet werden könnte (neben Mauretanien, das wegen Staatsstreichen, leeren Kassen und Ausländerentführungen bereits als unberechenbarer gilt) und ob es auch mit gleicher Intensität wie Marokko die illegale Auswanderung nach Europa kontrollieren könnte.
Die Vereinten Nationen sind mit der ständigen Beobachtermission MINURSO im gesamten Gebiet präsent. Die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko anzuzweifeln ist im marokkanischen Teil strafbar und wird von einer Geheimpolizei überwacht.

Unruhen gab es zuletzt 2010, als marokkanische Sicherheitskräfte ein Zeltlager in der Wüste gewaltsam auflösten, mit dem die Bewohner der Westsahara, Sahraouis, auf ihre prekären Lebensbedingungen in den besetzen Gebieten aufmerksam machen wollten. Mindestens 11 Menschen starben.


2012 veröffentlichte der spanische Schauspielerstar Javier Bardem den Dokumentarfilm »Söhne der Wolken – die letzte Kolonie«, der auf die Menschrechtsverletzungen in Westsahara und den seit über 35 Jahren ungelösten Konflikt aufmerksam machen soll.

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Foto: Andreas Lux