Thomas Südhof

Für seine Erforschung der Kommunikation von Nervenzellen im Gehirn hat er letztes Jahr den Medizin-Nobelpreis bekommen - doch für Wissenschaft hat er sich erst spät interessiert. Als Jugendlicher wollte Südhof, heute 58, lieber reisen und Musik machen. Seit über 30 Jahren arbeitet er in den USA, seit 2008 an der kalifornischen Stanford-Universität. Doch eins hat er sich aus seiner Jugend als Waldorfschüler in Hannover erhalten: die Neigung zur Rebellion.



SZ-Magazin: Herr Südhof, wie fühlt man sich so als Aushängeschild?
Thomas Südhof:
Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.

Sie sind der erste Waldorfschüler, der einen Nobelpreis bekommen hat. Der Bund der deutschen Waldorfschulen platzt vor Stolz.
Ach darauf wollen Sie hinaus. Viele in meiner Familie waren große Anhänger von Rudolf Steiner, meine Großeltern haben in einer Waldorfschule gearbeitet und kannten ihn sogar persönlich. Ich verstehe, dass die Schulen sich freuen über meinen Preis. Denn er widerlegt das Klischee, dass Waldorfschüler nicht hart genug sind, sich in der Welt durchzusetzen. Trotzdem muss ich sagen: Von den Lehren Steiners habe ich mich schon als junger Mensch etwas distanziert.

Was hat Sie an der Waldorfpädagogik gestört?
An der Schule erst mal gar nichts, ich hatte Glück und gute Lehrer. Ich hatte eher ein Problem mit dem Glaubenssystem dahinter, der Nähe zu romantischen Philosophen wie Schlegel, und dem Hang zum Esoterischen. Ich habe mich schon als Jugendlicher für Geistesgeschichte interessiert – aber kann nicht behaupten, die Lehren von Rudolf Steiner wirklich zu verstehen.

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War das ein Konflikt zu Hause?
Es gab lebhafte Diskussionen, auch über den typischen Ausdruckstanz, Eurythmie, der für Anthroposophen ja eine heilige Kuh ist und für mich eher bezweifelbar war. Meine Eltern haben immer gehofft, dass ich irgendwann ein Einsehen habe und mich ändere. Diesen Gefallen habe ich ihnen aber nie getan.

Sehr viele Eltern würden alles dafür tun, damit ihr Kind Nobelpreisträger wird. Was haben Ihre Eltern richtig gemacht?
Ich hatte viele Freiheiten – allerdings nicht, weil meine Eltern einen Master-Plan für meine Erziehung hatten, sondern einfach, weil das Schicksal es nicht immer gut mit uns meinte. Mein Vater ist gestorben, als ich noch ein Teenager war. Ich habe drei Geschwister, meine Mutter hat als Ärztin gearbeitet und hatte keine Zeit, uns ständig hinterherzulaufen. Dadurch hatte ich ein hohes Maß an Selbstbestimmung. Viele Dinge, die ich damals gemacht habe, habe ich meinen Kindern nie erlaubt.

Was empfinden Sie im Rückblick als besonders gewagt?
Ich bin schon mit vierzehn Jahren allein durch Europa getrampt, bis nach Rom, ohne dort jemanden zu kennen. Später sogar bis Istanbul, ich war im Sommer wochenlang unterwegs. Das ist natürlich Wahnsinn. Aber mir hat es viel geholfen: Mit Menschen in Kontakt zu kommen, ihnen zuzuhören, das habe ich bei meinen Reisen gelernt. Ich habe wohl geahnt, dass ich das später mal brauchen könnte.

Weil Sie Arzt werden wollten wie Ihre Eltern?
Ich wollte zunächst etwas Geisteswissenschaftliches studieren: Kunst, Literatur, auf eine sehr unspezifische Art. Wirklich gewusst, was ich mit meinem Leben anfangen will, habe ich lange nicht, auch nicht nach dem Abitur. Die Entscheidung für das Medizinstudium war eher: Damit verbaue ich mir nichts.

Und man musste damals, Ende der Siebzigerjahre, als Medizinstudent in Deutschland nicht zur Bundeswehr.
Das war auch ein Grund, ja. Mit Militär konnte ich nie viel anfangen. Und glauben Sie mir: Das wäre nicht gut gegangen mit mir bei der Bundeswehr.

Warum nicht?
Ich war immer schon ein Rebell, also nicht sehr autoritätshörig. Meine Freiheit war mir immer das Wichtigste.

Ihr Abiturschnitt?
1,0.

Klingt nicht sehr rebellisch.
Überschätzen Sie mal die Noten nicht. Natürlich habe ich mich hingesetzt und gelernt. Aber was mich immer begleitet hat, ist der Unwille, Dinge, die andere Leute als normal und etabliert ansehen, von vornherein zu akzeptieren. Meine instinktive Reaktion ist immer: Das könnte richtig sein, aber ich will das selbst wissen. Ich habe immer alles in Frage gestellt, das ist heute noch so.

Wurden Sie je Streber genannt?
Das Wort Streber wurde nicht oft benutzt damals, aber nicht alle waren froh über meine Natur und Begabungen. Man darf einfach keine gute Noten haben, vor allem bei männlichen Jugendlichen, da ist es unmöglich, cool zu sein und ein guter Schüler. Ich habe das nicht so sehr als Problem erlebt, vielleicht weil es mich auch nicht so sehr interessierte, cool zu sein.

Was wollten Sie stattdessen sein?
Jemand, der viel Spaß daran hat, möglichst viele Dinge zu erfahren. Ein freier Mensch, jemand, der sich für Experimente genauso interessieren kann wie für Philosophie, Kunst und Musik. Musiker war mein erster Traumberuf.

Welches Instrument haben Sie gespielt?
Erst Geige, dann Fagott. Ich habe mittlerweile zwar kaum noch Zeit dafür, aber trotzdem bin ich der Meinung, dass ich als Jugendlicher mindestens genauso viel von der Musik gelernt habe wie durch den Unterricht an der Schule.

Das müssen Sie erklären.
Wenn man ein Instrument spielen will, erfährt man viel über das Verhältnis aus Kreativität, Arbeit und Sorgfalt. Denn vor allem in der klassischen Musik heißt es erst mal: üben, üben, üben, stundenlang. Man muss das Handwerk beherrschen, aber gleichzeitig über dem Handwerk stehen. Denn wer die Sachen nur wie ein Affe nachspielt, wird nie tolle Musik machen. In der Wissenschaft ist es ganz ähnlich. Man muss die Technik verinnerlicht haben, bevor man sich fragen kann, was man damit eigentlich hinterfragen will.

Muss gute Forschung rebellisch sein?
Ich glaube schon. Nur weil alle an eine bestimmte Tatsache glauben, heißt das nicht, dass ich sie automatisch akzeptiere. Ich habe auch schon mal die Arbeit meiner Vorgesetzten in Frage gestellt, weil ich mir nicht sicher war, ob ihre Annahmen richtig waren. Vielleicht kommt da dann doch der Waldorfschüler in mir zum Vorschein, der mit dem Lehrer über den Sinn des Ausdruckstanzes diskutieren will. Ich bin gerne aus Strukturen ausgebrochen, die ich als beengend empfunden habe.

Sie sind gleich nach der Doktorarbeit im Jahr 1983 nach Texas gezogen. War Ihnen Deutschland zu eng damals?
Das kann man so sagen, ja. Hitler hat die deutsche Kultur so gründlich zerstört. Alles, was lebendig war, ging nach Amerika. Und in der Nachkriegszeit war in den USA viel los, als Schüler war ich ein halbes Jahr in Amerika und habe es als große Befreiung erlebt. Deutschland hingegen wirkte begrenzt und steril, dazu dann die Ost-West-Teilung, das ständige Starren auf den Osten als Abschreckungsbild. Ich fand nicht, dass es in der alten BRD viel von einer lebendigen Kultur gab. Das ist heute anders.

Haben Sie während Ihres Studiums dumme Sprüche zu hören bekommen, weil Sie Ihr Abitur an der Waldorfschule gemacht haben?
Nie. Aber ich wurde während des Studiums für ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes vorgeschlagen, weil ich einer der besten in meinem Jahrgang war. Ich war beim Bewerbungsgespräch – und wurde abgelehnt. Ich glaube, das hatte mit meiner Schulbildung zu tun, die damals einfach noch nicht so anerkannt war. Anders kann ich es mir nicht erklären.

Peinlich für die Studienstiftung: einen Nobelpreisträger abgelehnt zu haben.
Ach, Pipifax. Im Nachhinein ist das doch völlig egal.

(Jugendfoto: privat)

Foto: Margo Moritz