Teurer als Gold: Ein Milligramm des Wirkstoffs Alemtuzumab kostete bisher 21 Euro. Nun ist der Preis auf 888 Euro gestiegen.
Alter Inhalt, neue Verpackung – besonders originell ist die Strategie nicht. Schon 1991 erfand der Süßigkeitenkonzern Mars den Werbeslogan »Aus Raider wird Twix, … sonst ändert sich nix«. Sogleich rätselten viele, ob der Schokoriegel vielleicht umgetauft würde, weil das englische Wort »raider« unglücklicherweise »Plünderer« heißt. Denn ansonsten änderte sich tatsächlich nichts, vor allem nicht der Preis – von wegen Plünderer. Gut 20 Jahre später führt der französische Pharmahersteller Sanofi vor, dass sich eine kleine Namensänderung auch richtig auszahlen kann: Aus MabCampath wird Lemtrada. Das neue Mittel kostet 40-mal so viel, obwohl der darin enthaltene Wirkstoff identisch ist. Also doch eine originelle Geschäftsidee.
In der Pharmaindustrie herrschen offenbar andere Gesetze: Das Leid bestimmt den Preis. Im Jahr 2001 bringt Genzyme, eine Firmentochter der Sanofi-Gruppe, einen Antikörper mit der orientalisch klingenden Bezeichnung Alemtuzumab unter dem Namen MabCampath auf den Markt. Mehr als ein Jahrzehnt hilft das Mittel Patienten mit Chronisch lymphatischer Leukämie (CLL), dem häufigsten Blutkrebs älterer Menschen. Es ist nicht das wichtigste Medikament in der Therapie der Leukämie, bringt aber dem Hersteller zuverlässig etwa 100 Millionen Euro Umsatz jährlich allein in den USA ein. Dann tauchen Hinweise aus der Forschung auf, die bewährte Krebsarznei könne auch gegen Multiple Sklerose wirken. Ein neuer, deutlich größerer Markt tut sich auf, mit neuen Möglichkeiten der Vermarktung und Preisgestaltung.
Im Sommer 2012 informiert Genzyme die Europäische Arzneimittelagentur EMA darüber, den Wirkstoff Alemtuzumab vom Markt nehmen zu wollen. »Genzyme hat sich zu diesem Handeln entschlossen, weil sich das Unternehmen auf die Entwicklung von Alemtuzumab in der Behandlung der Multiplen Sklerose fokussieren wird«, teilt der Konzern mit und betont, dass »diese Entscheidung in keiner Weise aufgrund von Bedenken bezüglich der Sicherheit, Wirksamkeit oder Lieferbarkeit des Arzneimittels getroffen« werde. Das heißt: Das Medikament ist sicher und hilft den Krebspatienten – verspricht aber im Bereich der Multiplen Sklerose ein Vielfaches an Profit.
Die Fachwelt reagiert empört. »Alemtuzumab ist bei der Behandlung von Leukämie in manchen Fällen extrem hilfreich«, schimpft Wolf-Dieter Ludwig, Krebsexperte in Berlin und außerdem Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, die den Nutzen von Medikamenten kritisch hinterfragt. Das Mittel einfach vom Markt zu nehmen, um mit einem neuen Patent den Preis hochzutreiben, sei »schon ein starkes Stück«. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fürchtet sogar, andere Unternehmen könnten dem Beispiel folgen, um aus ihren Wirkstoffen mehr Kapital zu schlagen. Er fordert eine Gesetzesänderung. Am 20. Dezember 2013 richtet die Linksfraktion im Bundestag eine Anfrage an die Regierung. Die Antwort: Bei der »extremen Verteuerung« des Medikaments Lemtrada nach seiner Umbenennung handele es sich um einen »seltenen Einzelfall«, aber man werde die Entwicklung auf dem Arzneimarkt »weiterhin intensiv beobachten«. Grundsätzlich sei »die Forschung an bekannten Wirkstoffen und die Erschließung neuer Anwendungsgebiete zu begrüßen«.
So einzigartig, wie die Bundesregierung behauptet, ist der Fall Lemtrada aber nicht. Bereits vor einigen Jahren erwies sich das Krebsmittel Avastin nicht nur als hilfreich gegen Tumore, sondern auch gegen die zur Erblindung führende Makuladegeneration, eine altersbedingte Erkrankung der Netzhaut. Die Unternehmen Roche und Novartis gaben der Arznei daraufhin den Namen Lucentis und veränderten ein wenig die Molekülstruktur der Substanz. Schon ließ sich der Preis von 40 Euro auf 1500 Euro pro Behandlung hochsetzen, fast die 40-fache Summe der vorherigen Kosten.
Das ist ziemlich genau der Aufschlag, den der französische Hersteller Sanofi nun für seinen Wirkstoff Alemtuzumab verlangt. Im Einsatz bei MS-Kranken werden zwischen 60 000 und 80 000 Euro für einen Behandlungszyklus fällig. Eine Injektionsflasche, die zwölf Milligramm enthält, kostet 10 653,50 Euro, das entspricht 888 Euro pro Milligramm. Das unabhängige und ansonsten recht nüchtern argumentierende Fachmagazin Arznei-Telegramm titelte angesichts dieses Mondpreises: »29 000-mal teurer als Gold«. Als Krebsmittel hatte Alemtuzumab noch 21,07 Euro pro Milligramm gekostet.
Nachdem mehrere Patienten lebensbedrohliche Absenkungen der Blutplättchen erlitten und einige daran starben, wurde das Projekt vorläufig eingestellt.
Stark gestiegen ist auch die Zahl der potenziellen Kunden für das Medikament: Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland etwa 3000 Patienten mit Chronisch lymphatischer Leukämie – aber weit mehr als 130 000 MS-Kranke. Der weltweite Umsatz mit Medikamenten für die bisher unheilbare Krankheit beträgt schon jetzt mehr als zehn Milliarden Euro, Tendenz steigend. Betriebswirtschaftlich gesehen handelt die Sanofi-Gruppe also vollkommen rational. Aber der Fall zeigt, wie die Ökonomisierung des Gesundheitssystems den Interessen der Patienten zuwiderlaufen kann. »Hier werden auf zynische Weisen Lücken im System ausgenutzt«, kritisiert Gerd Antes, Leiter des deutschen Cochrane-Zentrums, das die Qualität medizinischer Studien bewertet. »Die Firmen versagen moralisch. Aber mehr kann man von ihnen auch nicht erwarten, die Hauptverantwortung liegt bei den Akteuren im Gesundheitswesen und in der Politik.«
Denn nicht weniger skandalös als die Preispolitik – aber für Laien umso schwerer verständlich – sind die fachlichen Bedenken gegen das neue MS-Mittel: Wenn Lemtrada geplagten Patienten wenigstens Linderung bringen würde, wäre der Preis vielleicht noch zu rechtfertigen. Die bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen belegen das aber nicht: Im Juni 2013 werteten Wissenschaftler 44 Studien zur bisherigen Therapie der Multiplen Sklerose aus. Keines der untersuchten Mittel konnte verhindern, dass die mit der Krankheit verbundenen Einschränkungen und Behinderungen weiter fortschritten. Typische Symptome von MS-Kranken sind Schwierigkeiten beim Gehen, Seh- oder Sprechstörungen sowie Schwindel. Die Auswertung ergab, dass lediglich die seit Langem bewährte Behandlung mit Interferonen – das sind körpereigene Botenstoffe, die das Immunsystem aktivieren – diese Symptome linderte.
In den beiden Zulassungsstudien, die Genzyme für Lemtrada vorlegte, ist zwar ebenfalls von etwas weniger Krankheitsschüben bei den untersuchten Patienten die Rede. Experten kritisieren jedoch, bei der Untersuchung seien nicht die üblichen wissenschaftlichen Standards eingehalten worden. Die Patienten wussten offenbar, ob sie tatsächlich das Medikament oder nur ein Scheinpräparat erhielten. Dadurch ändert sich die Erwartungshaltung bei Kranken wie bei Ärzten, was womöglich einen Behandlungserfolg vortäuscht, wo keiner ist. Da die Effekte bei den mit Alemtuzumab behandelten Patienten nur minimal ausfielen, könnte dieser kleine Effekt auf die Schwächen in der Studie zurückzuführen sein. Wissenschaftler der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA kamen zu dem vernichtenden Urteil, die Sanofi-Gruppe habe »keine adäquaten Studien vorgelegt, die den Nutzen von Alemtuzumab bei der Behandlung von MS-Kranken belegen«.
Der Fehler, das zeigt der Fall Lemtrada, liegt auch im System: Einige Medikamente mit zweifelhafter Wirkung, die seit dem 1. Januar 2011 auf den Markt kamen, mussten sich einer umfangreichen Nutzenbewertung unterziehen, bevor die Krankenkassen die Kosten für Verordnungen übernahmen. Manche Hersteller verzichteten dann auf die Markteinführung. Denn wenn sich kein Zusatznutzen im Vergleich zu anderen Medikamenten gegen eine bestimmte Krankheit ergibt, darf der Preis auch nicht über denen anderer Arzneimittel liegen. Dieser Bewertung musste sich Lemtrada nicht unterziehen, da es sich bei Alemtuzumab um einen seit 2001 bekannten Wirkstoff aus der Krebstherapie handelt. »Lemtrada ist ein Beispiel dafür, dass das derzeitige Verfahren der Nutzenbewertung eine große und aus meiner Sicht auf Dauer nicht hinnehmbare Lücke hat«, sagt Josef Hecken, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), dem wohl wichtigsten Gremium im Gesundheitswesen, das darüber entscheidet, welche Behandlungen von den Krankenkassen übernommen werden.
Die Risiken und Nebenwirkungen dieser Praxis tragen vorerst die Patienten: Noch ist völlig unklar, welche Langzeitfolgen MS-Patienten aus einer Therapie mit Lemtrada entstehen: »Das Mittel unterdrückt das Immunsystem auf extreme Weise. Was für die Behandlung der MS ein erwünschter Effekt ist, kann zu massiven Leiden und Autoimmunerkrankungen führen«, warnt etwa der Berliner Arzneimittelexperte Wolf-Dieter Ludwig. Auch dem Hersteller Genzyme sind die Risiken bekannt: In den Neunzigerjahren erforschte das Unternehmen bereits die Wirkung von Alemtuzumab in der Therapie von Multipler Sklerose. Nachdem mehrere Patienten lebensbedrohliche Absenkungen der Blutplättchen erlitten und einige daran starben, wurde das Projekt vorläufig eingestellt.
Autoimmunerkrankungen können auch lange nach der Behandlung auftreten. Deshalb müssen bei Patienten bis zu vier Jahre nach Ende der Therapie monatlich Blut, Nierenwerte und Urin untersucht werden. Auch eine seltene, oft tödliche Hirnentzündung, Fachleuten als progressive multifokale Leukenzephalopathie bekannt, ist zu befürchten, eine Viruserkrankung, die sonst nur bei stark abwehrgeschwächten Menschen auftritt. Der nicht gerade als pharmakritisch bekannten amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA waren das ein paar Fragezeichen zu viel. Anders als die Europäer lehnte sie die Zulassung von Lemtrada im Dezember 2013 ab. »Das hat viele Neurologen aufgeschreckt«, sagt Wolf-Dieter Ludwig. »Sie sind jetzt zurückhaltend, weil sie nicht wissen, wie die Therapie auf lange Sicht ausgeht.«
Das scheint sich auch in der Pharmaindustrie herumgesprochen zu haben. Um gegenzusteuern, überschwemmt sie die Ärzte mit einseitigen Informationen zur neuen, teuren MS-Therapie. Die Firmen werben mit Plakaten glücklicher Kleinfamilien und dem Hinweis, dass auch mit einer MS-Diagnose ein erfülltes Leben möglich sei und man sich vertrauensvoll an seinen Arzt wenden solle. Publikumswerbung für verschreibungspflichtige Präparate ist in Deutschland eigentlich verboten. Dennoch sind Fachzeitschriften seit Wochen voller positiver Berichte über die neuen Wunder-Wirkstoffe, und auf den Online-Portalen für Fachkreise poppt ständig ein Werbe-Fenster für Lemtrada auf.
Die Botschaft, besser gleich die neuen Wirkstoffe zu nehmen, wird oft subtil verpackt, etwa als Appell an die individuelle Therapiefreiheit bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen. Welche Risiken diese »individuellen Therapieentscheidungen« für Patienten bergen, steht dort allerdings nicht, sondern nur in kritischen Publikationen wie dem Arznei-Telegramm, den Fachinformationen, eine Art langer Beipackzettel für Ärzte, oder auf der Webseite der FDA.
Wie so oft werden auch in diesem Fall die Gewinne privatisiert, während die Lasten die Allgemeinheit trägt. Wenn ein Arzt die teuren Mittel verschreibt, müssen die gesetzlichen Kassen die Kosten erstatten, sobald es sich um ein zugelassenes Medikament handelt. Natürlich holen sich die Kassen dieses Geld bei den Versicherten zurück. Auch deswegen hofft der Mediziner Wolf-Dieter Ludwig, dass endlich eine ordentliche Nutzenbewertung vorgenommen wird. Und die Behörden zur Einsicht kommen, dass sie sich für einen absurd hohen Preis eine Therapie eingehandelt haben, die mehr Schaden als Nutzen bringt.
Für die Sanofi-Gruppe wäre das ein Rückschlag, aber nicht unbedingt das Ende des bewährten Wirkstoffes Alemtuzumab: Der Schokohersteller Mars hat es vorgemacht, er startete kürzlich eine Kampagne mit dem Motto »Raider ersetzt Twix, sonst ändert sich nix!«. Mehr als zehn Millionen Riegel kamen als »Raider Limited Edition« auf den Markt. Wie es aus der Branche heißt, verhalf der neuerliche Namenswechsel der Firma zu einem kräftigen Umsatzplus.
Überdosis
30,6 Milliarden Euro haben die gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland 2012 für Arzneimittel ausgegeben – das entspricht fast 400 Euro je Bundesbürger. Hinzu kommen die privat gezahlten Mittel. Am häufigsten werden Blutdrucksenker und Herzmedikamente verordnet, gefolgt von Schmerz- und Rheumamitteln, Antibiotika und Mittel gegen Magengeschwüre. Momentan sind mehr als 24 000 Medikamente im Handel. Unabhängige Ärzte und Pharmakologen fordern seit Jahren eine »Positivliste« der sicheren, wirkungsvollen und nebenwirkungsarmen Medikamente. Diese Vorgabe
erfüllen nur 1500 Präparate, die aber völlig ausreichen würden, um die Bevölkerung umfassend medizinisch zu versorgen.
Fotos: I like birds