Die Zeit heilt keine Wunden

Drei Jahre nachdem Anders Breivik auf Utøya 69 Menschen ermordet und im Zentrum von Oslo eine Bombe gezündet hat, ist der Sitz des Premiers noch immer eine Ruine. Die Norweger können sich nicht entscheiden zwischen Abriss und Wiederaufbau. Jetzt bringt Oslos Bürgermeister die Diskussion mit einer verblüffenden Idee in Schwung. Aber ist das Land reif für einen Tabubruch?

Seine Frau hat ihn gewarnt: »Warum tust du das?«, fragte sie ihn. »So viele Menschen wirst du gegen dich aufbringen.« Doch Fabian Stang, der Bürgermeister von Oslo, wollte nicht auf sie hören. »Dann ist es eben so«, antwortete er. »Soll ich etwa im Stuhl sitzen und nichts tun?« Wie die anderen? Nein, er musste etwas unternehmen. Er ertrug es nicht mehr: Nichts ging mehr voran.

Drei Jahre ist es her, dass Anders Breivik auf Utøya 69 Menschen und in Oslo acht Menschen ermordete. Seine Bombe verwüstete das Regierungsviertel. Seitdem ist Oslos Zentrum Sperrgebiet, eine Zone aus Zäunen und Ruinen. Mitten drin: »Høyblokka«, der Sitz des Ministerpräsidenten, 17 Stockwerke, entkernt, in Folie gehüllt. Das wichtigste Haus Norwegens.

Ja, es war das erste Hochhaus des Landes, erbaut 1958, verziert von großen Künstlern, sogar Pablo Picasso gestaltete Betonwände mit Kratzgemälden. So stolz waren die Norweger auf ihr Haus. Es sollte das Symbol sein des neuen Norwegen, einer neuen Zeit. Und das wurde es tatsächlich. Von Høyblokka aus schwang sich Norwegen auf, von einem der ärmsten zu einem der reichsten Länder der Welt zu werden. Von der Fischernation zur Ölmacht. Als Breivik dieses Haus angriff, wollte er das ganze Land treffen, seine Seele zerstören. Er ist damit gescheitert, Norwegens Gesellschaft hat standgehalten, lebt wieder. Aber Høyblokka hat sie noch nicht retten können. Gelähmt steht das Land vor der Ruine in seiner Hauptstadt und weiß nicht, was daraus werden soll.

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Es ist dieser Stillstand, den Fabian Stang nicht mehr hinnehmen wollte, dieses Abwarten, das, wie er sagt, so durch und durch norwegisch ist. In seinem Land werden keine Entscheidungen gefällt, es werden Kompromisse gefunden. Konsens ist das große Wort. Jeder muss gehört werden, die Mehrheit glücklich sein.

Und so wurde eine große Diskussion begonnen. Es wurden Gutachten erstellt, und über diese Gutachten Expertisen gefertigt, und dazu Befragungen in Auftrag gegeben. Alle durften sich dazu äußern, was aus dem Haus werden solle, Stadtplaner, Denkmalpfleger, Personenschützer, Finanzexperten, die Angehörigen der Opfer, Angestellte, Anwohner, Architekten, Künstler. Das Ergebnis des »Prozesses«, wie er in Norwegen genannt wird: 50 Prozent, sagt der Bürgermeister, wollten Høyblokka niederreißen. Und 50 Prozent wollten es erhalten. Es herrscht Stillstand, genau wie auf Utøya. Auch über eine Gedenkstätte auf der Insel wurde noch nicht entschieden.

Also wurde weiter diskutiert, ewig wurde darüber gesprochen, getreu dem Jantegesetz, dem skandinavischen Verhaltensmuster, beschrieben vom dänisch-norwegischen Schriftsteller Aksel Sandemose: In einem seiner Romane geht das Ich im Wir auf und die Suche nach dem Konsens erstickt jede Initiative in der Stadt Jante. Auch über Høyblokka hatte sich eine staubige Ruhe gelegt. Bis eben Fabian Stang beschloss, sie zu stören.

Bei einem Mittagessen mit Freunden, als diese wieder mal über den Stillstand klagten, nahm er einen Stift aus der Tasche, griff eine Serviette und malte einen Kreis darauf. Und in diesen Kreis schrieb er ein »H«. Es ist doch nicht so schwer, sagte er. Høyblokka bleibt. Die Gebäude drum herum reißen wir ab, ersetzen sie durch einen Rundbau, einen Wall zum Schutz der Demokratie. Und er verkündete, er werde mit dieser Serviette zu einem Architekten gehen. Der werde die Skizze in einen Plan wandeln. Und damit werde er, Fabian Stang, der festgefahrenen Debatte einen festen Tritt versetzen.

Ach, was war seine Frau entsetzt. Ohne Mandat trat ihr Fabian im Dezember vor die Norweger, Høyblokka ist Aufgabe der Staatsregierung. Und ihr Mann mutete seinen Landsleuten Sätze zu, die in norwegischen Ohren unsäglich klingen: Da Høyblokka eh bleibt, sagte er, einfach mal so, halte er sich nicht mit den Argumenten der Menschen auf, die es abreißen wollen. Das sei Zeitverschwendung. Er hat »nur 15 Sekunden« gebraucht, um die Idee aufzumalen. Und nun war er da, sein Entwurf. Etwas Handfestes. Vorgestellt durch einen kleinen Film, der über die ewige Debatte spottet: Reich sei diese ja wohl nur an Worten.

Ein Affront! »Sie haben mich dafür gehasst«, sagt Stang. Ein älterer Herr mit Krawatte und graublondem Seitenscheitel, sein Leben lang war er Politiker, ein Konservativer. So gar nichts hat er von einem Revoluzzer, wenn man ihn im Rathaus trifft, einen Kilometer von Høyblokka entfernt, in seinem holzgetäfelten Büro, neben dem Saal, in dem der Friedensnobelpreis verliehen wird.

Der Frieden Norwegens war von nun an gestört. Zeitungen warnten davor, dass Vorschläge einzelner den ganzen »Prozess« durcheinanderbringen. Eine ganze Reihe Architekten regte sich darüber auf, dass Stang das Gebäude vor Høyblokka abreißen will. Und im Ministerium, das für Høyblokka zuständig ist, nimmt man ihm seinen Vorstoß immer noch übel. Fabian Stang aber war und ist es egal. Haben Sie mal Høyblokka gesehen, fragt er. »Es ist eine Tragödie.« Er geht da gar nicht mehr hin. Seit einem Jahr nicht mehr.

Weit ist das Gelände davor abgesperrt. Der Bauzaun führt einen genau zu der Stelle, an der Breiviks Wagen stand. Das Loch, das die Bombe in den Boden riss, ist zubetoniert. 17 Stockwerke, verhüllt mit grauer Folie. Drinnen Leere, Stützen, an der Decke Lampenschatten. Im Treppenhaus halten Riemen die Granitstufen auf den Wannen. Schief hängen die Fensterrahmen in der Fassade. Allein die Sgraffiti im Treppenhaus leben noch, Kieselgemälde im Naturbeton. Im 7. Stock zwei Picassos. Ein Fischer zieht sein Netz ein. Eine Familie spielt am Strand. Sie rühren einen an. So fröhlich. Umgeben von der Stille nach dem Attentat.

Wie lange sie noch dauern wird? In Norwegens Konsensgesellschaft vergehen im Schnitt neun Jahre, bis der Bau einer Straße begonnen werden kann. Und es war kein Scherz, als jetzt am 1. April in der Zeitung stand, nach langer Debatte gebe es einen Kompromiss in der Frage, welche Wegweiser für Sehbehinderte in den Wäldern aufgestellt werden. Es sei geklärt, ob es blaue oder grüne Schilder werden. Nun kann die Sache, nach ein paar abschließend zu klärenden Detailfragen, umgehend angegangen werden. Schon in zehn Jahren dürften die Wegweiser durch den Wald führen.

So ist das in Norwegen, sagt Thomas Hylland Eriksen, einer der führenden Soziologen des Landes. »Wir sind ein Land der Egalität. Das waren wir schon immer. In Norwegen gibt es kaum Schlösser. Wir waren Bauern und Fischer. Wir sind ein kleines Land und eine große Familie.« Und in einer guten Familie hat jeder eine Stimme.

»Ich habe hier ausländische Freunde, die sind darüber tief frustriert«, sagt Eriksen. »Sie vermissen den Mut, etwas einfach mal zu tun.« Die Norweger stören sich daran weniger. Dem Stillstand begegnen sie pragmatisch. So diskutieren sie gerade den Vorschlag, man könne Høyblokka ja erst mal mit Blumen bepflanzen und als Bienenfarm nutzen. Und darüber ein vorläufiges Denkmal errichten, bis es das echte in ferner Zukunft geben wird.

Stangs Tabubruch aber hat der Debatte wieder Schwung verliehen. Die Zeitungen schicken Reporter in das Sperrgebiet. Architekten stellen Gegenvorschläge vor. Die Regierung wird nun im Sommer eine Empfehlung aussprechen. Wie diese aussehen soll, ist gerade durchgesickert: Høyblokka wird wohl erhalten. Ein Glück auch für die Picassos. Die Erben hatten bereits gefordert, dass die Werke nicht woandershin gebracht werden dürfen.

Sein Coup hat Stang neue Freunde gebracht: in der Kunst- und Architektenszene. Nicht wegen seiner architektonischen Idee. »Wenn ich den Entwurf sehe, möchte ich die Beine in die Hand nehmen und wegrennen«, sagt Markus Richter, ein deutscher Kurator, der gerade in Oslo für die renommierte Galerie »0047« eine Ausstellung zu Høyblokka eröffnet hat. »Aber ich finde klasse, dass sich Fabian Stang hinsetzt und sagt: Ich hab da eine Idee. Der Bürgermeister! Gut, wir kennen das von Friedrich dem IV., König von Dänemark und Norwegen im 18. Jahrhundert. Aber der Bürgermeister einer modernen Stadt macht das nicht.« Markus Richter hat mit der größten Architektenzeitung Norwegens eine Diskussion organisiert. Und Fabian Stang eingeladen – als »Urban Activist«, als Aktivisten.

Ach, sagt Fabian Stang nun. Er will gar nicht mehr so auffallen. »Es ist mir auch egal, ob mein Vorschlag eine Chance hat. Ich wollte nur erreichen, dass die Debatte wieder in Gang kommt, die Leute sich wieder näherkommen.« Dass die Flucht ins Nichtstun endet. Wenn man es genau betrachtet, war Stang nur mal ganz kurz unnorwegisch. Um das Ur-Norwegische zu schützen: die Liebe zum Konsens. »Wenn es darum geht, Lösungen zu finden, haben wir die beste Demokratie der Welt«, sagt er. »Es braucht halt Zeit. Aber was sind zehn Jahre, wenn wir in hundert Jahren zurückblicken?«

Fotos: Ilja Hendel